Die neolithische Falle

Helke Sander erklärt die Entstehung der Geschlechterhierarchie

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Pessimistische Feministinnen gab es in der Geschichte der Frauenbewegung zwar nicht sehr viele, aber doch einige – und nicht selten zählten sie zu den klügsten und originellsten Köpfen. Man denke nur an Rosa Mayreder und ihr philosophisches Spätwerk Der letzte Gott. Jüngst reihte sich die altgediente Feministin Helke Sander in die Riege der Pessimistinnen ein, vertritt sie in ihrer letzten Publikation doch die wenig optimistische „Hypothese, dass der Verstand, der uns zu Menschen macht und mit immer neuen Erfindungen auf immer neue Herausforderungen reagierte, uns eines Tages umbringen wird, weil er vor seinen eigenen Errungenschaften und deren Folgen kollabieren muss“. Einen Ausweg aus dieser sich zwar immer höher schraubenden, jedoch letztendlich in den Abgrund führenden Spirale scheint sie nicht zu sehen. Denn die „Zerstörungskeime“ sind ihr zufolge „im Fortschritt selbst begründet“. Nur in einem Punkt scheint Sander sich ihren Optimismus erhalten zu haben. „Die Zeit der Religionen“ sei offenbar „an ihr Ende gekommen“. Das ist – bei all ihrem Pessimismus – dann wohl doch noch zu optimistisch.

Zu Beginn ihres feministischen Engagements war die damalige Studentin an der Deutschen Film- und Fernsehakademie in Berlin noch weit zuversichtlicher. Doch eine rund 50-jährige politische Erfahrung nicht nur im Ringen um Frauenrechte – an deren Anfang 1968 ihre Rede auf dem 23. SDS-Delegiertenkongress in Frankfurt und die ausbleibende Reaktion des ausschließlich männlich besetzten Podiums stand – hat ihre Hoffnungen im Laufe der Zeit  sehr gedämpft. War Sander damals noch der Auffassung, es sei möglich, die Lage der Frauen „zum Besseren zu ändern“, so hegt sie inzwischen „starke Zweifel daran, dass dies weltweit gelingen kann“.

Eigentlich befasst sich ihr persönlich gehaltener Essay, der „immer auch ein Stück Biografie“ der Autorin enthält, allerdings gar nicht mit der Zukunft der Menschen und ihrer Geschlechterverhältnisse, sondern mit deren bisheriger Entwicklung, oder genauer (und mit dem Titel des vorliegenden Buches) gesagt mit der Entstehung der Geschlechterhierarchie. Das heißt, er blickt zurück bis in die Zeit der Entstehungsgeschichte der menschlichen Spezis und umfasst „die Entwicklung und das Zusammenleben unserer Vorfahren von Affenzeiten bis in die jüngere Steinzeit“. Es versteht sich, dass die Thesen der Feministin den gängigen und zugleich (nicht nur) bei Männern beliebten Steinzeiterzählungen entgegenstehen, mit denen populäre Bücher wie etwa diejenigen des Ehepaares Pease ihrer gläubigen Gemeinde nicht nur vorflunkern, dass Männer nicht zuhören könnten und Frauen von der Aufgabe einzuparken, überfordert seien, sondern zugleich eine fiktive Steinzeit zusammenfantasieren, die erklären soll, warum dies so sei. Derlei Unsinn wurde von feministischer Seite natürlich schon öfter ad absurdum geführt, in jüngerer Zeit etwa sehr kenntnisreich in dem von Brigitte Röder herausgegebenen Ausstellungskatalog Ich Mann. Du Frau. Feste Rollen seit der Urzeit?

Aufgrund des in die Zeit vor 100.000 Jahren reichenden Mangels an Artefakten beruhen alle bisherige Theorien über die Geschlechterverhältnisse während der zuvor bereits über eine Million Jahre andauernden menschlichen Urgeschichte tatsächlich „mehr oder weniger auf Spekulationen“. Anders als nicht eben geringe Teile des wissenschaftlichen und nichtwissenschaftlichen Mainstreams verhehlt Sander nicht, dass sie ebenfalls spekuliert, doch „fügt“ sie die vorhandenen „Indizien neu zusammen“.

Nun sind spekulative Theorien eben darum, weil sie solche sind, untereinander nicht eo ipso gleichwertig. Vielmehr konkurrieren sie ebenso wie nichtspekulative Theorien hinsichtlich ihres Erkenntniswertes miteinander. Das Spektrum reicht von abenteuerlichen Erzählungen wie etwa Erich von Dänikens hanebüchenen Fantastereien über Alien-Besuche in grauer Vorzeit, die sich die dürre Faktenlage ganz nach eigenem Gusto zurechtbiegen, bis zu ernsthaften Unternehmungen, welche die wenigen aufgefundenen Puzzlesteine mit Akkuratesse und wissenschaftlicher Gewissenhaftigkeit zu einem trotz bestehender Lücken plausiblen Gesamtbild zusammenfügen. Sanders Essay ist ungeachtet mancher gewagter Spekulation zweifellos weit eher den letzteren zuzuschlagen.

Nun befasst sich das vorliegende Buch im Unterschied zu etlichen Werken ihrer feministischen MitstreiterInnen „nicht mit Genderfragen, sondern hauptsächlich mit den Folgen, die biologische Veränderungen zur Menschwerdung beigetragen haben“. Auch gibt die Autorin nicht etwa einer grundsätzlichen „Bösartigkeit der Männer“ die Schuld an der Entstehung der Geschlechterhierarchie (was im Übrigen schon seit längerem kaum eine Feministin mehr tut), sondern erklärt, diese sei vielmehr durch den Fortschritt selbst evoziert, der wiederum „zunächst weitgehend durch Frauen verursacht“ worden sei. Denn Sander zufolge ist die Menschheitsgeschichte nicht wie noch der Ahnherr des sich selbst als wissenschaftlich verstehenden Sozialismus, Karl Marx, glaubte, beweisen zu können, eine von Klassenkämpfen, sondern eine „Geschichte von Problemlösungen“, welche die „Menschheitsentwicklung“ auch allererst in Gang setzten.

Die Autorin gründet ihre Überlegungen zur Entstehung der Geschlechterhierarchie auf vorkulturelle biologische Unterschiede zwischen den Geschlechtern und vertritt die These, dass Frauen „prägend an der Umwandlung vom Tier zum Menschen teilgenommen und die Grundlagen für die ersten sozialen Beziehungen gelegt“ haben. Diese Vorreiterrolle greift sie nicht etwa aus der Luft, sondern argumentiert, dass „die Frauen aus biologischen Gründen der Motor der Entwicklung waren“, weil sie sich durch Schwangerschaft und Mutterschaft gezwungen sahen, Lösungen für nur sie betreffende Probleme zu finden, die schließlich eine „Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern“ in Gang setzte, wenngleich damals von Arbeit im heutigen Sinn noch lange nicht die Rede sein konnte. Eine initiale Rolle spielte dabei der „Fellverlust in der Zeit vor 1,6 bis 1,2 Millionen Jahren“. Er bot Sander zufolge zwar evolutionäre Vorteile, etwa indem nun Transpiration möglich wurde. Für die Frauen brachte er allerdings auch Nachteile mit sich. Hatten sich die über einen längeren Zeitraum unselbständig bleibenden Kleinkinder bislang an ihrem Fell festklammern können, so mussten die Mütter sie nun tragen, was die Frauen bei der Nahrungssuche behinderte, da sie nur noch unter größeren Mühen Früchte und Nüsse von den Ästen pflücken konnten. „Frauen waren einfach gezwungen, ihre Hirne zu entwickeln, um zu überleben“, erklärt Sander. Sie „lösten“ den Überlegungen der Autorin zufolge „das Problem“, „indem sie lernten, elastische Zweige oder Gräser so zu flechten, dass sie dem Kind auf Rücken oder Bauch einen Halt geben konnten und so weiterhin beide Arme frei hatten.“ Von dieser sich so entwickelnden weiblichen Intelligenz „profitierten auch die Männer“, indem sie sie von ihren Müttern erbten.

„Frauenkörper“ waren auch aus anderen Gründen „mehr als nur Körper. Sie waren Erkenntnisquellen.“ Denn Menstruationszyklus und Schwangerschaft trugen der Autorin zufolge ebenfalls ganz wesentlich zur kulturellen Entwicklung bei. Auch ihnen ist gemeinsam, dass sie „die Bewegungsfähigkeit einzuschränken“ vermögen. Während „Männer ohne Kinder auf Rücken oder Bauch weiter laufen“ und neue Gebiete erschließen konnten, bevorzugten sie es daher, möglichst an Ort und Stelle zu bleiben. So „lernen Frauen allmählich die Möglichkeiten“ zu erkennen, die bestimmte Orte bieten, etwa „dass sich aus den Kernen einer Frucht ein neuer Trieb“ entwickeln konnte, wenn die Erde fruchtbar war. Mit dieser Erkenntnis war der Grundstein für zukünftigen Ackerbau gelegt. Die Menstruation stand zudem „am Anfang aller Mathematik“ und „aller Kalender“. Da „Menstruierende, Schwangere und Frauen mit kleinen Kindern sich nicht so gerne bewegten wie Männer und lieber an einem Ort blieben“, nimmt Sander weiter an, „dass es Frauen waren, die anfingen, natürlich entstandenes Feuer zu hüten“, womit ihnen eine besonders wichtige Aufgabe in den kleinen Menschengruppen zufiel und sie „fast automatisch noch mehr zum natürlichen Mittelpunkt einer Gruppe“ wurden. Da die Hüterinnen der Flamme sich nicht zugleich auf Nahrungssuche oder auf die Jagd begeben konnten, entstand mit der Nutzung des Feuers der Tausch als „systematische Handlung“, „etwas abzugeben, um dafür etwas anderes zu bekommen“, und zwar, wie Sander annimmt, zunächst „zwischen Frauen – und nicht zwischen Frauen und Männern“. So entwickelte sich „zum ersten Mal eine Organisation“, „die ein Leben in einem sozialen Gefüge langfristig begründete“.

Die erst später entwickelte „Großwildjagd“ wiederum „ließ Männer aufsteigen“ und die bis dato „allein durch ihre Gebärfähigkeit ausgezeichneten Frauen, die schon eine gewisse Kommunikation untereinander entwickelt hatten, erhielten peu à peu ein soziales Gegengewicht“ und „es entstanden so erste, nicht mehr über Sex vermittelte Beziehungen zwischen Frauen und Männern, die Anfänge gegenseitiger Handelsbeziehungen“.

Die sich nun entwickelnden „Methoden gegenseitiger Verpflichtung“ zwischen den Geschlechtern „schufen die Grundlagen dafür, was später als Arbeit und Arbeitsteilung bezeichnet wurde“. Denn „die Viehzucht ermöglichte es nun, größere Menschengruppen verlässlich (wie man meinte) zu ernähren“. Sander vermutet, dass „das Ende der Egalität der Geschlechter“ somit im Neolithikum seinen Anfang nahm, da sich die geschlechtliche Aufgabenteilung erst in dieser menschheitsgeschichtlich sehr jungen historischen Phase zur Arbeitsteilung hin verwandelte und sich „absichtslos“ hierarchisch gestaltete. Dies und die nunmehr zunehmende Bedeutung körperlicher Kraft hoben den „Status der Männer“ weiter an. Mit Viehzucht und Ackerbau entstand zudem vererbungswürdiger Besitz. „Vaterschaft wurde nun wichtig“ und es galt, „sich der Loyalität der Söhne zu versichern“. An Stelle der bisher matrilinear organisierten Generationenfolge trat nunmehr die patrilineare. Seither unternehmen Frauen „immer wieder mannigfaltige Versuche“, „sich aus der neolithischen Falle heraus zu ziehen“.

Beweisen lässt sich das – abgesehen von den anhaltenden weiblichen Emanzipationsbestrebungen – natürlich alles nicht. Das ist die große Gemeinsamkeit mit konkurrierenden spekulativen Theorien. Anders als manch andere aber hat Sander eine in sich weitgehend stimmige Geschichte voller origineller und interessanter Überlegungen – und vor allen Dingen ohne Zirkelschlüsse – vorgelegt, die, wenn auch vielleicht nicht in jedem Detail überzeugend, so doch zumindest insgesamt diskutabel ist. Und nebenbei gesagt ist sie auch angenehm lesbar geschrieben.

Titelbild

Helke Sander: Die Entstehung der Geschlechterhierarchie. Als unbeabsichtigte Nebenwirkung sozialer Folgen der Gebärfähigkeit und des Fellverlusts.
Verlag Zukunft & Gesellschaft, Berlin 2017.
215 Seiten, 26,90 EUR.
ISBN-13: 9783000556524

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