Vom Mut zum Selbstdenken
Michael Bienert führt durch „Das aufgeklärte Berlin“ – was ist davon heute geblieben?
Von Klaus Hammer
Es war Immanuel Kant, der 1784 die heute wohl bekannteste Bestimmung von Aufklärung als „Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit“ gab. Der Königsberger Philosoph definierte die Aufklärung als einen langwierigen Prozess, der das eigenverantwortliche Handeln des Menschen und den uneingeschränkten freien und öffentlichen Gebrauch der Vernunft erforderte. Die Grenzen der Aufklärung zeigen sich bei Kant in der Verwendung des Begriffs Öffentlichkeit, der eigentlich eine Gelehrtenrepublik meint und Entfernung vom Staat bedeutet. Der Literaturhistoriker und Aufklärungs-Spezialist Werner Krauss ergänzte aus heutiger Sicht: „Durch die Aufklärung wird das 18. Jahrhundert zum Präludium der Neuzeit, zum Vorklang der gegenwärtigen Zeitgeschichte, obwohl sich das Mittelalter mit seiner hierarchischen Staats- und Gesellschaftsordnung noch tief im Unterbau dieser Epoche verklammert hatte“.
Es ist besonders im Preußen Friedrichs II. auf die Doppelbödigkeit der Aufklärungsepoche und des aufklärerischen Projekts überhaupt zu achten und konkret nach der praktischen Umsetzung aufklärerischer Intentionen zu fragen. Mit Friedrichs II. Übergang zur Politik des aufgeklärten Absolutismus war eine Militarisierung des gesellschaftlichen Lebens – durch Kriege begründete er die preußische Vormachtstellung in Europa – mit einer begrenzten Förderung der Wirtschaft und Reformen auf den Gebieten der Verwaltung, Justiz und Kultur verbunden. Friedrich II. hatte musische und philosophische Interessen, korrespondierte mit Voltaire, der ihn zum roi philosophe erhob, und holte ihn nach Sanssouci, umgab sich hier mit einem Kreis aus Künstlern und Literaten, hielt aber nichts von den zeitgenössischen deutschen Autoren und der bürgerlichen Aufklärung. Man muss deshalb fragen: Wie kommen der aufgeklärte höfische Absolutismus in Potsdam-Sanssouci und die bürgerliche Aufklärungsbewegung in Berlin zusammen?
Michael Bienert, ausgewiesener Kenner der Berliner Kulturgeschichte, Verfasser unzähliger Berlin-Bücher, in denen er einzelne Dichter wie E.T.A. Hoffmann, Joseph Roth, Alfred Döblin, Erich Kästner, Irmgard Keun, Brecht (es fehlt noch Fontane, wohl, weil es hier schon genügend Darstellungen gibt) oder ganze Literaturperioden (das Berlin der Romantik) vorstellt, geht jetzt den Spuren des Zeitalters der Aufklärung im heutigen Berlin nach. Er lässt es wieder auferstehen, das Berlin des 18. Jahrhunderts mit seinen Zeitungen und Verlagen, den Akademien der Künste und der Wissenschaften, seinem Musikleben und Schauspiel-Theatern – dazu kommt dann auch das im Todesjahr Friedrichs II. gegründete Nationaltheater –, den Kaffeehäusern und Gärten, Salons und Vereinigungen, die der Pflege und Verbreitung aufklärerischen Gedankengutes dienten: der Montagsklub (ab 1749), ein herrschaftsfreies Diskussionsforum, und das spätaufklärerische Podium, die „Geheime Mittwochsgesellschaft“ (1783-1798). Vor allem die publizistischen Organe der Berliner Aufklärung – die „Berlinische Monatsschrift“ und die „Allgemeine Deutsche Bibliothek“ – erlangten eine breite Ausstrahlung.
Ein Stich von 1757 in Bienerts Buch gibt den Stadtplan von Berlin wieder mit den Ansichten der Sehenswürdigkeiten und einem anonymen Berlin-Gedicht, das kühn Berlin in die Reihe der großen Weltstädte stellt und auch vor dem Vergleich mit dem antiken Athen und Rom nicht zurückschreckt. Aber gerade die Bindung an den aufgeklärten Absolutismus macht auch die Grenzen der Berliner Aufklärung deutlich. Ein „Spree-Athen“ ist Berlin damals wohl nicht geworden. Friedrichs II. Liebe zu den Künsten, seine Bewunderung für die Dichter und Philosophen der Antike und die Ideen der europäischen Aufklärung waren glaubwürdig, so Michael Bienert, der König habe die Aufklärung in seinem eigenen Land gefördert, „solange jedenfalls, wie sie seine eigenen Pläne und Machtbasis nicht störte“. Die Etablierung eines Hoftheaters galt der italienischen Oper und dem französischen Schauspiel und die Einrichtung einer eigenen Druckerei, ebenfalls im Berliner Schloss, war für die Werke des philosophe de Sanssouci bestimmt und durften nicht in fremde Hände gelangen.
Bienert versteht die Aufklärung als breitere Strömung, die die Volksaufklärung einbezieht und damit einen größeren Akteur- und Adressatenkreis einschließt. Es werden aber auch die Unterschiede wie Übergänge zwischen den aufklärerischen Tendenzen am preußischen Hof Friedrichs II. und der Berliner bürgerlichen Aufklärung deutlich herausgearbeitet.
Das Palais des Prinzen Heinrich, des jüngeren Bruders Friedrichs II., das der Universität seit ihrer Gründung 1810 als Hauptgebäude diente, hatte 1778 auch Goethe im Gefolge des Herzogs Carl August aus Weimar als Gast; dieser war von der „Kaserne Berlin“ (M. Bienert) – Friedrich II. bereitete gerade den Krieg gegen Österreich, den so genannten „Kartoffelkrieg“, vor – so desillusioniert, dass er nie wieder in die preußische Hauptstadt zurückgekehrt ist. Im Unterschied zu Schiller, der 1804 Berlin besuchte, in der Gala-Vorstellung der „Jungfrau von Orleans“ im zwei Jahre vorher fertiggestellten Neubau des Nationaltheaters gefeiert wurde und sogar eine Übersiedlung von Weimar nach Berlin erwog, von der er letztlich dann doch Abstand nahm.
Kant war zwar nie in Berlin, hat aber die „Berlinische Monatsschrift“ intensiv genutzt, um seine aufklärerischen Ideen zu vertreten. Hier ist auch sein berühmter Aufsatz Was ist Aufklärung? erschienen. Lessing blieb dagegen fast zwei Jahrzehnte Berlin verbunden, er begründete zusammen mit Christlob Mylius das Zeitungsfeuilleton in Berlin – nicht durch Gelehrsamkeit, sondern durch sarkastischen Humor, auf hintergründige Art und Weise. Mit seiner 1759 begründeten Wochenschrift „Briefe, die neueste Literatur betreffend“, für die er gemeinsam mit seinen Freunden Friedrich Nicolai und Moses Mendelssohn die meisten Beiträge verfasste, praktizierte er in der Auseinandersetzung mit den literarischen Strömungen der Zeit Aufklärung durch Kritik als Methode. In dem Jahr, in dem die „Briefe“ eingestellt wurden, 1765, legte Nicolai das erste Heft der „Allgemeinen Deutschen Bibliothek“ vor, die – zwischendurch von der preußischen Zensur verboten – bis 1805 erschien und die den Schwerpunkt deutscher Literaturkritik endgültig nach Berlin verlagerte. Im Unterschied zur literaturkritischen „Allgemeinen Deutschen Bibliothek“ erhoben dann die „Berlinische Monatsschrift“ (1783-1796), die bei Haude und Spener erschien, sowie die von Friedrich Nicolai vertriebene „Neue Berlinische Monatsschrift“ (1799-1811) die Sozialpolitik mit Vorschlägen zur Verbesserung der Gesellschaft zum Thema. Hier wurde einem aufklärerischen Universalismus das Wort gesprochen.
Mit Recht stellt Bienert fest, dass sich Lessing in Berlin einen Namen machte, der dazu beitrug, dass Berlin in der literarischen Welt namhaft wurde. Lessing wurde zwar in Berlin nicht „hoffähig“, erlangte die erhoffte Anstellung als königlicher Bibliothekar nicht und ging 1767 nach Hamburg, aber er hinterließ ein so wirkungsmächtiges Stück wie Minna von Barnhelm, das nicht nur in Berlin geschrieben wurde, sondern auch in Berlin spielt. Der Protagonist, der preußische Major von Tellheim, macht einen heilsamen Erkenntnisprozess durch und kommt zu dem Schluss: „Die Dienste der Großen sind gefährlich, und lohnen der Mühe, des Zwanges, der Erniedrigung nicht, die sie kosten“. War die Uraufführung 1767 in Hamburg auch wenig erfolgreich, so wurde die Berliner Premiere ein Jahr später im Doebbelinschen Theater in der Behrenstraße – es war ab 1764 die erste künstlerisch anspruchsvolle Schaubühne in der preußischen Hauptstadt – begeistert aufgenommen.
Das unscheinbare Wohnhaus Spandauer Str. 68 der Familie des Buchhändlers Nicolai – es steht nicht mehr, seine Fassade zeichnet sich seit 2016 schattenhaft im Pflaster ab – wurde durch den jüdischen Seidenhändler und Philosophen Moses Mendelssohn in den 1760er Jahren zum Treffpunkt der Berliner Literaturfreunde und mehr noch einer sich emanzipierenden bürgerlichen Literatur überhaupt. Mendelssohns Verdienst bestand in der rechtlichen Gleichstellung der Juden, die ihnen bisher versagt war. Berlin wurde, so Bienert, zum Ausgangspunkt einer gegen den orthodoxen Rabbinismus und Mystizismus gerichteten Erneuerungsbewegung.
Lessings Nathan der Weise, das Hohelied der Aufklärung, wurde 1783 im Doebbelinschen Theater in der Behrenstraße uraufgeführt und schon die Zeitgenossen erkannten in der Titelgestalt die geistige Physiognomie Moses Mendelssohns wieder. Und die Ringparabel, die für ein tolerantes Neben- und Miteinander der Weltanschauungen plädiert, soll nun Symbol eines „House of One“ werden, eines Bet- und Begegnungshauses für die drei Religionen am Platz der Petrikirche, auch wenn es heute mittlerweile mehrere hundert Religionsgemeinschaften in Berlin gibt.
Wie Mendelssohn von Bienert als Brückenbauer und Stammvater eines aufklärerischen Judentums gewürdigt wird, so hebt er auch die Verdienste des von vielen literarischen Zeitgenossen als platter Rationalist und als Philister verspotteten Friedrich Nicolai hervor, der als Verleger und Autor (sein Sebaldus-Nothanker-Roman ist ein wichtiges, ironisch gehaltenes Zeitdokument) ein erstaunliches Lebenswerk geschaffen habe. Bei ihm komme die besondere „berlinische“ Version der Aufklärung zum Ausdruck – nämlich alles „pragmatisch“, durch verständliche Darstellung die praktischen bürgerlichen Bestrebungen zu befördern. Nicolai kaufte 1787 das stattliche Haus in der Brüderstraße 13 und ließ es von dem befreundeten Baumeister Zelter zum gastfreien Wohnsitz und Treffpunkt von Gleichgesinnten umbauen. Hier tagte auch bis 1798 die Mittwochsgesellschaft, jene geheime Vereinigung von aufklärungsbewussten Juristen, Theologen und Publizisten.
Anna Louisa Karschin, Tochter eines Bauern und Gastwirts, war die erste dichtende Frau im aufklärerischen Berlin. Von ihren Gelegenheitsgedichten allein konnte sie nicht leben, Friedrich II. speiste sie mit einem „Gnadengeschenk“ von zwei Talern ab, das sie stolz zurückwies. Friedrich Wilhelm II. ließ ihr am Hackeschen Markt ein Wohnhaus zuweisen, ohne dass sie deshalb hoffähig geworden wäre. Weder das bürgerliche noch das höfische Berlin vermochte sie zu integrieren. Und Bienert gedenkt auch des Schriftstellers, Pädagogen und Kunsttheoretikers Karl Philipp Moritz, der am Berlinischen Gymnasium in der Klosterstraße wirkte und mit seinem psychologischen Roman „Anton Reiser“ (1785-90) ein individuelles Leben zum exemplarischen Fall erhob.
Obwohl der Abschied Lessings einen unersetzlichen Verlust für Berlin bedeutete, kamen andere nach Berlin: Seit er Lessings Minna von Barnhelm 1769 mit Kupferstichen ausgestattet hatte, wurde Daniel Chodowiecki zum bedeutendsten Illustrator der belletristischen Literatur seiner Zeit. Er entwarf ein ganzes bildpolitisches Programm der Aufklärung. Bienert bedient sich in seinem Buch zwar dessen Kupferstiche, geht aber in seinem Text nicht weiter auf ihn ein. Er widmet zwar den Franzosen die gebührende Aufmerksamkeit, vernachlässigt aber den Einfluss der Schweizer, so des Züricher Salomon Gessners bedeutsamen Berlin-Aufenthalt 1749/50.
Man muss auch in diesem Berlin-Band wieder die Umsicht, Beharrlichkeit und das Engagement des Autors – und selbstverständlich auch die Vielfalt des illustrierenden Teils – hervorheben. Es ist unglaublich, was Bienert hier an Abbildungen zusammengetragen hat – Porträts, Gemälde, Zeichnungen, Stiche, Entwurfsskizzen, Illustrationen, Titelblätter, Prospekte, Übersichtspläne, Stadt-, Straßen- und Gebäudeansichten. Dieses Buch ist für den Berlin-Interessierten, den Literaturfreund mehr als nur ein empfehlenswerter Stadtführer – anschaulich bildhaft beschrieben, vermittelt es als Spezialwerk gleichermaßen Entdeckerfreude und Kenntnisgewinn.
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