1968 und die Öffnung nicht nur literaturwissenschaftlicher Grenzen

Zur Dezember-Ausgabe 2018 von literaturkritik.de – mit Wünschen für die Feiertage und zum Jahreswechsel

Von Thomas AnzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Anz

Die Dezember-Ausgabe von literaturkritik.de widmet sich vor den Weihnachtsfeiertagen und zum Jahresende 2018 noch einmal der Erinnerung an die Zeit vor 50 Jahren – auch deshalb, weil die Zeitschrift selbst und die Literaturwissenschaft, der unsere Redaktionen an mehreren Universitäten verbunden sind, den Impulsen der internationalen „68er Bewegung“ einiges zu verdanken haben. Diese hat in vieler Hinsicht zur Öffnung von Grenzen beigetragen – Grenzen nationaler Beschränktheit, Grenzen zwischen wissenschaftlichen Disziplinen, Grenzen zu vorher fern gehaltenen Gegenstandsbereichen und dabei auch zwischen gegensätzlichen Kulturen.

Dass es deplatziert ist, die „68er Bewegung“ nostalgisch zu verklären, haben bereits etliche Beiträge in früheren Ausgaben dieses Jahres betont (vor allem in 7/2018). Und auch in dieser Ausgabe weisen Artikel über Gewaltbereitschaft, Dogmatismus und autoritäre Strukturen in manchen Teilen und Entwicklungen der Bewegung darauf hin. Diese stießen aber schon 1968 auf Widerstand innerhalb der Bewegung, für den die von uns jetzt erneut veröffentlichte Rede von Helke Sander ein markantes Beispiel lieferte. Bei einem Kongress des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS) warf sie diesem im September 1968 vor, „innerhalb seiner Organisation ein Spiegelbild gesamtgesellschaftlicher Verhältnisse“ zu sein. Und ein Interview mit ihr in unserer Ausgabe zitiert das zwei Monate später auf dem nächsten SDS-Kongress verteilte Flugblatt der als Weiberrat bekannt gewordenen Sozialistischen Frauen Frankfurts um Silvia Bovenschen mit dem populär gewordenen Slogan: „Befreit die sozialistischen Eminenzen von ihren bürgerlichen Schwänzen“.

Doch wo die internationale Protest- und Emanzipationsbewegung von „1968“ (als Chiffre auch für etliche Jahre davor und danach verstanden) antiautoritär, antidogmatisch und in ihrem Widerstand gegen staatliche Gewalt selbst gewaltfrei war, lässt sich noch heute viel von ihr lernen. Auch der Rede von Helke Sander ging es um die Beseitigung zwanghafter Grenzziehungen, neben der zwischen Frauen und Männern im Hinblick auf ökonomische, politische und soziale Gleichberechtigung auch um die „zwischen Privatleben und gesellschaftlichem Leben“. Um andere Grenzöffnungen wiederum ging es einem im Juni 1968 an der Universität Freiburg gehaltenen Vortrag des amerikanischen Literaturwissenschaftlers und -kritikers Leslie Fiedler, mit dem sich in unserer Ausgabe ein Beitrag besonders ausführlich befasst. Allein die völlig unterschiedlichen Medien, in denen der Vortrag später veröffentlicht wurde, unterlief Grenzsetzungen, deren Beseitigung schon der Titel forderte, unter dem er nach der deutschen Publikation in der Wochenzeitung Christ und Welt im amerikanischen Playboy erschien: „Cross the Border – Close the Gap“.

Fiedlers „postmodernem“ Appell, „die Kluft zwischen Bildungselite und der Kultur der Massen zu schließen“, entsprach die Aufwertung der ganz unterschiedliche Medien und Künste umfassenden „Popkultur“. Angesichts gegenwärtiger Tendenzen, einerseits die Macht der globalen „Eliten“ unter meist nationalistischer Berufung auf die vernachlässigten Bedürfnisse des Volkes im eigenen Land anzuprangern und andererseits in der Kritik daran mit dem inzwischen inflationär verbreiteten Wort „populistisch“ einen Ton elitärer Massenverachtung in politischen Debatten zu etablieren, scheint sich heute die Kluft, die Fiedler zu schließen postulierte, wieder erheblich zu vergrößern. Zumindest in der Literaturwissenschaft und -kritik ist das jedoch nicht der Fall.

Dass der zweite, von der Redaktion an der Universität Duisburg-Essen initiierte Themenschwerpunkt in unserer Dezember-Ausgabe (er wird über die Jahresgrenze hinweg in der Januar-Ausgabe fortgesetzt) sich mit Filmen der Gegenwart befasst, ist dafür durchaus symptomatisch. „Neben literarischen auch filmische Neuerscheinungen kritisch zu beleuchten, gehört mittlerweile zum festen Programm der Redaktion Gegenwartskulturen“, steht im Vorwort zu dem Schwerpunkt. Sowohl die Erweiterung der Gegenstandsbereiche über gedruckte Texte hinaus zu neueren Medien mit zunehmender Popularität als auch die Einbeziehung der Gegenwart in die vorher weitgehend vergangenheitsfixierte Literaturwissenschaft entsprechen den Wandlungen des Faches in den „68er Jahren“.

Symptomatisch für diese Wandlungen ist ebenfalls eine von Angehörigen unserer Komparatistik-Redaktion Ende November an der Universität Mainz geleitete Tagung mit „Pop“ im Titel: „Die 1968er Jahre. Rebellion – Provokation – Pop“ (siehe https://www.avl.uni-mainz.de/2018/10/25/tagung-die-1968er-jahre-komparatistisch/). Zwei Beiträge in unserer Ausgabe beruhen auf Vorträgen, die dort gehalten wurden. Einer davon analysiert rückblickend „Repressionsnarrative der Ästhetik“ und „Geschichten von der Unterdrückung des Eros“ um 1968 und erinnert u.a. an ein Kolloquium der Konstanzer Forschergruppe „Poetik und Hermeneutik“, das sich 1966 mit „Grenzphänomene des Ästhetischen“ befasste und dabei mit der Geschichte jener Kunst, die aus dem Kanon des Schönen bis dahin weitgehend ausgegrenzt wurde. Der andere befasst sich mit der Geschichte der Germanistik um 1968, der in dieser Ausgabe noch weitere Beiträge gewidmet sind, und erinnert an zwei Germanistentage, die für die weitere Entwicklung des Faches prototypisch waren. Beim Germanistentag 1966 in München setzten sich jüngere Literaturwissenschaftler mit der nationalsozialistischen Vergangenheit des Faches und seiner nationalen Fixierung auf deutsche Literatur auseinander, der Germanistentag 1968 in Berlin stand im Zeichen eines Dialogs zwischen Literaturwissenschaft und anderen Wissenschaften.

Internationalität (die auch der Etablierung der Komparatistik zugutekam) und Interdisziplinarität gehören zu den Impulsen, von denen das Fach noch fünfzig Jahre danach mehr oder weniger geprägt bleibt. Ihnen entsprechen in der 68er Generation darüber hinaus Erfahrungen scheinbar ganz anderer Art, über die ein Beitrag über einen heute kaum noch bekannten Autor berichtet. Er hatte 1968 sein Abitur gemacht, zog nach München und als er sich hier eingeengt fühlte, reiste er, ja floh geradezu über viele Grenzen hinweg in die Fremde: über Istanbul und Teheran nach Karachi und noch weiter. Danach veröffentlichte er die Schilderung seiner Reiseerlebnisse „on the road“ unter dem bezeichnenden Titel Trip Generation.

Mit einem herzlichen Dank an alle, die literaturkritik.de mit ihrer Arbeit, mit ihren Beiträgen oder auf andere Weise unterstützen, wünscht unseren Leserinnen und Lesern frohe und friedliche Festtage und eine „Reise“ ins neue Jahr mit vielen horizonterweiternden Anregungen

Thomas Anz