Wer darf sich eigentlich als Jude bezeichnen?

Rezension zu Lea Wohl von Haselbergs Sammelband „Hybride jüdische Identitäten“

Von Lydia HeissRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lydia Heiss

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Nicht nur in Deutschland werden immer mehr Ehen zwischen Juden und Christen geschlossen – mehr als 50% der Juden heiraten Nichtjuden. Nach dem halachischen Religionsgesetz gelten nur Kinder jüdischer Mütter als jüdisch, während Kinder jüdischer Väter konvertieren müssen. Die jüdische Gemeinschaft, vor allem traditionellere Gruppierungen, die seit den 1990er-Jahren in Deutschland die Mehrheit bilden, steht interreligiösen Ehen oft ablehnend gegenüber, da sie befürchtet, dass das Judentum in solchen Familien nicht weitergegeben wird. Für interreligiöse Paare, die ihre Kinder jüdisch erziehen wollen und für Kinder, die ihre Identität suchen, sind damit Probleme und Verletzungserfahrungen vorprogrammiert. Der Konferenz-Sammelband Hybride jüdische Identitäten. Gemischte Familien und patrilineare Juden beleuchtet die Probleme in theoretischen Überlegungen und qualitativen sowie quantitativen Interviews hauptsächlich mit patrilinearen Juden, das heißt den Kindern jüdischer Väter, die von vielen Gemeinden nicht akzeptiert werden. Anspruch von Tagung und Buch sind es, Laien und Wissenschaftlern eine Diskussionsmöglichkeit über die vielfältigen Erfahrungen und Forschungsdesiderate zu bieten.

Die Herausgeberin Lea Wohl von Haselberg schreibt in ihrer Einleitung, dass der aus der Biologie stammenden Begriff „hybrid“ im Tagungs- und Buchtitel im Gegensatz zu den negativen Erfahrungen patrilinearer Juden als Identitätszugewinn verstanden werden könne. Das Augenmerk auf die Besonderheit dieser Mischung zu richten, empfiehlt ebenfalls Elisabeth Beck-Gernsheim, welche in ihrem Beitrag die Ungereimtheiten von Kategorisierungen und Zuordnungen gerade auch im Zeitalter moderner Medizintechnologie hervorhebt. Auch Joela Jacobs betont in ihrem Artikel über deutsch-jüdische Literatur und den „Identitätsbruch“, der mit dem Bindestrich zwischen den beiden Zuordnungen ausgedrückt werde, dass dieser Bindestrich in der Literatur, aber auch im Leben auf ein „besonders produktives Potential“ hinweise, was ihn zu einem „Plus“ machen könnte. Laut der Herausgeberin sollten Forschung und Diskussion dazu beitragen, den potenziellen Zugewinn nicht nur herauszuarbeiten, sondern auch mit einer Bezeichnung „jenseits der schon bestehenden Kategorien“ zu benennen. Hier wäre allerdings zu fragen, ob mit einem neu benannten, Abgrenzung ermöglichenden Selbstverständnis nicht eine weitere Schublade oder Kategorie eröffnet würde, mit sich dann vielleicht wieder entwickelnden – wie Jacobs sagt – „mächtigen Ein- und Ausschlusssystemen“.

Auf die Entstehung und Hintergründe des für die jüdische Akzeptanz so zentralen Matrilinearitätsprinzips gehen Micha Brumlik und Christina von Braun in ihren jeweiligen Beiträgen ein und betrachten dabei ebenfalls die sich historisch wandelnde Rolle der Frau im Judentum. Elisabeth Beck-Gernsheim weist darauf hin, dass die Wichtigkeit des Prinzips für die Erhaltung des Judentums in der Diaspora mit der Existenz von Israel theoretisch abgenommen habe, es aber dort, wie auch in den europäischen und US-amerikanischen Gemeinden weiterbestehe. Frustrationen und Verletzungen infolge der von Vaterjuden geforderten Konversion arbeitet Madeleine Dreyfus in ihrer Analyse qualitativer Interviews in der deutschsprachigen Schweiz heraus. Moderne jüdische Väter beschreiben dort, dass sie die Erziehung der Kinder durchaus auch als ihre Aufgabe ansehen und ihr jüdisches Erbe weitergeben wollen, womit die Rolle der Mutter als alleinige Übermittlerin des Judentums einen Wandel erfahre, den viele Gemeinden so noch nicht akzeptierten.

Auch die patrilinearen Kinder erleben diese Frustration, wie Catherine Grandsards qualitative Interviews mit jüdisch-christlich gemischten Familien in Frankreich zeigen. Trotz jüdischen Vaternamens und jüdischer Erziehung müssten sie wie Nichtjuden konvertieren, um in jüdische Gemeinden, Schulen und Klubs aufgenommen zu werden. Die Interviews mit deutschen Vaterjuden von Christa Wohl heben hervor, wie bedeutsam und umstritten das Thema Konversion für Heranwachsende sein kann. Die Mehrheit der Interviewten hätte den Gedanken zu konvertieren gehabt, jedoch sei dieses Unterfangen aufgrund von verletzenden Erfahrungen und in der Folge von Trotzhaltungen oft wieder verworfen worden, weil sie sich in der jüdischen Gemeinde aufgrund ihres Status fremd fühlten, sie ausgegrenzt wurden, die Konversion als zu langwierig und schwer empfanden oder/und der jeweilige Gemeinderabbiner sie nicht ermutigt beziehungsweise ihnen ablehnend gegenüberstand. Von der häufig abwehrenden ausgrenzenden Haltung traditioneller Gemeinden in der deutschsprachigen Schweiz gegenüber potenziellen Konvertiten berichtet auch Madeleine Dreyfus. Einerseits übten die Gemeinden häufig Druck auf den nicht-jüdischen Partner aus – insbesondere auf nicht-jüdische Ehepartnerinnen –, um diese zum Übertritt zu bewegen, andererseits zeigten aber viele Juden mit matrilinearem jüdischen Status Skepsis gegenüber Konvertiten und meinten, das Judentum, das heißt die Religion, könne man beim Übertritt zwar erlernen, das Jüdischsein hingegen nicht.

Generell werde jüdischen Menschen, die Nichtjuden heirateten, nach Dreyfus „Desinteresse“ oder „Verrat“ am Judentum vorgeworfen – Vorurteile, die die Interviews jedoch nicht bestätigen. Im Gegenteil, es habe sich gezeigt, dass gerade diejenigen, deren jüdischer Status in Zweifel gezogen wird, sich mit ihrer jüdischen Identität viel stärker beschäftigen und ein sehr stark gefühlsbetontes Verhältnis dazu entwickeln. Auch Birgitta Scherhans weist die Destabilisierungsthese der jüdischen Identität durch gemischte Ehen aufgrund der Ergebnisse ihrer Paar-Interviews zurück. Trotz mancher Enttäuschungen mit jüdischen Gemeinden würden jüdische Rituale in gemischten Familien zwar mitunter auf eigene Weise, aber häufig eifriger als in institutionell anerkannten jüdischen Familien gepflegt. Scherhans und Dreyfus betonen, dass der christlich sozialisierte Partner fast immer die jüdische Kindererziehung unterstützen würde. Adrian Wójciks und Michal Bilewiczs quantitative Untersuchung, ob ein jüdisch-nichtjüdischer Familienhintergrund die jüdische Gemeinschaft in Polen destabilisiere, zeigt ebenfalls, dass die jüdische Identifikation von Menschen aus gemischten Familien – aus Gründen des Akzeptanzstrebens – stärker ist als von Juden, deren Status unangefochten ist. Darüber hinaus stellen sie eine stärkere Beteiligung an Gemeinschaftsaktivitäten und einen größeren Einsatz für den Erhalt der jüdischen Gemeinde von Seiten gemischter Familien fest.

Insgesamt plädieren die Autoren des Sammelbandes dafür, dass die jüdischen Gemeinden den jüdischen Identifikationsfindungsprozess in gemischten Familien als Zugewinn betrachten und unterstützen sollten, statt ihn misstrauisch abzuwehren. Dies entspräche den Tendenzen einer Zeit, in der Juden entschieden in der Minderheit seien, immer häufiger Nichtjuden heirateten, Säkularisierungstendenzen zunähmen und die Identifikation mit dem Judentum allgemein immer stärker über traditionell-kulturelle Aspekte statt der Religion erfolge. Dass Kampf statt Ablehnung bei der hohen Rate gemischter Ehen angesagt sei, betont auch Pearl Beck im Blick auf ihre Studien für amerikanische Reformgemeinden, die sich mit der Frage befassten, inwieweit sich Kinder aus gemischten Familien mit dem Judentum identifizierten beziehungsweise wie die Eltern bei der jüdischen Erziehung der Kinder unterstützt werden könnten. Die Ergebnisse betonten die Wichtigkeit der Einbindung der gemischten Familien in jüdische Netzwerke, woraufhin in den USA Programme entwickelt wurden, die zum Beispiel kostenfreie 10-Tagesfahrten nach Israel für 18- bis 26-Jährige anbieten, um gemischte Familien an das Judentum zu binden.

Mit Hybride jüdische Identitäten liegt ein lesenswertes Buch für verschiedene Gruppen vor: Menschen, die in gemischten Familien leben beziehungsweise ihnen entstammen, werden sich vermutlich mit ihren Erfahrungen, insbesondere in den empirischen Arbeiten, wiederfinden. Für die Leiter von jüdischen Gemeinden könnten die Untersuchungen hilfreiche Überzeugungsarbeit bei der potenziellen Modifizierung der Akzeptanzregeln und -haltungen leisten. Wissenschaftler erhalten Grundlagen, aber auch Anregungen zu zusätzlich notwendigen Forschungen, wie beispielsweise repräsentativen europäischen Erhebungen. Genauerer Untersuchung bedarf auch der Identitätszugewinn, der in jüdisch-nichtjüdischen Familien infolge der beiden Kulturen potenziell gegeben ist und der sich nach Jacobs in dem Bindestrich zwischen den beiden Kategorien bereits andeutet. Solch möglicher zusätzlicher Gewinn, beispielsweise das größere Engagement gemischter Familien und die stärkere Auseinandersetzung mit ihrer jüdischen Identität, käme dann nicht nur Einzelnen, sondern den Gemeinden zugute, was den Appell des Buches in dieser Hinsicht unterstützte.

Titelbild

Lea Wohl von Haselberg (Hg.): Hybride jüdische Identitäten. Gemischte Familien und patrilineare Juden.
(Jüdische Kulturgeschichte in der Moderne, Bd. 3).
Neofelis Verlag, Berlin 2015.
182 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783943414523

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