Der Schädel in der Karte

500 Jahre „Utopia“ von Thomas Morus

Von Rolf SchönlauRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Schönlau

Thomas Morus (engl. Thomas More) wurde 1478 als Sohn eines Anwalts und Richters in London geboren, legte 1501 sein juristisches Examen ab, war Rechtsanwalt und Parlamentsmitglied, machte ab 1510 eine steile Karriere am Hof von König Heinrich VIII. und bekleidete die höchsten politischen Ämter. Der entschiedene Gegner der Reformation wurde 1529 zum Lordkanzler ernannt und trat drei Jahre später von seinem Amt zurück, als Heinrich VIII. mit dem Papst brach, nachdem dieser sich geweigert hatte, seine Ehe mit Katharina von Aragón zu annullieren. Da der streng katholische Morus ablehnte, dem König als selbst ernanntem Oberhaupt der anglikanischen Kirche den Suprematseid zu leisten, wurde er 1535 wegen Hochverrats auf dem Schafott hingerichtet. 1886 erfolgte Morus‘ Seligsprechung, 1935 die Heiligsprechung und 2000 seine Ernennung zum Schutzpatron aller Regierenden und Politiker.

Als Kenner der lateinischen und griechischen Klassiker beteiligte sich Thomas Morus am philosophischen Diskurs seiner Zeit. Auf Anregung seines Humanistenfreundes Erasmus von Rotterdam veröffentlichte er 1516 in der flämischen Universitätsstadt Löwen die Beschreibung des fiktiven Inselreichs Utopia. Der vollständige Titel des genrebildendes Werkes, das 1581 von der römischen Inquisition auf den Index verbotener Bücher gesetzt wurde, lautet: „De optimo reip. [rei publicae] statu, deque nova insula Utopia“ (Vom besten Zustand des Staates oder von der neuen Insel Utopia).

Das in Latein verfasste Werk besteht aus einer Vorrede mit Widmung an den Humanisten und Antwerpener Verleger Petrus Aegidius (nl. Pieter Gillis), dem ersten Buch mit einem humanistischen Dialog über die bestehenden Missstände in England als Rahmenhandlung sowie dem zweiten Buch mit der eigentlichen Beschreibung der Inselreichs Utopia durch den fiktiven Erzähler Raphael Hythlodeus.

Kritisiert am zeitgenössischen England werden vor allem die maßlos überhöhten Staatsausgaben für Armee und Kriegführung, die ungerechten sozialen Verhältnisse, die die Armen in die Kriminalität treiben, und die Missstände in der Landwirtschaft, vor allem das sogenannte Bauernlegen. Ackerland wurde in Schafweiden umgewandelt, da sich mit der beginnenden Wollmanufaktur wesentlich höhere Einkünfte erzielen ließen als durch Verpachtung an die Bauern. Als Hauptursache und Grund allen Übels wird das Privateigentum ausgemacht, das Ungleichheit, Ungerechtigkeit und Unterdrückung zur Folge hätte.

Im fiktiven Inselstaat Utopia existiert dagegen eine egalitäre Gesellschaft ohne Geld und ohne Privateigentum – für die Arbeiterbewegung des 19. Jahrhunderts der erste sozialistische Zukunftsentwurf der Neuzeit. Besitz gilt als unmoralisch. Die gemeinsam produzierten Güter werden nach Bedarf verteilt. Die tägliche Arbeitszeit ist bei freien Sonntagen auf sechs Stunden beschränkt. Von der Arbeit freigestellt sind nur wenige hohe Priester und Forscher. Niedere Tätigkeiten werden von Sklaven und freigekauften Verbrechern aus den Nachbarstaaten erledigt.

Die Menschen leben in Gemeinschaftshäusern und essen in großen Speisehallen. Scheidung ist erlaubt, jedoch kein vorehelicher Geschlechtsverkehr. Brautleute dürfen sich vor der Hochzeit nackt begutachten. Es gibt Religionsfreiheit, auf Atheismus steht allerdings die Todesstrafe. Die wenigen Gesetze sind eindeutig und nicht verschieden auslegbar. Die Beamten werden jährlich ausgetauscht. Fremde Söldner sichern den Staat gegen Angriffe von außen. Kriege sind verabscheuenswürdig.

Zur Plausibilisierung und Veranschaulichung des Erzählten enthält das Buch nicht nur einen Beispielsatz der utopischen Sprache samt Darstellung des Alphabets mit seinen 22 Buchstaben. Der Leser bekommt auch eine Karte an die Hand, die einen topographischen Überblick über die Schauplätze der Handlung bietet. Der als Frontispiz fungierende Titelholzschnitt der Erstausgabe von 1516 zeigt eine kreisförmige Insel mit einem ringförmigen Fluss und mehreren Städten, in der Mitte, durch die Größe hervorgehoben, die Hauptstadt. Im Vordergrund segelt ein Schiff aus dem Hafen. Jemand steht an der Reling und blickt zurück auf die Insel.

Titelholzschnitt der Ausgabe von 1516

Titelholzschnitt der Ausgabe von 1516

In der revidierten Basler Ausgabe von 1518 wird diese Karte von dem Basler Künstler Ambrosius Holbein überarbeitet und mit zahlreichen Details angereichert. Nun erscheint die Insel wie an zwei Girlanden aufgehängt, die drei Kartuschen mit Ortsnamen tragen: in der Mitte Amaurotu urbs ([Haupt]stadt Amaurotus), links Fons anydri (Trockene Quelle) und rechts Ostium anydri (Trockene Mündung). Die Toponyme von Quelle und Mündung des namenlosen Flusses, der im Kreisbogen die Insel umläuft, sind Widersprüche in sich und damit utopisch im Wortsinn (gr. ou-tópos, dt. kein Ort).

Ambrosius Holbeins Utopia-Karte von 1518

Thomas Morus situiert sein Utopia in der Neuen Welt. Der fiktive Erzähler Raphael Hythlodeus (gr. hythlos, dt. leeres Geschwätz) will die Insel entdeckt haben, nachdem er als Teilnehmer der letzten Südamerikaexpedition Amerigo Vespuccis von 1503/04 mit 23 anderen Männern von Vespucci an der brasilianischen Ostküste zurückgelassen wurde, um dort eine befestigte Handelsniederlassung zu gründen. Unten links deutet Hythlodeus auf Utopia, während er der Figur neben ihm, die Züge von Thomas Morus trägt, von seinem fünfjährigen Aufenthalt auf der Insel berichtet. Der neugierige Zuhörer unten rechts hat eine gewisse Ähnlichkeit mit Darstellungen des Amerigo Vespucci, der Dreimaster erinnert an sein Schiff.

Die entscheidende Veränderung, die Ambrosius Holbein vornahm, ist die Spiegelung der Vorlage aus der Erstausgabe. Dadurch bekam die Insel eine Form, die es ihm ermöglichte, ein Bild im Bild zu schaffen. Wiederentdeckt wurde das verborgene Bild erst 487 Jahre nach seiner Entstehung durch M. Bishop, der 2005 im British Dental Journal Nr. 199 den Aufsatz „Ambrosius Holbein’s memento mori map for Sir Thomas More’s Utopia“ veröffentlichte. Darin berichtet er von seiner Entdeckung, dass in Ambrosius Holbeins Karte ein menschlicher Schädel steckt. Zahnärzte, schreibt er, seien nun einmal prädestiniert, Zähne in den unwahrscheinlichsten Zusammenhängen zu erkennen.

Das Memento mori des Totenschädels ist nicht nur als „Gedenke des Todes“ zu lesen, sondern auch als „Gedenke des Morus“. Der pun mit dem eigenen Namen soll vom Autor selbst stammen. Einem Schuldner, der sich mit der lateinischen Phrase „Memento morieris“ (Gedenke, wie werden sterben) darauf herausreden wollte, dass man nach dem Tod kein Geld mehr benötige, antwortete Thomas Morus, er meine wohl „Memento mori aeris“ (Gedenke des Morus‘ Geld). Solche Wortspiele waren unter Humanisten beliebt. So hat Erasmus von Rotterdam sein „Lob der Torheit“ nicht nur während eines Aufenthaltes bei Thomas Morus in England verfasst und seinem Gastgeber das Werk gewidmet, sondern spielt auch im lateinischen Titel „Moriae encomium“ damit, dass in „Moria“ (Torheit) auch der latinisierte Name des englischen Freundes anklingt.

Versteckte Memento-mori-Botschaften als Augentäuschungen waren im 16. Jahrhundert gebräuchlich, so auch auf einem Gemälde des berühmten Bruders von Ambrosius Holbein, Hans Holbein d.J., der 1527 auch Thomas Morus porträtierte. Im Vordergrund seines Doppelporträts „Die Gesandten“ von 1533, das die französischen Diplomaten Jean de Dinteville und Georges de Selve am Hof Heinrichs VIII. in London darstellt, ist ein schlieriges Gebilde zu sehen, das sich erst in extremer Nahsicht von rechts als Totenschädel identifizieren lässt.

Ein Beitrag aus der Mittelalter-Redaktion der Universität Marburg