Ein Connaisseur mit Laienauge
Carmen Aus der Au über Theodor Fontane als Kunstkritiker
Von Klaus-Peter Möller
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseMit dem 11. Band der Schriftenreihe der Theodor Fontane Gesellschaft e. V. legt die Schweizer Literaturwissenschaftlerin Carmen Aus der Au ihre Dissertation vor, mit der sie im Herbst 2015 an der Universität Zürich promoviert wurde. Es handelt sich um die erste umfassende Darstellung von Fontanes kunstkritischen Schriften. Die Arbeit ordnet sich ein in ein Interesse am Komplex des Visuellen im Werk Fontanes, das mit der Edition der Aufsätze zur Bildenden Kunst in der Nymphenburger Ausgabe (2 Bände, 1970), der Studie von Peter Klaus Schuster über Effi Briest (1978), dem Band III/5 der Hanser-Ausgabe Zur deutschen Geschichte, Kunst und Kunstgeschichte (1986), der Ausstellung und dem Katalog Fontane und die bildende Kunst (1998), den Büchern von Nora Hoffmann über Photographie, Malerei und visuelle Wahrnehmung bei Fontane (2011) und Gerhard von Graevenitz über das Imaginäre (2014), mit der Galerie Der Bilderfex von Christoph Wegmann (2019) sowie den Arbeiten von Heide Streiter-Buscher über Fontanes Blechen-Fragment Wegmarken gesetzt hat.
Aus der Au verfolgt keinen theoretischen Ansatz, sondern einen empirischen. Sie sichtet das Werk Fontanes und weist nach, wie weit seine Schriften und Briefe vom Kunst-Diskurs geprägt und daran beteiligt sind. Anhand einer umfassenden Analyse des gesamten Textkorpus erarbeitet Aus der Au die Merkmale von Fontanes kunstkritischem Schreiben, das überall zugleich deskriptiv und kritisch ist. Es wird deutlich, wie Fontanes Kunstkritik im zeitgenössischen Diskurs der Berliner Interessenten-Kreise wurzelt, an dem sich Fontane als Dilettant im Zeitalter zunehmender Popularisierung der Kunst durch Galerien und institutionalisierte Expositionen und der Emanzipation der Kunstgeschichte als einer eigenen universitären Disziplin beteiligt. Personale, institutionelle und mediale Kontexte werden untersucht. Schließlich analysiert die Autorin Fontanes Kunstauffassung als implizite Poetik und untersucht Prallelen und Zusammenhänge von kunstkritischem und literarischem Werk.
Die Studie gliedert sich in drei Teile. In einem ersten umfassenden Abschnitt erarbeitet sie ein Verzeichnis der kunstkritischen Schriften Fontanes. Beinahe jedem Werkkomplex ist ein Kapitel gewidmet, nicht nur den originären Gattungen der Kunstkritik (Ausstellungsbericht, Museumsbeschreibung, Künstlerbiografie, Buchrezension, Beschreibung von Architektur und Bildhauerei), sondern auch den Reiseberichten, insbesondere den Aufzeichnungen über die italienischen Reisen, den Wanderungen durch die Mark Brandenburg, dem Briefwechsel, den Kriegsberichten und den Romanen Fontanes. Darüber hinaus hat die Autorin auch die Tage- und Notizbücher Fontanes herbeigezogen. Das Korpus der kunstkritischen Schriften Fontanes, das in einem kommentierten Verzeichnis im Anhang beschrieben ist, umfasst dagegen ausschließlich journalistische Arbeiten, die allerdings unterschiedlichen Werkkomplexen zugeordnet sind. Dieses Verzeichnis von Fontanes Kunstkritiken im engeren Sinne ist eines der greifbaren Resultate der Arbeit. Die 150 Texte, die hier mit ihren bibliografischen Angaben zusammengestellt sind, bilden die Grundlage ihrer Studie, und sie sind eine Herausforderung für die Editionsphilologie.
Im zweiten Teil der Arbeit untersucht Aus der Au die personalen, institutionellen und medialen Kontexte von Fontanes kunstkritischem Schreiben. Deutlich wird, wie Fontane durch den direkten Austausch mit Künstlern, Kunstwissenschaftlern und -journalisten beeinflusst wird, mit denen er in geselligen Kreisen verkehrt, besonders im Tunnel über der Spree und im Rütli. Die Vereine waren für Fontane Rezensenten-Börse, Podium und Urteilsschule in einem. Persönlichkeiten wie Franz Kugler, Friedrich Eggers, Wilhelm Lübke, Richard Lucae und Künstler wie Adolph Menzel, Hugo von Blomberg und Ludwig Pietsch haben Fontane in seinen Anschauungen geprägt. Auch in seinen kunstkritischen Schriften lässt sich das Verfahren beobachten, dass Textpassagen anderer Autoren adaptiert wurden, ohne dass dies jedes Mal als Zitat markiert ist. In seinen Urteilen erweist sich Fontane allerdings als unabhängige kritische Instanz. In dem Bewusstsein, nur über ein „Laienauge“ zu verfügen, das nicht systematisch geschult ist, inszeniert sich Fontane als „Connaisseur mit fundiertem Kunstwissen“. Fontane war Autodidakt, aber er hat erhebliche Anstrengungen unternommen, sich ein fundiertes Kunstwissen anzueignen. Seine Lektüren, die es systematisch zu untersuchen gilt, zeugen davon genauso wie sein imaginäres Museum. Seine Reisen, besonders die beiden nach Italien, müssen auch als Fortbildungsmaßnahmen auf dem Gebiet der Kunstwissenschaft angesehen werden. Zu den Voraussetzungen, die Stelle als Sekretär der Akademie der Künste anzutreten, gehörte ein gediegenes Fachwissen. Dem Scheitern Fontanes in diesem Amt ist merkwürdigerweise kein Abschnitt in dem Buch gewidmet. Natürlich hat Fontane die biografische Episode nicht publizistisch ausgewertet. Im Zusammenhang mit seiner kunstkritischen Tätigkeit scheint sie aber doch bemerkenswert.
Der dritte große Abschnitt der Studie ist der Untersuchung der Kunstkritiken als einer impliziten Poetik und eines Laboratoriums für Schreibweisen gewidmet. Religiöse Kunst, Sezession und Impressionismus, Kostümfrage, Kolorismus, Landschaftsmalerei, Stillleben, Genre- und Historienmalerei sind die Stichworte in diesem Kapitel. Schließlich werden die Kunstkritiken als Sprachkunstwerke analysiert und die spannenden Parallelen zwischen Fontanes kunstkritischem und seinem literarischen Schreiben analysiert.
Aus der Au bleibt überall paradigmatisch und am Gegenstand orientiert. Es handelt sich nicht um eine abschließende Arbeit zum Gegenstand, eher um ein anspruchsvolles Arbeitsprogramm, das die Wissenschaft in den nächsten Jahren zu zahlreichen Einzeluntersuchungen anregen mag. Die Schlüsse und Feststellungen, die die Autorin aus der Untersuchung der kunstkritischen Schriften Fontanes zieht, sind überall anregend und zutreffend. Eine stärkere Systematisierung und Zusammenfassung der Resultate der Arbeit wäre wünschenswert.
Mehrfach entsteht der Eindruck, dass es sich lohnte, den aus der Textanalyse abgeleiteten Thesen ausführlicher nachzugehen. Fontanes „Verständnis vom Realismus“ sei „stark von der Betrachtung bildender Kunst geprägt“. Bereits auf der ersten Seite der Einleitung findet sich das Zitat „Emanzipation der Sinnlichkeit als eigenständige Erkenntnisform“. Was das bedeutet, kann man etwa der erregten Debatte entnehmen, die Karl Frenzel 1885 durch sein Plädoyer für eine größere gesellschaftliche Toleranz gegenüber der berufsbedingt besonders ausgeprägten „ästhetischen Sinnlichkeit“ der Künstler auslöste. Die Auseinandersetzung um das Meineidsverfahren gegen Gustav Graef, das zugleich ein Sittlichkeitsverfahren war, wurde zu einer Zerreißprobe für die Berliner Künstlerschaft. Der Verein Berliner Künstler, allen voran Anton von Werner und Adolph Menzel, machte sich für eine „reine“ Kunst stark, gegen „Unsittlichkeit“ und „Entartung“. Zahlreiche Künstler weigerten sich allerdings, die Petition des Vereins zu unterzeichnen beziehungsweise nahmen ihre Unterschriften sogar später zurück. Auch Fontane hat sich in dieser Auseinandersetzung positioniert, wenn auch nur in privaten Briefen. Den Staatsanwalt, der, von der Schuld des Malers überzeugt, den Prozess gegen Graef mit großem Aufwand führte und nicht davor zurückschreckte, Tagebücher und intime Gedichte des Angeklagten der Öffentlichkeit preiszugeben, versicherte Fontane am 18. Oktober 1885 seiner „vollkommensten Zustimmung“, die Sezierung der Gedichte „vielleicht“ ausgenommen.
Es ist womöglich ein Vorzug der Studie, dass sie solchen Nebenwegen nicht gefolgt ist. Mit ihrem Buch hat Carmen Aus der Au die Grundlagen für eine zukünftige Erforschung der kunstkritischen Schriften Fontanes gelegt. Eine vollständige Aufarbeitung des Gegenstandes ist eine längerfristige Aufgabe für die Gemeinschaft der Wissenschaftler.
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