Endoskopie als literarisches Prinzip

Raphaela Edelbauers Roman „Das flüssige Land“ erkundet das Spannungsfeld von Raum und Gedächtnis

Von Nick CichonRSS-Newsfeed neuer Artikel von Nick Cichon

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Knapp ein Jahr vor dem Erscheinen von Das flüssige Land gelang es Raphaela Edelbauer, mit einem kleinen Auszug das Publikum bei den 42. Tagen der deutschsprachigen Literatur 2018 in Klagenfurt zu begeistern, und sie erhielt dafür den BKS-Publikumspreis. Schon wenige Wochen nach der Veröffentlichung des Romans schaffte sie es im Sommer 2019 auf die Shortlist des Deutschen Buchpreises. Bei der Lektüre des Buches wird schnell klar: Der Erfolg ist begründet.

Die theoretische Physikerin Ruth schreibt gerade an ihrer Habilitationsschrift, als sie vom plötzlichen Tod ihrer Eltern erfährt. Um die Beerdigung zu organisieren, macht sie sich auf die Suche nach dem Dorf Groß-Einland, dem Geburtsdorf ihrer Eltern und Großeltern; aus Erinnerungen weiß sie, dass sie dort beerdigt werden wollen. Die Suche gestaltet sich schwieriger als gedacht, denn das Dorf ist weder auf Landkarten noch in den Archiven des Kommunalamtes verzeichnet. Ruth bleibt nichts anderes übrig, als den Ort mit Hilfe der wenigen Bruchstücke ihres eigenen Gedächtnisses und der vielen Erzählungen ihrer Eltern zu lokalisieren. Über eine Vielzahl von beinahe magischen Zufällen findet sie endlich den abgelegenen und märchenhaft gestalteten Ort Groß-Einland und muss dort – aufgrund einer Autopanne – für einige Zeit verweilen. Im Ganzen wird Groß-Einland als höchst sonderbares Dorf beschrieben, das nicht nur örtlich von der restlichen Welt abgegrenzt ist, sondern auch zeitlich transzendiert scheint: Die Zeit im Dorf verläuft langsamer.

Auf ihrer Reise widerfahren der Protagonistin traumartige, oft surreal anmutende Ereignisse. Dabei bleibt immer unklar, inwiefern diese wirklich eintreten oder das Resultat des psychischen Zustands der Physikerin sind: Mit Ruths Neigung zu Antidepressiva, Schlafmitteln und starken Opioiden stellt der Text regelmäßig systemreferentielle Bezüge zum Genre der Phantastik her. Als Eternalismus-Forscherin experimentiert sie, geleitet von ihren physikalischen Überzeugungen, mit ihrer eigenen Zeitwahrnehmung und verliert angesichts häufiger epiphanischer Erfahrungen ihren eigenen chronobiologischen Rhythmus. Ihre im Text nur nebensächlich geschilderten Selbstexperimente verweisen so immer wieder auf den Medizin-Nobelpreis des Jahres 2017, bei dem drei US-Wissenschaftler für die Erforschung der ‚Inneren Uhr’ von Lebewesen ausgezeichnet wurden.

Edelbauers Erzählstil ist geprägt von einer naturwissenschaftlichen, beinahe peniblen Genauigkeit und einer irritierend nüchternen, hypotaktischen Gestaltung. So lautet der erste Satz des Romans: „In den frühen Morgenstunden des 21. September 2007 verschüttete ich rund 200 ml Kaffee über meinem penetrant klingelnden Handy, das mich, von einer unterdrückten Nummer zutiefst erschüttert, so plötzlich zum Abheben aufforderte, dass ich keine Zeit hatte, die Tasse abzustellen“. Die Begriffe „verschütten“ und „erschüttern“ sind hier keineswegs zufällig gewählt, denn der ganze Roman bedient sich nahezu ununterbrochen einer petrologisch-geologischen Metaphorik, die nicht selten an barocke Bilderkataloge erinnert. Doch der von Edelbauer mit mathematischer Präzision konstruierte Raum, in dem die Protagonistin ihre vergangenheitsorientierte Irrfahrt erlebt, bildet nur eine allegorische Rahmung für eine verschüttete Vergangenheit, die Erdschicht für Erdschicht aufgearbeitet wird.

Passend zur sprachlichen Gestaltung erstreckt sich ein Erdloch unter der Gemeinde Groß-Einland, das dem sonst so konservierend-abgeschotteten Ort tagtäglich die eigene Vergänglichkeit vor Augen hält: Über Jahrzehnte schon sinkt die Erde unter Groß-Einland Jahr für Jahr einige Zentimeter ab und dem Dorf droht die Zerstörung. Zunächst wird das Loch als Symbol eines vermeintlich kulturellen Verfalls beschrieben: „Das Loch. […] Es wächst. Wir dachten zuerst, es sei nur auf dem Gebiet zwischen Kirche und Kulturverein so schlimm, also vor 20 Jahren. Aber jetzt hat das Rathaus ebenfalls Risse, überall, im Verputz, im Parkett, alle Renovierungen sind mittlerweile rein kosmetisch“.

In Groß-Einland angekommen, wird Ruth von einer mysteriösen Gräfin, die über das Dorf regiert, zur Geologin umdefiniert; sie bekommt den Auftrag, bei der Sicherung des Loches zu helfen und ein weiteres Absinken des Bodens zu verzögern. Bei einem Festessen am Hof der Gräfin wird klar, dass es sich bei der Gemeinde um eine in hohem Maße anachronistische Aristokratie handelt, die ihrem Niedergang entgegensieht. Als plakatives décadence-Narrativ erinnert das Bankett der Gräfin an die letzte Abendgesellschaft der Marchesa Montetristo in Wolfgang Hildesheimers Erzählung Das Ende einer Welt.

Je länger Ruth in Groß-Einland verweilt, desto tiefer gräbt sie sich in die verschüttete und mit dem Nationalsozialismus in Beziehung stehende Geschichte des Dorfes und erkennt: Hier werden soziale Strukturen konserviert, um die historischen Ereignisse, die das Loch in sich sammelt, zu verdecken: Neben jahrhundertelangem Raubbau fungierte das Loch beispielsweise während des Zweiten Weltkrieges als Munitionsfabrik und Konzentrationslager. Die Aufbereitung der Geschichte scheint durch die verschleierte Erinnerungskultur immer instabiler zu werden: „Das Loch hatte also eine klar umrissene Biographie, an die zu rühren sich niemand scheute, nur dass das gesamte poröse, wabenartige Land unter dieser Berührung zu zerfallen drohte.“

Die elitär-aristokratische Fassade des Dorfes dient als temporale Blende: Die Gegenwart wird „gebildet von einem dreisekündigen Raum, der wie eine mitgetragene Barriere die Sicht auf den Fluss der Zeit versperrt“. Mit den endoskopischen Mitteln, mit denen Ruth die geologischen Gegebenheiten des Loches erforscht, holt Edelbauer Stück für Stück die verdrängte Geschichte des Ortes ans Licht: Die Erinnerungsarbeit der Gemeinde wird so als geologische Praxis lesbar.

Das flüssige Land verspricht eine spannende Lektüre mit nur sehr wenigen Längen. Die gelungene Verflechtung mehrerer Zeitebenen regt – in Verbindung mit der semantischen Fülle von Edelbauers Sprache – zwar oft zum Nachdenken an, insgesamt bleibt der Text jedoch an manchen Stellen recht oberflächlich und verweigert sich konkreter (zeit)philosophischer Aussagen. Die streckenweise großartigen Allegorien dürften die Leserinnen und Leser aber gut darauf vorbereiten, selbst ihre Schlüsse zu ziehen.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Raphaela Edelbauer: Das flüssige Land. Roman.
Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2019.
350 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783608964363

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