Der Dichter Ernesto Cardenal ist gestorben
Ein Nachruf
Von Hermann Schulz
Die Meldung vom Tod des Dichters Ernesto Cardenal am 1. März ging durch die Weltpresse; es erschienen zahlreiche Würdigungen. Als sein Freund und Verleger seit über 34 Jahren fällt es mir schwer, diesen Würdigungen noch Brauchbares hinzuzufügen.
Ich traf ihn zuerst 1969. Da war ich ein junger engagierter Verleger, der jeden seiner Autoren persönlich kennenlernen wollte. Ich hatte die Psalmen-Nachdichtungen Cardenals herausgebracht, zum Erstaunen des Marktes mit erheblichem Erfolg. Das kleine Buch Salmos war in Medellin/Kolumbien erschienen, ich brauchte fast ein Jahr, bis es endlich gelang, den Kontakt zum Dichter herzustellen und einen Vertrag zu schließen.
Also reiste ich, ohne ein Wort Spanisch zu sprechen, nach Nicaragua. Die Umstände, von Managua auf die Solentiname-Inseln zu gelangen, wo Cardenal einige Jahre zuvor eine christliche Gemeinschaft gegründet hatte, waren abenteuerlich – mit Spuren, die in die Gegenwart weisen: Zum Flughafen kam, da sie Englisch sprach, die Sekretärin der Tageszeitung La Prensa, Rosario Murillo, heute schlechtbeleumundete Vizepräsidentin des Landes, Ehefrau von Daniel Ortega, der sich in den letzten Jahren mehr und mehr zu einem Diktator entwickelte.
Acht Monate nach dem schrecklichen Erdbeben Weihnachten 1972 kam Cardenal im Sommer 1973 auf Einladung des Peter Hammer Verlages, den ich bis 2001 leitete, zu einer ersten Lesereise nach Deutschland. Seine Auftritte wurden zu Informationsveranstaltungen und Abrechnungen mit dem Somoza-Regime Nicaraguas, das Publikum lernte einen Autor kennen, der zugleich Dichter, Theologe, Mystiker und politisch kämpferischer Kopf war. Insgeheim war Cardenal da schon Mitglied der FSLN (Sandinistische Front der nationalen Befreiung), deren führende Köpfe den Aufstand vorbereiteten, der dann im Juli 1979 zum Umsturz führte. Die FSLN gründete eine neue Regierung mit weitreichenden Ambitionen: Landreform, Gesundheitsreform, Alphabetisierung, die von Ernestos Bruder, dem Jesuiten Fernando Cardenal geleitet wurde. Ein Land im Aufbruch mit großer Anziehungskraft auf die Jugend in aller Welt. Cardenal wurde Kulturminister.
Im Herbst 1979 kam er als Minister nach Deutschland. Weil die neue Regierung die Botschaft noch nicht besetzt hatte, organisierte ich seine Termine und begleitete ihn 12 Tage. Unvergesslich, seine Gespräche mit den Theologen Heinrich Albertz, Helmut Gollwitzer und Kurt Scharf über das Recht zum Widerstand, über Camilo Torres und Dietrich Bonhoeffer.
In der GRUGA in Essen fand in jenen Tagen ein Solidaritätskonzert für Lateinamerika statt, wo Cardenal auftreten würde. Im Raum für die Künstler saß auch der Schauspieler Dietmar Schönherr, ich machte ihn mit Cardenal bekannt. Daraus wurde eine lebenslange Freundschaft, die zur Gründung der Organisation ‚Pan y arte‘ führte und zu einem der schönsten Kulturzentren Zentralamerikas, der ‚Casa de los tres mundos‘ in Granada am Großen See von Nicaragua. Und vieles mehr, u.a. eine gut ausgestattete Bibliothek.
1980 erhielt der Dichter den Friedenspreis des deutschen Buchhandels in der Frankfurter Paulskirche; 2017 wurde ihm die Ehrendoktorwürde der Bergischen Universität Wuppertal verliehen.
Die internationalen Auszeichnungen sind eine Liste ohne Ende.
Nach sieben Jahren verließ Cardenal sein Amt als Kulturminister, durchaus nicht freiwillig! Er verließ auch die FSLN unter Protest wegen Machtmissbrauch und Vernachlässigung der ethischen Ziele, mit denen die Revolution einmal angetreten war. Andere Intellektuelle wie Sergio Ramirez, zeitweise Vize-Präsident der Regierung, dann die weltbekannte Autorin Gioconda Belli und viele andere folgten dem Beispiel.
Seit 2007 entwickelte sich unter Daniel Ortega und seiner Frau Rosario Murillo nach und nach ein diktatorisches Regime, mit den Aufständen im April 2018, die bis heute nicht zur Ruhe gekommen sind und mehr als 500 Menschenleben kosteten.
Zu diesen Entwicklungen hat Cardenal nie geschwiegen, weder im Lande selbst noch im Ausland. „Sollen sie mich doch einsperren!“, sagte er lakonisch.
War Ernesto Cardenal in den ersten Jahren nach dem Sieg das intellektuelle Aushängeschild der Revolution, wurde er bald – und war es bis zu seinem Tod – einer der schärfsten Kritiker der Entwicklung unter Ortega und Murillo. Die rund 90 Solidaritätsgruppen für Nicaragua in Deutschland, die in der Zeit des Befreiungskrieges und den Anfangsjahren ihr Geld an die FSLN gegeben hatten, hatten sich da längst neu orientiert und gründeten Städtepartnerschaften. Sie finanzieren konkrete Projekte im Gesundheitswesen und im Bildungsbereich.
Die Wirkung, die ein Dichter durch sein Werk hat, ist auch im Fall Ernesto Cardenals nicht leicht abzuschätzen; solche Wirkungen liegen nicht unbedingt auf einer politischen Ebene. Cardenal hat eine Vision vermittelt, geprägt von Gewaltlosigkeit, Eintreten für die Ärmsten der Armen und der Nächstenliebe. Nicht selten nannte er sich einen Kommunisten und sah in den Lehren des Neuen Testaments eine große Nähe zu denen von Marx und Engels. Dass der Vatikan ein Jahr vor seinem Tod sein Priesteramt neu bestätigte, dass ihm 1985 aberkannt wurde, gehörte für ihn zu den glücklichsten Stunden des Alters.
Bis in unsere Tage übt er eine starke Wirkung aus auf alle Generationen; selten fand eine seiner Lesungen mit weniger als 500 oder mehr Besuchern statt. Bei den Älteren weckte er bei seinen letzten Lesungen nostalgische Erinnerung an Jugend- und Studienzeiten oder ihre Jahre in den Solidaritätskomitees.
Er war ein Dichter der Versöhnung und der Liebe. Am 1. März ist er in Managua im Kreise seiner vertrauten Freunde gestorben. Seine Urne wird am 6. März auf Solentiname beigesetzt, wo er seine wichtigste Zeit verbrachte und das große Werk Gesänge des Universums schrieb. Es war sein Wunsch, neben den schon verstorbenen oder im Kampf gefallenen ‚Compañeros‘ von Solentiname beigesetzt zu werden.