Denkmaschine, Kleinbürger, Traumapatient – und nun?
Über Wandlungen und Niedergang der Detektivfigur
Von Jochen Vogt
So wie der Ingenieur, der Wissenschaftler, der Unternehmer oder der Spekulant gehört auch der Detektiv zu den Romanfiguren, die ihre Leserschaft vom 19. ins 20. Jahrhundert geführt haben. Ihr Wegweiser war die schlussfolgernde, kalkulierende oder auch spekulative Vernunft, die unter dem Decknamen Rationalität ja auch eine philosophische Konjunktur erlebte (auf deren Kehrseite freilich auch die Gegenbewegungen der Lebensphilosophie und des Ästhetizismus gediehen). „Der moderne Geist“ – sagt jedenfalls Georg Simmel, den wir heute als bedeutendsten Physiognomiker jener Zeit schätzen – „ist mehr und mehr ein rechnender geworden.“ Das gilt dann auch für die literarischen Detektive, die seit damals immer zahlreicher und populärer geworden sind, dafür jedoch im „Krimi“ genannten Souterrain der Literatur büßen müssen, wo sie (und wir mit ihnen) im Lauf der Zeit einige erstaunliche Wandlungen erlebt haben.
Der erste Theoretiker, der den Ermittler ernst nahm, Siegfried Kracauer, nannte ihn einen „Repräsentanten der ratio“, der freilich nicht zur runden oder vollen Figur werde, sondern im „abstrakten Schemen des Detektivs“ gefangen bleibt. Das traf die Sache ganz gut, wen man vom hohen Ton einmal absieht (Kracauer hatte erklärtermaßen eine „Metaphysik des Detektivromans“ im Sinn). Man schrieb das Jahr 1925 und das Anschauungsmaterial war, zumal in Deutschland, insgesamt noch recht überschaubar. Doch das handwerkliche Problem, das Autoren bis heute beschäftigt, zeichnete sich schon ab: Wie wird der Detektiv eine glaubhafte oder mindestens eine interessante Figur?
Das lässt sich bereits gut an Sherlock Holmes zeigen. Nicht weil er der erste Vertreter dieser Profession wäre, wenn auch bis heute der berühmteste, sondern weil wir sehen können, wie sein Schöpfer Arthur Conan Doyle den „beratenden Detektiv“ mit schlichten Mitteln zu einer der ganz wenigen mythischen Figuren der modernen Literatur macht. Hauptsächlich ist Sherlock, wie Doyle sagt, eine „Denkmaschine“, oder auch eine Art Scanner; seine Prozeduren sind das Spurenlesen, die daraus abgeleiteten Schlussfolgerungen und hin und wieder ein kleines Experiment mit dem Bunsenbrenner. Nun ist schon mehrfach dargelegt worden, dass seine Logik bestenfalls ein Ratespiel und das Spurenlesen eine uralte Kulturtechnik sei; und aus der neuen Leitwissenschaft Chemie wird höchstens mal ein Stichwort hingeworfen: „Bariumsulfat!“ Immerhin soll Holmes’ Monographie über 124 verschiedene Sorten Zigarrenasche bald auch auf Französisch erscheinen…
Tatsächlich geht es weniger um wissenschaftliche Exaktheit oder logische Triftigkeit als vielmehr um Anschaulichkeit, nicht ums „Experiment“, wie Sherlock behauptet, sondern um die „Story“, die der hilfreiche Dr. Watson aufzeichnet. Und wenn der Meisterdetektiv kein „runder“ Charakter ist, so doch mindestens ein pittoresker. Doyle stattet ihn, hierin Edgar Allan Poe folgend und unbeschadet aller rationalistischen Ansprüche, mit bizarren Gewohnheiten in spätromantischer Manier aus, mit dem Lifestyle der zeitgenössischen Bohème samt erheblichem Drogenkonsum: Ratio wird durch Rausch erst interessant! Dass beide Seiten sich nicht bruchlos, sondern nur widersprüchlich zusammenfügen, ist kein Mangel, sondern Grund für die Faszination der Figur und ihrer „Abenteuer“, die bis heute effektvoll und, wie zuletzt die BBC-Serie Sherlock zeigte, sogar postmodern recycelt werden können.
Das Modell der Denkmaschine mit bizarren Manieren wird, bei wachsender Bewegungsunlust der Hauptdarsteller, noch eine Weile weiterproduziert, gern auch von Erfolgsautoren amerikanischer Herkunft wie John Dickson Carr mit seinem Dr. Gideon Fell in London oder Rex Stout, dem Gourmet und genialen Orchideenzüchter, in Manhattan. Nicht zu übersehen ist jedoch, zumindest in Europa, dass Fortschrittsoptimismus und Technikbegeisterung, wie sie Sherlocks Fälle noch grundierten, auf den Schlachtfeldern in Frankreich oder Flandern zerschellt sind – Belgien, das erste Opfer deutscher Aggression, ist nicht zufällig das Heimatland von Agatha Christies Hercule Poirot, der im britischen Exil erstmals 1920 tätig wird.
Er beruft sich nicht mehr wie Sherlock auf „seine Methode“, sondern auf seine neurobiologische Ausstattung: die ominösen „kleinen grauen Zellen“. Seine Lösungen sind rhetorisch inszeniert: kleine Enthüllungsdramen im Salon. Wichtiger als der Weg zur verborgenen Wahrheit ist da schon, bei aller Finesse von Christies Mordrätseln, die sozialpsychologische Wirkung.
Denn es geht jetzt vor allem darum, das Weltvertrauen im Kleinen wieder zu stärken, das vom Großen Krieg so tief erschüttert worden war. Dazu müssen Störungen des sozialen Lebens beseitigt oder gesühnt werden, wie es später der Anthropologe René Girard beschreiben wird: durch Ausstoßung des oder besser: eines Störenfrieds als Sündenbock. Denn natürlich hatte jeder Gast im Landhaus einen Grund, den Hausherrn umzubringen, aber getan hat es doch nur einer (oder öfters mal ein kriminelles Pärchen). Es folgt allgemeines Aufatmen und Sherry in der Bibliothek.
Auf Dauer brauchte man aber doch neuartige Ermittlerfiguren, nennen wir sie einfach „the normal ones“. Zu ihnen gehört schon Christies Miss Marple, die ihre Fälle auf der Grundlage teilnehmender Beobachtung mit einer ganz eigenen Hermeneutik der Lebenswelt löst: So wie im Hühnerhof geht es auch im Dorf zu, und nicht anders in London, also in der großen Welt. Jenseits des Kanals aber waltet Jules Maigret seines Amtes, anfangs Streifenpolizist auf dem Vélo, schließlich Hauptkommissar und Chef der „brigade speciale“, seinem Habitus nach ein Kleinbürger ohne jede Exzentrik, ein sympathischer Spießer mit Sinn für prekäre Existenzen, eine kinderlose Vaterfigur auch noch für diejenigen, die er ihrer Bestrafung zuführt – was leicht vergessen lässt, dass er faktisch ein höherer Staatsbeamter mit beträchtlichen Machtmitteln ist. Ganz ähnlich der namenlose Commissaris von Janwillem van de Wetering, heute zu Unrecht fast vergessen, oder Kommissar van Veeteren in Håkan Nessers fiktivem Maardam. Auch an Wachtmeister Studer wäre zu denken, den Friedrich Glauser ja wirklich nach Paris schickt, um dort den berühmten Kommissar zu treffen, wie er auch sonst aus seiner Bewunderung für den großen Georges Simenon kein Geheimnis macht. Zwiespältiger sind die Kommissäre bei Dürrenmatt, der hier auch nur erwähnt sei, weil er die Plots für zwei seiner vielgerühmten Krimis einfach bei Simenon abgekupfert hat.
Wie der Detektiv als einigermaßen lebensechte Figur mit den Zumutungen seiner Tätigkeit zurechtkommt, oder eben nicht, ist eine Frage, die in den letzten Jahrzehnten an Brisanz gewonnen hat. Vor allem wenn es um Polizeibeamte geht, die – auch auf Kosten ihres Privatlebens – mit alltäglicher Überlastung und bürokratischen Strukturen, insbesondere mit wenig hilfreichen Vorgesetzten oder rivalisierenden Diensten zu kämpfen haben. Aber schon bei den hartgesottenen und whiskygestärkten „private ops“ im Amerika der 1930er und 40er Jahre zeichnete sich das Problem ab. Dass Philip Marlowe und seinesgleichen – im Rückgriff auf den amerikanischen Ursprungsmythos vom Retter der Schutzbedürftigen – meist als untadelige Ehrenmänner und einsame Helden erscheinen, ist wesentlich ein paar griffigen Formulierungen seines Schöpfers Raymond Chandler zu verdanken, der seiner Heldenfigur zumindest programmatisch eine quasi-religiöse, „erlösende“ Funktion in einer gottverlassenen und korrupten Welt zuschreibt.
Einer, den man fast Chandlers Nachbarn nennen könnte, damals nach 1941 in Santa Monica, der ihn aber so wenig schätzte wie die hardboiled school insgesamt, der lebenslang krimisüchtige Bertolt Brecht, sah die Sache ganz anders: Diese „hardboiled men“ seien „hochtourige Kleinbürger“, schreibt er in sein Arbeitsjournal, „ausgepowerte“, von „rationalisierung“ und „arbeitslosigkeit bedrohte, mit letzter kraft rivalisierende arme teufel“, die sich als „kraftmeier“ inszenieren, „daß die bühne bricht“.
Das könnte man als eines von Brechts hemdsärmeligen Urteilen abtun; es gewinnt aber an historischer Triftigkeit, wenn wir uns vor Augen halten, dass die Wurzeln nicht nur von Chandlers Krimis bis in die 1930er Jahre der großen amerikanischen Depression zurückreichen; Dashiell Hammets erster Roman „Rote Ernte“ erscheint 1929, im Jahr des katastrophalen Börsencrahs. Heute aber könnten wir, von der Kraftmeierei mal abgesehen, Brechts Bemerkung auch schon als Charakteristik all der – meist männlichen – Ermittler lesen, die seit einigen Jahrzehnten an uns vorbeiziehen: zermürbt vom endlosen Kleinkrieg gegen das Verbrechen, oft vom Burnout bedroht, mit den Tücken der Polizeihierarchie kämpfend, depressiv oder alkoholabhängig, glücklos in der Liebe, auf den Trümmern ihres Familienlebens, oft mit der eigenen Tochter in Sprachlosigkeit oder Dauerclinch verquickt – und bei all dem immer noch nicht bereit zur Kapitulation.
Nennen wir es ruhig das „Wallander“-Syndrom, wohl wissend, dass es nicht nur Henning Mankells Kommissar in Ystadt betrifft, der freilich fast schon als Klassiker überdauert, sondern auch Ian Rankins Inspector Rebus in Edinburgh, oder Kaptein Bennie Griessel in Deon Meyers Kapstadt, und in New York den Detective Billy Graves von Richard Price – aber auch soundsoviele Serien- und „Tatort“-Helden samt Ruhrgebiets-Kraftmeier Schimanski, er ruhe in Frieden.
Nicht ästhetische Abgrenzung, sondern soziale Abnutzung ist ihrer aller Markenzeichen, womit sie nur einen besonders prägnanten Fall des arbeitenden Menschen (oder doch eher Mannes?) am Ende des 20. Jahrhunderts bilden (so wie die sensiblen Künstlernaturen, von Malte bis Hanno, an seinem Beginn ein kulturelles Krisengefühl auf der Kehrseite des Fortschritts verkörperten). Und diese Kriminalgeschichten sind damit, was in ihrer Reinform, auch mangels lektürestimulierenden Thrills, nicht überlebensfähig war: eine Art „Literatur der Arbeitswelt“.
Dass auch diese Ermittler längst ein Rollenklischee bedienen, steht außer Frage und hat jüngst einen Kritiker zu dem Stoßseufzer gebracht: Nicht „noch ein nordischer Ermittler mit Seelenknacks“! Der junge Mann blieb uns dann, sex- und tablettensüchtig, in der TV-Krimiserie „Die Brücke“ nicht erspart; weit interessanter war jedoch seine Kollegin Saga Norén, deren Asperger-Syndrom – mangelhafte Empathie bei außerordentlichen kognitiven Fähigkeiten – natürlich an ihre schwedische Landsfrau Lisbeth Salander erinnert, die freiberufliche Hackerin aus Stieg Larssons „Millenium“-Trilogie. Sind es nur „abnorme“ Qualitäten, die der Perversion des Verbrechens standhalten und es besiegen können? Das könnte man vermuten – erst recht, wenn sich zeigt, dass die mentale Devianz bei beiden Frauen frühe lebensgeschichtliche Traumata, einen Schuldkomplex bzw. eine Missbrauchserfahrung verdeckt haben. Auf geradezu paradoxe Weise wirkt die seelische und/oder körperliche Verletzung als Antrieb und Energiespeicher für den Kampf gegen das Böse oder doch die Bösen.
Und nicht nur bei den Frauen. So ist es, in einer zugegeben moderaten Variante, bei Tabor Süden, dem Münchner „Kommissar für die, die weg sind“. Dass er seinen „eigenen Vater nicht finden kann“ steht als Motto vor jedem der knapp zwanzig Bändchen dieser Reihe aus der Feder Friedrich Anis. Als dies unverhoffte Wiedersehen dann doch noch eintrifft, neigt sich auch die Serie dem Ende zu.
Weit entfernt und long ago, im Südafrika der 1950er Jahre, so beschreibt es jedenfalls Malla Nunn, wird Detective Sergeant Emmanuel Cooper in nächtlichen Panik-Attacken von seinem Kompanieführer aus der Schlacht in den Ardennen (Herbst 1944) heimgesucht. Eben der gibt ihm dann einen ‚Befehl’, der – im Zusammenspiel mit der Schwarzen Magie, die sein eingeborener Constable Shalalababa bemüht – den rätselhaften Fall der ermordeten Zulu-Prinzessin im Tal des Schweigens“ lösen hilft. (Was uns wiederum daran erinnert, dass bereits in den frühen 1920er Jahren Dorothy Sayers’ aristokratischer Hobbyermittler Lord Peter Wimsey von einer posttraumatischen Belastungsstörung gepeinigt wird, damals kurz und anschaulich „shell-shock“ genannt, nachdem er im Ersten Weltkrieg unter deutschem Artilleriefeuer verschüttet wurde.)
Oder denken wir an Hackberry Holland, den knorrigen alten Sheriff in seinem desolaten Landstrich an der Grenze von Texas und Mexiko. Ihn überfallen Nacht für Nacht die Angstträume aus der Strafzelle im koreanischen Gefangenenlager; sein junger Helfer kehrt zerrüttet aus Afghanistan zurück. So stellen sie – gewissermaßen auf Augenhöhe – den psychotischen Massenmörder, der sich blasphemisch „Preacher“ nennt. Erledigen muss ihn, der sich für einen gottgesandten Säuberungsengel hält und neben seinem Mutterkomplex auch eine seltene Allergie hat, eine mutige Frau – mit Cookies und peanut butter: Ein Hoch auf die amerikanische Hausfrau!
Jenseits aller Genderfragen erzählt James Lee Burke, der größte lebende Epiker der Kriminalliteratur, unter dem Titel „Regengötter“ nicht weniger als eine Traumageschichte der USA in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Kaum zu glauben, aber empfehlenswert nachzulesen, dass über dem Schluss des Buchs doch noch die Stars-and-Stripes flattern.
Und wie kann es nun im 21. weitergehen? In der digitalen Ära, angesichts einer „Erschütterung aller gesellschaftlichen Zustände“, von der sich die Autoren des Kommunistischen Manifest nicht hätten träumen lassen, einer Umwälzung, die auch die beiden Grundpfeiler aller Kriminalgeschichten, das Geheimnis und seine Aufklärung, in neuer Qualität und ungeahnten Dimensionen erscheinen lässt. Denn sicherlich hat, was da vor kurzer Zeit begann, „zu beginnen noch nicht aufgehört“ (wenn man in solchem Zusammenhang Thomas Mann zitieren darf). Niemals zuvor gab es so viel Information, Transparenz und Überwachung, aber auch solche Möglichkeiten der Geheimhaltung, der Täuschung und der Konspiration, und niemals soviel technische Hilfsmittel. Fragt sich nur, wer sie beherrschen kann und wird: Der Kampf zwischen Gut und Böse, wenn dies überhaupt noch zu unterscheiden ist, läuft auf einen Wettstreit um die besseren IT-Spezialisten hinaus.
Als ein erfahrener Ermittler wie Wallander schon vor zwanzig Jahren einen ausgeflippten Junghacker brauchte, um überhaupt nur zu verstehen, welches Verbrechen da digital und global geplant war, war dies nur ein erstes Symptom. Krimis aus der neueren Produktion, nicht nur der amerikanischen, handeln inzwischen vom Drohnenkrieg oder von neurochirurgischer Persönlichkeitsmanipulation, die aber ebenso aus dem Ruder laufen kann wie elektronische Überwachungssysteme oder Computerprogramme. So war es jüngst sogar im meist immer noch biederen „Tatort“ zu sehen. Was die Frage aufwirft: Sind die Ermittler nur noch Anhängsel, Hilfsmittel ihrer technischen/digitalen Instrumente und Prozeduren? Sind sie deren Möglichkeiten überhaupt gewachsen?
Es liegt in der Logik des von Anfang an als „modern“ und zeitgemäß definierten Genres Krimi, dass es sich heute für Probleme und Ideen öffnet, die man früher dem „Zukunftsroman“ zugewiesen hätte. Inzwischen ist schon fraglich, ob solche Fiktionen noch mit den Fakten der Gegenwart Schritt halten könnn. Trotz und inmitten einer nie gekannten Konjunktur könnte sich das Ende des Krimis abzeichnen, wie wir ihn kennen. Zumindest ist fraglich, ob der Detektiv, dieser letzte Individualist aus dem literarischen Figurenkabinett des 19. Jahrhunderts, der sich bisher so wandlungs- und anpassungsfähig gezeigt hat, auch diese Zeitenwende überstehen kann – oder abgelöst wird: von einer Denkmaschine 2.0?
Seine Aussichten stehen jedenfalls schlecht und wir möchten nicht hoch darauf wetten, dass er davon kommt. Aber bekümmert sind wir schon.
Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen