Die Prostitutionsexpertin

Kerstin Wolffs Studie über Anna Pappritz und den Abolitionismus hat das Zeug zum Standardwerk

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Als die Frauenbewegung zu Beginn der 1970er Jahre anfing, richtig Fahrt aufzunehmen, hatte kaum eine der jungen Feministinnen auch nur davon gehört, dass es hierzulande bereits zu Anfang des Jahrhunderts eine machtvolle Frauenbewegung gegeben hatte, die etwa das sexistische Eherecht in dem am 1. Januar 1900 in Kraft getretenen Bürgerlichen Gesetzbuch (BGB) zunächst verhindern und – nachdem dies gescheitert war – ändern wollten. Außerdem stritt sie etwa für die Ermöglichung weiblicher Bildung bis hin zum Universitätsstudium und der Promotion.  Forderungen, die inzwischen längst erfüllt sind. Auch sind heutzutage vielen jungen FeministInnen Namen wie Hedwig Dohm, Anita Augspurg, Helene Stöcker oder Gertrud Bäumer recht geläufig. Anna Pappritz, die frühe „Koryphäe auf dem Gebiet der Prostitutionsbekämpfung“, zählt hingegen noch immer zu den weniger bekannten Frauenrechtlerinnen der Zeit. Ganz  zu Unrecht, denn sie war es, die den in England von Josephine Butler entwickelten Abolitionismus erfolgreich nach Deutschland brachte und damit ein weiteres großes Feld im Kampf um Frauenrechte eröffnete, nämlich denjenigen gegen die staatliche Reglementierung der Prostitution. Pappritz entwickelte sich in der Folgezeit denn auch zu einer der „wichtigsten Vertreterinnen der Prostitutionsdebatte zwischen 1890 und 1933“.

Kerstin Wolff ist es zu danken, dass man sich nun genauestens über Anna Pappritz und ihren Einsatz für den Abolitionismus kundig machen kann. Denn die Forschungsreferentin des in Kassel ansässigen Archivs der deutschen Frauenbewegung hat unter dem Titel Die Rittergutstochter und die Prostitution eine ebenso umfang- wie kenntnisreiche Untersuchung zur Biografie und dem feministischen Engagement von Pappritz vorgelegt, die zugleich die Geschichte des deutschen Abolitionismus mit all seinen gesellschaftlichen und auch innerfeministischen Auseinandersetzungen ausleuchtet.

So beschränkt sich Wolff nicht allein darauf, Pappritz‘ Leben und Wirken nachzuzeichnen, sondern kontextualisiert es, etwa in dem sie andere Streiterinnen gegen die Prostitution vorstellt, wie beispielsweise die bereits vor Pappritz in dieser Sache aktive Gräfin Gertrud Guillaume-Schack oder ihre frühe Mitstreiterin im Verein Jugendschutz und spätere Gegnerin Hanna Bieber-Böhm, die die Prostitution verboten, die ausländischen Prostituierten ausgewiesen und alle anderen einer Zwangserziehung unterworfen sehen wollte, während die Freier nach wie vor ungeschoren davon kommen sollten.

Diese anderen Frauenrechtlerinnen und ihrer Haltung gegenüber der Prostitution gewidmeten Abschnitte sind überaus informativ. Erst sie ermöglichen es, Pappritz’ Wirken in seiner Genese und Entwicklung nachvollziehen zu können. Die AbolitionistInnen selbst – und zwar alle, ungeachtet verschiedener Differenzen – forderten die Aufhebung der die Prostituierten betreffenden staatlichen Kontrolle und Zwangsmaßnahmen mit der zusätzlichen Maßgabe, „langfristig durch soziale Reformen darauf hinzuarbeiten, die Prostitution abzuschaffen“. Allerdings weist Wolff kritisch darauf hin, dass in der Satzung der Deutschen Abolitionistischen Föderation „viel von den Grundanschauungen der Bewegung die Rede“ war, jedoch nur „wenig von konkreten Schritten, sieht man von den Forderungen ab, was der Staat bzw. die Polizei alles nicht regeln dürfte“.

Neben den Positionen der AbolitionistInnen stellt Wolff „die wichtigsten Tendenzen und Diskussionen“ in der Auseinandersetzung um die Prostitution mit ihren jeweiligen VertreterInnen innerhalb und außerhalb der Frauenbewegung vor, von der Deutschen Gesellschaft zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten über die konservative evangelische Sittlichkeitsbewegung bis hin zu Cesare Lombrosos abstruser Ideologie, der zufolge die „wesentliche Ursache für die Ausübung der Prostitution eine angeborene ‚ethische Idiotie‘“ sei.

Hervorzuheben ist, dass Wolff ein besonderes Augenmerk auf die auch von persönlichen Animositäten beeinträchtigten Auseinandersetzungen um die richtige Strategie der Prostitutionsbekämpfung legt, die in und zwischen den Flügeln der damaligen Frauenbewegung ausgetragen wurden. Doch zeichnet die Autorin nicht nur die „Fehden“ in der damaligen Frauenbewegung nach, sondern rekonstruiert überhaupt die „Ideen, Vorstellungen und Lösungsversuche“, die zwischen 1890 und 1930 in der deutschen Gesellschaft die Diskussion um die Prostitution prägten. Dabei lässt sie auch etliche „zeitgenössische medizinische und sozialpolitische Experten“ zu Wort kommen, die „in der heutigen Darstellung viel zu häufig vergessen“ werden. Doch belässt die Autorin es nicht nur bei der bloßen Darstellung, sondern „entwirrt“ die „Verwobenheiten der Argumente“, indem sie herausarbeitet, „wer damals warum und wie argumentierte“.

Zu Wolffs umfangreichem Quellenkorps zählen nicht nur die einschlägigen, oft an abgelegenen Orten publizierte Schriften, sondern auch eine Reihe Archivalien, zu deren bedeutendsten ein autobiographisches Manuskript von Pappritz aus dem Jahr 1908 und deren Tagebuch aus den Jahren 1899 bis 1921 zählen. Insbesondere letzteres würdigt Wolff als „lebensgeschichtlich einmalige Quelle“.

Natürlich stellt die Autorin die wichtigsten Grundsatz- und Streitschriften von Pappritz besonders genau vor, so etwa die 1903 im Verlag der Frauen-Rundschau erschienene, mit nur 24 Seiten recht schmale  Broschüre Herrenmoral und die vier Jahre später veröffentlichte, doppelt so umfangreiche „programmatische Schrift“ Die Welt, von der man nicht spricht!. Neben diesen und anderen nichtfiktionalen Texten spricht Wolff auch die wenigen, schon früher erschienenen literarischen Werke von Pappritz an, für deren Roman Vorurteile (1894) sie zwei Lesarten anbietet. Auf literarische Werke anderer AutorInnen geht Wolff hingegen nur höchst selten ein, nämlich dann, wenn sie das Gebiet der Prostitution betreffen. So zitiert sie etwa relativ ausführlich aus Else Jerusalems Bordell-Roman Der heilige Skarabäus.

Trotz des, wie sie betont, „wissenschaftlichen Hintergrundes“ ihres Buches hat Wolff es explizit für ein „allgemeines Publikum“ geschrieben, „das sich für die Frauenbewegung und für die Prostitutionsdebatte interessiert“. Vielleicht war diese Zielgruppe der Grund dafür, dass die Autorin glaubte, auf ein Literaturverzeichnis und eines der benutzten Archivalien verzichten zu können. Jedenfalls ist ihre Entscheidung zu beklagen. Denn für die Forschung ist der Band durchaus nicht minder interessant als für das anvisierte allgemeine Publikum. Und für Forschende sind solche Verzeichnisse auch dann hilfreich oder zumindest eine enorme Arbeitserleichterung, wenn, wie im vorliegenden Fall, alle Quellen in den Endnoten ausgewiesen sind.  Angesichts der „unglaublichen Menge von Publikationen“, die Pappritz verfasste, ist es zudem bedauerlich, dass der Band nicht mit einer Bibliografie ihrer Schriften dienen kann. Über ein Personenverzeichnis verfügt er hingegen dankenswerter Weise schon. Ein solches Verzeichnis ist für alle, Forschende wie allgemein Interessierte,  eine große Hilfe, auch wenn sich gelegentliche Fehler oder Unvollständigkeiten einschleichen, die nie ganz auszumerzen sind.

Die Autorin hat ihr Buch in fünf, im wesentlichen chronologisch angeordnete Kapitel unterteilt, die meist zeitlich wichtige Lebensabschnitte von Pappritz abdecken, die im zweiten und vor allem im dritten Kapitel gemeinsam mit zentralen Entwicklungen in der abolitionistischen Diskussion der Frauenbewegung vorgestellt und erörtert werden. Der vierte Abschnitt kontextualisiert hingegen Pappritz’ Biographie mit den damaligen „weiblichen Lebenswelten“, insbesondere denjenigen der Frauenrechtlerinnen um 1900. Im fünften Abschnitt stellt Wolff Pappritz als weit über die Frauenbewegung hinaus anerkannte Prostitutionsexpertin zur Zeit der Weimarer Republik vor.  Ein „Epilog“ zu Pappritz’ „letzten Jahren“ unter dem Nationalsozialismus bis zum ihrem Tod 1939 beschließt den Band. Einigen der Abschnitte sind zusammenfassende Chroniken vorangestellt, die eine schnelle Übersicht ermöglichen.

Wolff entwickelt die Geschichte des Abolitionismus also im Wesentlichen entlang der Biografie Pappritz’, rekonstruiert deren Lebensgeschichte allerdings nicht erst vom Zeitpunkt ihres Eintritts in die Frauenbewegung an, sondern setzt bereits 1861 ein, dem Jahr, in dem die Protagonistin der Untersuchung auf dem bei Radach (heute Radachów) gelegenen und somit  ‚von aller Welt‘ weit abgelegenen Rittergut ihrer wohlhabenden und erzkonservativen Familie geboren wurde und mit drei Brüdern aufwuchs. Im Unterschied zu diesen wurde ihr nur eine „rudimentäre Bildung“ gewährt, die „durch Erzieherinnen und Gouvernanten, die ins Haus kamen, und durch einen Dorfpfarrer erfolgte“. An ihrer mangelnden Bildung litt sie zeitlebens ähnlich stark wie Hedwig Dohm, die in einem ihrer Briefe an Pappritz noch als 71-Jährige darüber klagte, dass sie ihre „Unwissenheit“ „mit jedem Jahr […] schmerzlicher empfunden“ habe.

Wolff vergleicht die autobiografischen Kindheits- und Jugenderinnerungen von Pappritz, die ihr Leben auf dem elterlichen Gut „in den dunkelsten Farben“ malt, mit denjenigen ihrer späteren feministischen Mitstreiterinnen Käthe Schirrmacher, Marie Stritt sowie der von Pappritz stets „sehr verehrten“ Helene Lange und macht dabei einige auffällige Unterschiede aus, die sie überzeugend erklärt. Möglicherweise sei es zwar nur ein „Zufall“, „dass das autobiographische Manuskript von Anna Pappritz den anderen ausgewählten Selbstzeugnissen nicht sehr ähnelt“, räumt Wolff ein. Doch scheint es ihr – und mit ihr bald auch den Lesenden – wesentlich plausibler, dass Pappritzʼ Lebenserinnerungen so sehr „aus dem Rahmen fallen, weil die Verfasserin in gänzlich anderen Lebensumständen groß wurde“.

Wolff kontextualisiert das Leben ihrer Protagonistin immer wieder über die Frauenbewegung und die Prostitutionsfrage hinaus und lässt fast beiläufig kleinere Exkurse einfließen. So ist ihr Pappritz’ passionierte Wanderlust Anlass für einen Abstecher in die Wanderkultur der Zeit und deren geschlechterspezifischen Ausformungen. Das ist nicht zuletzt wegen der Schilderungen geschlechtsspezifischer Probleme, die gesellschaftliche Konventionen den Wanderinnen damals bereiteten, für sich schon interessant genug.

Selbstverständlich informiert Wolff in gegebenem Zusammenhang auch über die gesetzlichen Hintergründe der Reglementierung der Prostitution und darüber, wie die staatlichen und kommunalen Stellen sie handhabten. So war es für eine Frau, die – aus welchen Gründen auch immer – von der Polizei als Prostituierte geführt wurde, kaum möglich, sich wieder aus der entsprechenden Liste streichen zu lassen. Dies brachte nicht nur eine lebenslange Stigmatisierung mit sich, sondern hatte auch zur Folge, dass sie weder bestimmte Stadtteile, noch öffentliche Tanzveranstaltungen betreten durfte und ihre Wohnung jederzeit ohne weitere Begründung polizeilich durchsucht werden konnte. Letztlich bedeutete es auf Lebenszeit „den fast vollkommenen Ausschluss aus der bürgerlichen Gesellschaft“. Der Doppelmoral der Zeit gemäß galt dies alles selbstverständlich nicht für die Freier. Im Gegenteil, von jungen Männern wurde vielmehr erwartet, dass sie sich nicht zuletzt bei Prostituierten ‚die Hörner abstießen‘, bevor sie in die Ehe eintraten, die sie später keineswegs an weiteren Bordellbesuchen hinderte. Nicht selten wurden die noch sexuell unerfahrenen jungen Männer vom Vater zum ersten Mal in ein Bordell geführt.

Pappritzʼ Mutter, deren Gatte relativ früh verstorben war, verließ das Familiengut 1884 und zog gemeinsam mit ihrer bereits erwachsenen Tochter nach Berlin. „Ein Schritt, der das Leben von Anna Pappritz entscheidend ändern sollte“, kommentiert Wolff. Erst nach 26 weiteren Jahren gaben Mutter und Tochter ihre letzte gemeinsame Wohnung auf, was umso erstaunlicher ist, als die 1908 niedergeschriebenen Kindheits- und Jugenderinnerungen von Pappritz ein nicht eben positives Bild ihrer Mutter zeichnen.

Wichtiger noch als der Umzug nach Berlin war für Pappritz ein 3-wöchiger Aufenthalt in London, das sie 1895 besuchte. Er initiierte ihr abolitionistisches Engagement und legte, wie sich ohne jede Übertreibung sagen lässt, den Grundstein für ihren Lebensinhalt, den sie sicher nicht in Radach hätte verwirklichen können, wohl aber in Berlin. In England erhielt sie „eine Art Crash-Kurs in Sachen Frauenbewegung“. Vor allem aber erfuhr die damals 34-Jährige dort erstmals von der Prostitution und ihrer staatlichen Reglementierung. So jedenfalls stellte sie es später dar und erklärte, diese Aufklärung habe sie getroffen „wie ein Keulenschlag“.

Wieder zurück in Berlin vertiefte sie sich in die Lektüre der Schriften deutscher Frauenrechtlerinnen, allen voran in diejenigen von Helene Lange. Auch lernte sie schon bald die in der Hauptstadt ansässigen führenden Frauenrechtlerinnen persönlich kennen. Regelmäßig besuchte sie drei der dortigen Frauenvereinigungen mit denkbar unterschiedlichen Ansichten und Ausrichtungen. Da war einmal der Berliner Frauenverein der gemäßigten Helene Lange, sodann der Verein Frauenwohl der Radikalen Minna Cauer und schließlich der eher konservativ ausgerichtete Sittlichkeitsverein Jugendschutz von Hanna Bieber-Böhm. Diese rege Teilnahme am frauenrechtlerischen Vereinsleben ermöglichte es Pappritz zu erkunden, „wo ihr eigener Platz innerhalb dieser Aktivitäten war“. Außerdem war sie in dieser Zeit mit der Aufgabe betraut zu prüfen, welche Schriften und Werke die Aufnahme in den Bestand der damals neugegründeten Bibliothek zu Frauenfragen lohnten. Auch dies hielt sie über den aktuellen Stand der feministischen Diskussionen auf dem Laufenden.

Mit ihrem beginnenden Engagement in der Frauenbewegung änderte sich Pappritzʼ Leben von Grund auf. Ihr neues „Lebensmodell“ entsprach nun der „Lebenskultur“ der „Aktivistinnen der bürgerlichen Frauenbewegung“, die eigene „Formen weiblicher Freundschaften“ und Paarbeziehungen entwickelte, die im Übrigen nicht immer Liebesbeziehungen sein mussten. Pappritz, die weder heiratete, noch nach heutigem Kenntnisstand je ein „nichteheliches Verhältnis zu einem Mann“ hatte, „pflegte die engste Beziehung“ zu Margarethe Friedenthal, die zu ihrer „lebenslangen Freundin und Lebenspartnerin“ wurde.

In der feministischen Bewegung machte sich Pappritz quasi von Beginn an nach Kräften für den Abolitionismus stark. Unmittelbar nach der Gründung einer abolitionistischen Vereinigung in Hamburg durch die führende Radikale Lida Gustava Heymann rief Pappritz 1899 eine entsprechende Organisation in Berlin ins Leben. 1904 wurde dann ein nationaler Dachverband gegründet, dessen Vereinsorgan Der Abolitionist  bald darauf zum ersten Mal erschien. Wie Wolff konstatiert, war Pappritz also „in eine ausgesprochen spannende Phase der Bewegung geraten“.

Mit dem Wechsel vom Verband fortschrittlicher Frauenvereine (VFFV) der Radikalen zum Bund deutscher Frauenvereine (BDF) der Gemäßigten zu Beginn des 20. Jahrhunderts wechselte Pappritz zugleich von einer „Kultur“ der Frauenbewegung in eine anderen und „musste dabei feststellen, dass sie damit ihr ganzes Leben veränderte“. Auch tauschte sie den Kreis ihrer Freundinnen völlig aus. „Die Radikalen verschwanden und machten dafür den Gemäßigten Platz; die neuen Beziehungen hielten teilweise bis zu ihrem Lebensende.“ Zählte zunächst die Radikale Minna Cauer zum engeren Kreis ihrer Freundinnen, fand Pappritz’ nach ihren Wechsel zum BDF „recht harte Worte“ für ihre ehemalige Kameradin, was allerdings auf Gegenseitigkeit beruhte. Auch die Freundschaft zu Lida Gustava Heymann und deren Lebenspartnerin Anita Augspurg trübte sich im Zusammenhang der oft harsch geführten Auseinandersetzungen zwischen dem radikalen und dem gemäßigten Flügel der Frauenbewegung gründlich ein. Wolff weist darauf hin, dass „die scharfe Konfrontation zwischen Gemäßigten und Radikalen mehr als verständlich“ ist, da nicht nur unterschiedliche Meinungen aufeinandertrafen, sondern vor allem „zwei politische Richtungen innerhalb der bürgerlichen Frauenbewegung um die Vorherrschaft“ rangen. Zudem schlägt die Autorin für die Härte, mit der die innerfeministischen Konflikte ausgetragen wurden, eine neue und durchaus überzeugende Interpretation vor:

In einer Gesellschaft, in der Frauen noch viel strikter geschlechtlich geprägten Rollenvorstellungen unterworfen waren, die auf eine Kontrolle der Emotionen in der Öffentlichkeit hinausliefen, ist dieses öffentlich ausgetragene Konfliktverhalten auch als Emanzipation zu verstehen.

Pappritz selbst stand den Zuschreibungen gemäßigt und radikal skeptisch gegenüber und sprach lieber von „einer propagandistischen und einer gemeinnützigen Richtung“. Eine Unterscheidung, die Wolff zufolge „recht genau den Kern“ der Differenzen bezeichnet. Zu bedenken ist allerdings, dass bei dieser Unterscheidung die falsche Vorstellung evozieren werden könnte, nur einer der Flügel diene dem Gemeinwohl.

Tatsächlich lag einer der grundlegenden Differenzen zwischen beiden Flügeln in Haltungen, die man heute nicht als radikal und gemäßigt bezeichnen würde, sondern als gleichheitsfeministisch und differenzfeministisch. So macht auch Wolff den „Hauptunterschied“ in der „Frage der Geschlechtergleichheit“ aus:

Sahen die Vertreterinnen der radikalen Richtung die absolute Gleichheit beider Geschlechter meist als erwiesen an und wollten den Anspruch auf fast alle Lebensbereiche und Gesellschaftsklassen ausweiten, so setzten die Gemäßigten eher auf die Geschlechterdifferenz und versuchten durch das Stärken des weiblichen Einflusses eine ausgeglichene menschliche (d.h. männliche und weibliche Gesellschaft zu erreichen. Aber es war auch eine Frage der Strategie. Während Augspurg, Heymann und Cauer auf eine ‚reinliche Scheidung‘ zu den Gemäßigten setzten, bemühte sich Pappritz die Ideen der Föderation in so viele Kreise wie möglich zu tragen.

Auf der 1902 abgehaltenen fünften Generalversammlung des BDF gelang es Pappritz, den Abolitionismus in ihrer neuen organisatorischen Heimat durchzusetzen, die bislang weitgehend den Vorstellungen Bieber-Böhms anhing, sofern sich die Gemäßigten überhaupt getraut hatten, das heiße Eisen Prostitution anzufassen. So wanderte die abolitionistische Haltung mit Pappritz vom VFFV zum BDF, während in jenem schon bald die von Helene Stöcker entwickelte Neue Ethik Fuß fasste, die sich insbesondere in ihrer Einschätzung von Ehe und Freier Liebe von den Vorstellungen der Abolitionistinnen der BDF unterschied.

Wie die Autorin zeigt, war Pappritz in allen Konflikten wenig kompromissbereit, sondern vielmehr von dem „unbedingten Willen“ beseelt, „Recht zu haben und Recht zu bekommen“ und „ihre Vorstellungen durchzusetzen“. Eine ihrer „herausstechendsten Eigenschaften bestand darin, dass sie nicht in der Lage war, konstruktiv mit Konflikten umzugehen“. Wolff selbst stellt hingegen, wo immer möglich, die konkurrierenden Standpunkte dar und interpretiert sie abwägend, ohne sich vorbehaltlos auf eine Seite zu schlagen.

Wie auch viele andere Angehörige des gemäßigten Flügels der Frauenbewegung bejubelte Pappritz die, wie sie in ihrem Tagebuch schrieb, „herrlichen Siegesnachrichten!“ zu Beginn des Ersten Weltkriegs. Dass Pappritz auch später „nie eine kritische Haltung gegenüber dem Krieg“ an den Tag legte, erklärt Wolff damit, dass sie „Angehörige einer weit verzweigen Soldatenfamilie“ war. Ende 1914 richtete Pappritz zusammen mit Marie Heßberger vom Katholischen Frauenbund und der Gemäßigten Gertrud Bäumer eine – natürlich erfolglose – Petition an den stellvertretenden Kriegsminister, in der die Frauen forderten, „den Soldaten während der Kriegszeit den außerehelichen Geschlechts-Verkehr zu verbieten“, da sie andernfalls aufgrund von Geschlechtskrankheiten dienstunfähig werden und zudem womöglich künftig keinen Nachwuchs zeugen könnten. Ob diese Argumentation, bei der Wohl und Wehe der Prostituierten, der Ehefrauen und überhaupt dem weiblichen Teil der Gesellschaft keine Rolle spielten, nur taktisch begründet war, wird sich wohl nicht mehr klären lassen. Jedenfalls „wurde die Prostitution […] dank Militär und Vorstellungen über eine notwendige männliche Sexualität immer mehr zur Selbstverständlichkeit“. Mehr denn je wurde während des Krieges an einer Männlichkeitskonstruktion festgehalten, „die auf der Idee fußte, dass eine regelmäßige Triebabfuhr zwingend zum Mannsein dazugehörte. Gedacht wurde die männliche Sexualität als Kochtopf, von der ‚Mann‘ gelegentlich den Deckel abnehmen musste.“

Nachdem den Frauen mit dem Ende des Krieges und des Kaiserreichs das Wahlrecht in den Schoß gefallen war, engagierte sich Pappritz ebenso wie etliche andere gemäßigte Frauenrechtlerinnen für die liberale Deutsche Demokratische Partei (DDP). Zugleich focht sie nun wieder für den Abolitionismus und wurde bald allseits als „Prostitutionsexpertin“ anerkannt. So wurde sie zur Vorsitzenden des Unterausschusses für Sittlichkeitsfragen des Arbeitsausschusses für Frauen der DDP gewählt, zu deren Abgeordneten einige Vertreterinnen des gemäßigten Flügels der Frauenbewegung zählten, unter ihnen Gertrud Bäumer und Marie Baum, denn „Frauenbewegung und Liberalismus einte die Idee der individuellen, persönlichen Freiheit, die nur in Ausnahmefällen durch den Staat beschränkt werden durfte“. 1927 schließlich wurde das Gesetz zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten verabschiedet, mit dem die Reglementierung der Prostitution offiziell ein Ende fand. Nicht zuletzt ein Erfolg der Lobby- wie auch der parlamentarischen Arbeit der AbolitionistInnen.

Hatte sich Pappritz bislang nie um die Finanzierung ihres Unterhalts sorgen müssen, wurde dies in der Weimarer Republik anders. 1922, „im Alter von über 60 Jahren musste sie zum ersten mal in ihrem Leben Geld verdienen“. Sie tat es als Aufseherin in einem Druckereibetrieb. War Pappritz 1931 noch von allen Seiten, auch offizieller, zum 70. Geburtstag gratuliert worden, machten die Nationalsozialisten  unmittelbar nach der Machtergreifung all ihre Arbeit durch die Verordnung zum Schutz von Volk und Staat „zunichte“. Dennoch versuchte sie noch 1936 „den Nationalsozialistinnen“ zu erklären, „was die alte Frauenbewegung gemeint hatte und wofür sie eingestanden war“. Wolff macht darin „eine bestimmte politische Naivität“ der alten Frau aus, die den Nationalsozialismus „intellektuell-politisch wahrscheinlich massiv unterschätzte“.  In einem Artikel der Juliausgabe aus dem Jahr 1933 der noch im gleichen Jahr eingestellten Zeitschrift Der Abolitionist hatte Pappritz gar versucht, Gemeinsamkeiten zwischen der von Hitler in Mein Kampf vertretenen Haltung zur Prostitution und der eigenen abolitionistischen aufzuzeigen. Auch räumt Wolff ein, dass Pappritz gegenüber dem Nazi-Regime „zwischen einer ‚guten‘ und einer ‚schlechten‘ Frauenbewegung zu trennen“ versuchte und nicht davor zurückschrak, letzterer „die vom Staat negativ beurteilten Handlungen“ zuzuschreiben. Mit all dem habe Pappritz selbst dazu beigetragen, bei künftigen Generationen „das Bild der konservativen Frauenbewegung“ zu schaffen, „die sich sogar dem Nationalsozialismus andiente“.

Anhand von Pappritz’ Korrespondenz aus dieser Zeit versucht Wolff hingegen zu belegen,  dass Pappritz den Nationalsozialismus ablehnte. Dies gestaltet sich allerdings nicht ganz so einfach, da aus der Zeit des Nationalsozialismus nur die an diese gerichteten Briefe erhalten sind, nicht jedoch diejenigen, die Pappritz selbst schrieb. Dennoch spricht einiges dafür, dass sie nichts mit der nationalsozialistischen Ideologie gemein hatte. Als sich ihre Mitstreiterinnen jüdischen Glaubens 1933 genötigt sahen, aus dem Vorstand des Bundes der abolitionistischen Vereine zurückzutreten, wollte auch Pappritz ihr Amt niederlegen, da sie sich, wie sie erklärte, „dem Zwange, unsere jüdischen Mitarbeiter auszuschalten, nicht fügen“ mochte. Doch ließ sie sich schließlich schweren Herzens von den zurückgetretenen Frauen bewegen, im Amt zu bleiben. „Zum ersten mal in meinem Leben begehe ich bewusst eine Handlung, die ich als ungerecht und unehrenhaft empfinde“, bekannte Pappritz. Dennoch wurden in späteren Jahrzehnten Vorwürfe gegen sie laut, die sie des Antisemitismus bezichtigten. Wolff weist die Anschuldigungen – wohl zu Recht – zurück.

Im Februar 1934 legte die nunmehr 73-jährige Pappritz ihr Amt als Vorsitzende der Berliner Ortsgruppte des Deutschen Verbandes zur Förderung der Sittlichkeit nieder. Fünf Jahre später starb die zeitlebens nie ganz Gesunde zurückgezogen auf dem Familiengut in Radach. „Mit dem Tod seiner zentralen Figur endete die Geschichte des Abolitionismus in Deutschland.“

Wolff aber hat eine enorme Recherchearbeit geleistet, die sich in detailreichen Informationen über das Leben(swerk) von Pappritz sowie ihrem familiären und feministischem Umfeld auszahlt. Dass die Autorin Leben und Werk von Anna Pappritz so kenntnisreich in letzteres einbetten kann, ist auch dem Umstand zu verdanken, dass Wolff bereits seit langen Jahren intensiv zu anderen Feministinnen, namentlich zu Helene Stöcker und Marie Stritt, geforscht und publiziert hat.

„Alle Texte“ von Pappritz „sind logisch aufgebaut, die Argumentation ist klar und stilistisch findet sich immer ein Hauch von Ironie und Witz“, lobt Wolff ihre Protagonistin einmal, zudem habe Pappritz die Fertigkeit besessen, „recht präzise und spitz ein Problem zu beschreiben“. All dies lässt sich mit Fug und Recht auch von der vorliegenden Publikation und ihrer Verfasserin sagen. So ist Wolffs Untersuchung ganz im Unterschied zu manch anderer ihrer Art ausgesprochen angenehm zu lesen.

Schade ist vielleicht, dass Wolff versäumt, die radikale Feministin Hedwig Dohm zu erwähnen, die zwar nicht in der abolitonistischen Bewegung aktiv war, sich aber nicht nur bis zum Lebensende in ihren Schriften immer wieder einmal dezidiert gegen Prostitution wandte, sondern auch mit Pappritz bekannt war und etliche Briefe mit ihr wechselte, in denen auch von persönlichen Begegnungen die Rede ist. Die Tagebücher von Dohms Tochter Hedwig Pringsheim belegen sogar, dass Pappritz Dohm in deren Wohnung besuchte. Zudem publizierte Pappritz immer wieder über Dohm, nicht zuletzt, da zu den „vielen Büchern“, die Pappritz besprach, auch einige aus der Feder Dohms zählten.

Kerstin Wolff hat eines der bedeutendsten Bücher nicht nur zum Abolitionismus in Deutschland, sondern überhaupt zur ersten Frauenbewegung geschrieben. Schon jetzt darf ihre Untersuchung zu den Standardwerken der Geschichte der Deutschen Frauenbewegung und natürlich insbesondere zu Anna Pappritz und ihrem Kampf gegen die staatliche Reglementierung der Prostitution gezählt werden. Sie wird es auf absehbare Zeit bleiben.

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Kerstin Wolff: Anna Pappritz (1861-1939). Die Rittergutstochter und die Prostitution.
Ulrike Helmer Verlag, Sulzbach/Taunus 2017.
402 Seiten, 32,00 EUR.
ISBN-13: 9783897413993

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