Leonardo für Lesefaule

Ein luftiges Kakao-Tisch-Büchlein arrangiert Fabeln und Tierzeichnungen des Universalkünstlers

Von Bernd BlaschkeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Bernd Blaschke

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es war kein langer Flug, auf dem das vielleicht kleinste Buch zum großen Leonardo da Vinci Gedenkjahr vom Rezensenten geruhsam durchgelesen wurde. Auch das gute Dutzend Tier- und Pflanzenzeichnungen wurde dabei gebührlich betrachtet. Während Kaffee und Snack gereicht wurden, ruhte das kleine Buch sicher im Gepäcknetz des Vordersitzes; es ist sehr hübsch und man möchte das Bändchen keineswegs bekleckern. Kurzum: Auf den 100 luftig bedruckten Seiten finden sich sehr wenige Buchstaben, die man in einer guten Stunde locker weg liest. Und doch sind die Texte, kleine Tier- und Pflanzenfabeln, lesenswert. Mit ihrer meist Tugenden und Laster umkreisenden Moralisierung regen sie so naiv wie charmant zum Nachdenken an.

Allerdings versammelt Der Esel auf dem Eis eher Texte nach als durchweg von da Vinci. Denn der italienische Verleger, Dichter und Leonardo-Biograf Bruno Nardini ergänzte die oftmals nur stichwort- oder skizzenhaft vorliegenden Fabelplots zu (immer noch sehr kurzen) Fabeln. Rudolf Hagelstange hat diese Text in ein schönes, schlankes Deutsch übertragen und das Bändchen um ein kleines Nachwort (beinahe möchte man es Nachwörtlein nennen) ergänzt. Leider erfährt man hier nichts Genaues über die Herkunftsorte der Leonardo-Fabel; vermutlich entstammen sie als verstreute Notate seinen Tausenden von Papieren, die der ewig Umtriebige zu Büchern verarbeiten wollte, dabei aber – eben typisch leonardesk – nicht zu vollendeten Werken gelangte. Hagelstange berichtet über die Co-Autorschaftsverhältnisse der Fabeln nur blumig und vage:

Manche seiner Parabeln hat er selbst aufgeschrieben, wie sie hier nachzulesen sind. (Immer notiert er ‚für andere Bücher‘.) Andere wieder hat er nur in Stichworten festgehalten, um sie später einmal niederzuschreiben, und es sind nur die wenigen Sätze geblieben, die wie eine Disposition das Gerüst der Fabel enthielten und dem Herausgeber Nardini erlaubten, sie ohne Gefahr für Form oder Gedanken auszuführen.

Man könnte nun ins Meditieren kommen, über Erlaubnisse und darüber, welche Gefahren für „Form und Gedanken“ bei der Ergänzung fremder Stichworte über 500 Jahre hinweg lauern mögen: Mit ihrem Vorgehen begeben sich Interpret, Herausgeber und Übersetzer auf prekäres philologisches Eis, das schmelzen könnte wie in der titelgebenden Fabel.

Da Vinci erweist sich in diesen gesammelten und ausgeführten Miniaturen als pointierter Animateur, der seinen Tieren und Pflanzen ganz menschliche Erfahrungen sowie moralische Einsichten in Bescheidenheit, Endlichkeit und Gefährdungen von Begierden und Veränderungen mitgibt. Zudem wurden die gut 40 Kurztexte mit einem guten Dutzend Tierzeichnungen sowie Ausschnitten von Tiermotiven aus Leonardo-Zeichnungen ergänzt.

Diese Tier-und Pflanzenzeichnungen ergänzen die kleinen Geschichten recht trefflich. Einige sind, wohl aus der berühmten Skizzen- und Notizensammlungen stammend, mit für den Laien unleserlichen Notizen in Leonardos typischer, spiegelverkehrter Handschrift versehen. Die herrlichen Zeichnungen sind im Anhang zwar mit Entstehungsjahr und Zeichenmaterial nachgewiesen, leider fehlen allerdings Größenangaben der Bilder, die in dem Büchlein jeweils eine Doppelseite ausfüllen. Sie sind allesamt in einem Blau-schwarz-grau-Ton reproduziert, was dem Büchlein gemeinsam mit dem schön griffigen Leinenumschlag eine einheitliche, dezent elegante Form gibt – aber doch den Originalzeichnungen und ihren unterschiedlich getönten Papieren eine eigene, transformierende und eigenwillig ästhetisierende Note hinzufügt. Genauso wie die Texte von Nardini ergänzt wurden, wurden die Zeichnungen hier vom nicht genannten Layouter oder Designer des Unionsverlags zurecht-designt.

Der Untertitel Miniaturen bezeichnet das Buch sehr gut: es ist eine Art Coffetable Book für die Puppenwohnstube; so etwas müsste dann korrekt wohl „Kakao-Tisch-Büchlein“ genannt werden. Es ist eine Einstiegsdroge zur Annäherung an Leonardo. Der Esel auf dem Eis ist für Kinder ab zehn Jahren geeignet, bietet aber auch gehetzten Erwachsenen hübsche und womöglich besinnliche Kurzlektüren. Das Buch taugt vermutlich auch für altersschwache Augen und Arme als letzte Lektüre auf dem Krankenlager oder Sterbebett. Mithin ein Büchlein für alle und keinen. Lektüre für Minuten, die den Augen etwas zu gucken und ein wenig auch dem Verstand etwas zum Assoziieren und womöglich zum Denken gibt.

Aus Sorge, dass die Rezension am Ende mehr Zeichen enthält als das Buch, wollen wir diese hier nun beenden. Kurz und gut: Der große Projektemacher Leonardo erweist sich auch im Kleinformat dieses Projektils als inspiriert und inspirierend.

Titelbild

Leonardo da Vinci: Der Esel auf dem Eis. Miniaturen.
Mit Zeichnungen von Leonardo Da Vinci.
Übersetzt aus dem Italienischen von Rudolf Hagelstange.
Unionsverlag, Zürich 2019.
112 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783293005457

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