Von der Expressionismus-Debatte zum „post-expressionistischen Film“

Kristin Eichhorn und Johannes S. Lorenzen geben regelmäßig erscheinende Aufsatzsammlungen zu expressionistischen Themen heraus

Von Konstantin KountouroyanisRSS-Newsfeed neuer Artikel von Konstantin Kountouroyanis

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

100 Jahre nach dem „expressionistischen Jahrzehnt“ haben Kristin Eichhorn und Johannes S. Lorenzen den Auftaktband zu ihrer Expressionismus-Reihe im Neofelis Verlag mit der Nummer 1/2015 Expressionismus – Künstlerkreise: Expressionismus herausgegeben. Noch im selben Jahr erschien der zweite Band im Taschenbuchformat unter dem Titel Expressionismus – Der performative Expressionismus. Was mit einiger Skepsis bezüglich Erscheinungsdauer und Modus des Bandes in Fachkreisen zur Kenntnis genommen wurde, entwickelte sich schnell zu einem regelmäßigen Publikationsmedium, in dem auch zu einem Call for Papers am Ende des jeweiligen Heftes aufgerufen wurde. Zwischenzeitlich sind in der Reihe u. a. die Themenbände Der Sturm und Die Aktion (5/2015), Expressionismus-Debatte(n) (7/2018) und Internationaler Expressionismus – gestern und heute (17/2023) erschienen. Das nächste Heft wird nach Auskunft der Verlags-Homepage in der zweiten Jahreshälfte 2023 erscheinen. Ein Call for Papers steht dort auch zu dem geplanten Hefttitel Tierstudien – Person und Persönlichkeit 25/2024 (Deadline für Beitragsangebote: 15.07.2023).

Grund genug, sich einen der bereits erschienenen Bände exemplarisch näher anzusehen und zu besprechen. Die Wahl fiel auf den Band 7/2018 Expressionismus-Debatte(n), dessen Titel an das Wortgefecht zwischen Klaus Mann, Bernhard Ziegler (Alfred Kurella), Herwarth Walden, Ernst Bloch, Georg Lukács und zahlreichen anderen zeitgenössischen Autor:innen erinnern soll und deren Kontroversen hauptsächlich in der Moskauer Exil-Zeitschrift Das Wort ausgetragen und von Hans-Jürgen Schmitt im Band Die Expressionismusdebatte – Materialien zu einer marxistischen Realismuskonzeption 1973 zusammengetragen wurden.

Der von Eichhorn und Lorenzen herausgegebene Band enthält Beiträge von Kristopher Imbrigotta, Benjamin Voß, Gregor Langfeld, Julie Crombois, Uwe Czier und Thomas Zenetti und widmet sich kapitelhaft den Themen „Vom Expressionismus zu Hitler: Die Expressionismus-Debatte von 1938/39 und ihre berühmte These“, „Internationale Expressionismus-Debatten“ sowie „Der Expressionismus und seine Ränder“.

Kristopher Imbrigotta untersucht in seinem Beitrag „Brecht, Lukács, Seghers. Zur Kunst der Polemik in der Realismusdebatte“ eben die zuvor genannte Auseinandersetzung im Wort, fokussiert aber seine Untersuchung auf die drei Autor:innen und ihr argumentatives Verhältnis zueinander. Imbrigotta kehrt die „Art und Weise der Kritik“ heraus, die „in den zahlreichen Essays, Abhandlungen und Briefen“ vorherrschend war, und „die den Literaturbegriff des Realismus zwischen den drei Autoren gestaltet“ habe. Nach Ansicht Imbrigottas habe es in der Debatte zwischen Brecht, Lukács und Seghers „nicht nur Polemik, sondern auch eine gewisse Unklarheit in der Substanz überhaupt gegeben.“ Einig allein seien sich die drei Exilant:innen in ihren Forderungen gewesen, wonach die neue Literatur im Gewand des Realismus und im Kampf gegen den Faschismus auftreten müsse. Den Expressionismus würden alle drei Schriftsteller:innen gleichermaßen, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen, ablehnen, während Seghers die Stellung einer „Kompromissfigur“ zwischen Brecht und Lukács einnehme. So richtet Imbrigotta das Augenmerk seiner Untersuchung einerseits auf die Auseinandersetzung zwischen Brecht und Lukács und anderseits zwischen Seghers und Lukács, macht aber auf den besonderen Umstand aufmerksam, dass Lukács im Gegensatz zu Seghers und Brecht nicht in Mexiko bzw. den USA Zuflucht vor dem faschistischen Deutschland fand, sondern in der Sowjetunion, wo er seine Theorien nur unter Überwachung entwickeln konnte, was Folgen für die Argumentation gegenüber der Kritik an der Kunst hat und nach Imbrigottas Ansicht die Schwäche in Lukács Dialekt begründe, wenngleich seine Theorien bis in die 1960er Jahre gewirkt haben.

Benjamin Voß wendet sich mit seinem Text „Der Expressionismus in Siegfried Kracauers Filmbuch Von Caligari zu Hitler. Oder: Von ‚Es gibt Geister… Überall sind sie um uns her…‘ bis zur ‚Herrschaft des Verbrechens‘“ dem filmischen Expressionismus und Siegried Kracauers Analysemethoden zur Psychografie der deutschen Kollektivseele zu. Kracauer, den er als Universalgelehrten der Moderne beschreibt, habe seine Analysemethoden nach Methoden und Standards gewählt, die das Buch und seinen Autor „angreifbar, einseitig“ und „mitunter platt“ erscheinen ließen. Nach Voß` Ausführungen sehe der durchaus hochgebildete Journalist, Soziologe, Filmtheoretiker und Geschichtsphilosoph Kracauer auch da Parallelen, wo keine möglich wären, und zwar letztendlich aufgrund der einzigen Annahme, dass Filme „immer der Spiegel einer Gesellschaft seien und dass sie das herrschende System bestätigten“. Das klingt zunächst plausibel, insbesondere wenn man – wie Voß hervorhebt – davon ausgeht, dass das „Kino der Massenunterhaltung“ diene und „die Bedürfnisse des Publikums die Natur der Filme“ bestimmen. Allerdings würde Siegried Kracauer in seinem Eifer, den aufkommenden Faschismus im deutschen – expressionistischen Film – zu entlarven, über das Ziel hinausschießen und für Filme aus dem Jahr 1916 „eine Parallelisierung mit Hitler“ vereinbaren, die für die Zeit „vollkommen absurd“ sei. „Gleichzeitig“, schreibt Voß, „finden sich aber viele Textstellen, die man nur als polemisch und ungenau bezeichnen kann, wofür das Beispiel des ‚vorausweisenden Schatten Hitlers‘ ein guter Beleg […]“ sei. Voß` Aufdeckung der Argumentationsschwächen Kracauers ist wichtig, insbesondere bei einem Buch, das wie kaum ein anderes herangezogen wird, wenn es um die Diskussion und Bewertung eines kollektiven psychologischen Ausdrucks geht, der in der Zeit zwischen dem Ende des Ersten und dem Ende des Zweiten Weltkrieges angesiedelt ist. Und so hält Voß es für einen bloßen Zufall, dass zwischen dem Entstehungsjahr von Das Cabinet des Dr. Caligari (1919) und dem Veröffentlichungsjahr von Kracauers From Caligari to Hitler (1947) genau das Jahr 1933 liegt, zeigt es doch einmal mehr, wie willkürlich Parallelen gezogen werden können, die die eigenen Thesen scheinbar plausibel bestätigen. Zwar habe Kracauer mit seiner leicht angreifbaren Methode zugleich „Recht“, aber auch „Unrecht“; letztendlich zeige jedoch sein Buch, den „hilflosen Versuch […] sich den Untergang der Weimarer Republik zu erklären.“ Ganz so wie auch Thomas Mann, der ebenfalls aus dem US-amerikanischen Exil auf Deutschland zurückblickte und im Doktor Faustus urteilte: „Das Dämonische, das heißt doch auf deutsch: die Triebe.“ Ein Satz, der nach Voß` Ansicht ebensogut hätte auch bei Kracauer zu finden sein können.

Gregor Langfeld beschäftigt sich in seinem Text mit der Rezeption und Kanonisierung expressionistischer Malerei und Bildhauerei in den USA der 1920er und 1930er Jahre. Die anfänglich erschwerten Bedingungen, unter denen noch Katherine Dreier und Marcel Duchamp mit der Gründung der Société Anonyme im Jahre 1920 versuchten, „moderne Kunst“ in New York vorzustellen, wurden 1929 mit dem Vorstoß des Direktors des Brooklyn Museum von William Henry Fox abgelöst und ebneten den Weg für das ebenfalls im gleichen Jahr gegründete Museums of Modern Arts in New York, wo in einer späteren Phase der Direktor Alfred H. Barr Jr. expressionistische Kunst durch Ausstellungen förderte. Langfeld hebt jedoch in seinem Beitrag die anfängliche Skepsis gegenüber expressionistischer Kunst aus Europa, insbesondere Deutschland hervor, da zu dem Zeitpunkt deutsche Kunst, insbesondere bei Barr im Kontext einer traditionellen Entwicklungslinie aufgefasst wurde, die „Ausbrüche“ wie den Expressionismus oder die von Dreier favorisierte Vorstellung von moderner Kunst in Verbindung mit Theosophie und der Annahme einer kosmischen Kraft als Triebfeder des künstlerischen Tuns nicht zulässt. Expressionistische Kunst respektive seinerzeit „moderne Kunst“ stieß bei den Direktoren der beiden Museen auf Skepsis, wenngleich sie sich auch für die Ausstellungen einsetzten, und beim zeitgenössischen Publikum überwiegend auf Ablehnung. Diese Haltung änderte sich vehement mit der Ausstellung „Entartete Kunst“ 1937 in München. Langfeld zeigt den abrupten Kurswechsel in der US-amerikanischen Rezeption deutscher, expressionistischer Kunst auf. Von nun an wurde expressionistische Kunst nicht nur von US-amerikanischen Museen angekauft und vermehrt ausgestellt, sondern auch als Widerstand gegen ein konformistisches System gesehen, das Individualität und Freiheit unterdrücke. Somit erlangten auch die Malerei und Bildhauerei des Expressionismus eine Politisierung, die auf einer bestimmten Ebene mit dem literarischen Expressionismus vergleichbar war, während nach Langfeld der „Mythos vom antifaschistischen Künstler geboren“ wurde, „der alle politischen Widersprüchlichkeiten übersieht.“ So gibt Langfeld zu bedenken, dass die „politische Gesinnung von dem Nationalsozialismus nahestehenden Künstlern konsequent ausgeblendet, verharmlost oder umgedeutet [wurde], um deren Kunst auf diese Weise zu rechtfertigen.“ Diese Kanonisierung wurde nach Langfelds Ansicht auch nach 1945 fortgeführt und unter den Vorzeichen des Kalten Krieges auf die Kunstauffassung der Sowjetunion und DDR angewandt, sodass sich einflussreiche Kunsthistoriker:innen wie „Werner Haftmann auf den weltabgewandten Künstler“ beriefen und in die moderne Kunst „Merkmale wie Individualismus, Gefühlsstärke, Nonkonformismus und rebellische Haltung“ als Ausdruck von Künstlern „des anderen, besseren Deutschland[s]“ einbrachten. Langfeld gelangt zu dem Schluss, dass besonders „der Expressionismus Werte wie Freiheit und Individualismus [symbolisierte], wodurch diese Kunstrichtung in den Demokratien identitätsbildend […]“ gewesen sei.

Julie Crombois, die 2020 mit einer Arbeit unter dem Titel Das ‚andere‘ Belgien / Das ‚andere‘ Deutschland. Zirkulation, Kulturtransfer und Vereinnahmungen im deutsch-belgischen literarischen und intellektuellen Kontext (1933-1945) in Belgien promovierte, beschäftigt sich im vorliegenden Beitragsband mit dem äußerst komplexen Themengeflecht zum deutsch-belgischen Kulturtransfer während der Zwischenkriegszeit und nimmt sich dabei nichts Geringeres vor, als „die Vermittlung des literarischen Expressionismus in Belgien gründlich neu zu evaluieren“. Mit ihrer Neuanalyse der Rezeptionsvoraussetzungen der expressionistischen Bewegung, vor allem auf dem Felde des expressionistischen Dramas, die sie anhand von Primärquellenforschung vornimmt, geht sie der Neusemantisierung des Expressionismus bei Camille Poupeye (1874-1963) nach. Poupeye schrieb für La Renaissance d‘Occident, eine literarische Zeitschrift, die in Brüssel zwischen 1920 und 1940 erschien und das expressionistische Theater thematisierte. Crombois widmet sich gleich zu Beginn ihrer Betrachtungen den Erscheinungsjahren 1920 bis 1931 sowie 1938 bis 1940 der Zeitschrift, da sie sich ihrer Recherche nach „als entscheidend für die Rezeption des literarischen Expressionismus in Belgien“, insbesondere des expressionistischen Dramas, erwiesen. Combrois` Forschung zeigt somit eine in Deutschland bislang wenig beachtete expressionistische Zeitschrift in Belgien und ihre Rolle beim Kulturtransfer auf. Für La Renaissance d’Occident schrieb auch der in Brüssel ansässige deutsche Berichterstatter René Bayer (1904-?). Er war es auch, der nach Combrois` Untersuchung das expressionistische Drama in Belgien vorstellte, wobei „Bayers Vermittlung das Ergebnis eines bestimmten Selektionsprozesses“ sei, da er „den  Expressionismus auf seine aktivistisch-revolutionäre Komponente“ reduziert und u. a. „das bekanntlich vorwiegend ästhetische Projekt des Sturms“ ignoriert habe. Schaut man sich allerdings den biografischen Hintergrund Bayers an, mag das wenig verwundern, denn neben seiner publizistischen Aktivität beim Völkischen Beobachter als Korrespondent in Berlin, war er auch nach den Recherchen Helmut Wagners (2001, S. 94) ab 1934 Mitarbeiter der Gestapo. Auch bei Paul Colin (1895-1943), der als belgischer Journalist und Herausgeber der rexistischen Zeitschrift Le Nouveau Journal und Cassandre bekannt war (und deswegen nicht mit dem in Deutschland wesentlich bekannteren Grafiker und Maler Paul Colin, 1892-1985, verwechselt werden darf) diagnostiziert Combrois eine Verschiebung seiner Vermittlungsmuster ab den 30er Jahren. Während in den 1920er Jahren Colin sich noch für die „Vermittlung des Expressionismus als soziale Kunst“ einsetzte, habe sich sein Vermittlungsmuster ab den 1930er Jahren zu einer „Folie für […] politische Debatte[n] über das NS-Regime“ entwickelt, was Colins allmähliche Annäherung an die NS-Weltanschauung verdeutliche. Die NS-Propagandazeitung Le Nouveau Journal gründete Colin dann auch 1940 auf Initiative der Propaganda-Abteilung der deutschen Militärverwaltung. Am 8. April 1943 wurde Colin vom belgischen Widerstand erschossen.

Zusammengefasst stellt Combrois` Aufsatz eine aufschlussreiche Untersuchung dar, zeigt er doch die Verschiebung eines Vermittlungsmusters nach rechts in dem mehrsprachigen Belgien (Flämisch, Französisch, Deutsch), während andernorts eine Verschiebung des Vermittlungsmusters innerhalb des gleichen Zeitraumes nach links zu vermerken ist, wie beispielsweise in der Ersten Tschechoslowakischen Republik mit ihrer ebenfalls mehrsprachigen Bevölkerung (Tschechisch, Deutsch, Slowakisch u. a.). 

Uwe Czier beschäftigt sich mit dem in Vergessenheit geratenen Übersetzer, Dichter und Kunsthistoriker August Brücher (1888-1967) und rekonstruiert in einer kurzen Skizze seine Biografie, über die die Berliner Morgenpost 2003 lapidar urteilte, dass sich seine Lebensdaten nicht mehr ermitteln ließen. Dass kaum Sekundär- und weniger noch Primärquellen vorliegen bzw. zugänglich sind, mag auch daran liegen, dass Brüchers Veröffentlichungen sich hauptsächlich auf Übersetzungen aus dem Französischen ins Deutsche in Zeitungen zur Zeit des Ersten Weltkrieges beschränkten und damit die Literatur „des Feindes“ Deutschen zugänglich machte, was aufgrund einer anti-französischen Stimmungsmache nicht mit besonderer Unterstützung rechnen konnte. Neben französischen Klassikern wie Honoré des Balzac und Gustav Flaubert übersetze Brücher auch unbekanntere französische Dichter und politische Texte. Doch Brücher dichtete auch selbst. Czier findet anhand seiner Primärquellenanalyse heraus, dass Brüchers eigene Texte selbst dann noch expressionistisch geprägt waren, als die Epoche selbst schon längst abgeklungen war. Trotz der extrem fragmentarischen Quellenlage ist es Czier gelungen, Gedichte Brüchers zu ermitteln, anhand derer er im vorliegenden Beitrag Brüchers ästhetische Entwicklung bis in die 1930er Jahre aufzeigt. Durch Nachforschungen im Bundesarchiv Berlin weist Czier nach, dass Brücher 1940 aus der Reichsschriftstumskammer entlassen wurde, da er nach eigenen Angaben seit 1937 kein Einkommen mehr aus schriftstellerischer Tätigkeit erzielt habe. Die kulturelle Zäsur des Dritten Reiches wird ihr Übriges getan haben, dass Brücher in Vergessenheit geriet. Interessant ist auch Cziers Nachweis über Brüchers Bekanntschaft mit dem aus dem mährischen Alberndorf (heute Bělá u Jevíčka) stammenden expressionistischen Maler Moriz Melzer (1877-1966), dessen Werke 1937 als „entartet“ beschlagnahmt wurden. Den Maler selbst und sein künstlerisches Schaffen soll Brücher hoch geschätzt haben. Auch wenn Brücher kein typischer Vertreter des Expressionismus war, wie Czier selbst anmerkt, habe er als Übersetzer französischer Literatur, insbesondere französischer Symbolisten, ins Deutsche zur Zeit des Ersten Weltkrieges einen vermutlich nicht zu unterschätzenden Beitrag zum Kulturtransfer geleistet. Czier will mit seinem Beitrag weniger eine vollständige Erforschung eines expressionistischen Autors und die literaturhistorische Einordnung seiner Werke vorstellen, sondern lediglich auf das ungeahnte und nicht abzuschätzende Potenzial aufmerksam machen, das sich durch die Erforschung von Brüchers Schaffen ergeben könnte, wenn man keine Kosten, Zeit und Mühen scheut und das, wie Czier es beschreibt, „weit verstreute Mosaik“ aus Primär- und Sekundärquellen zusammensetzt.

Thomas Zenettis Aufsatztitel: „Von Dr. Caligari zu Dr. Cawley. Ausblick auf ein post-expressionistisches Kino“ lässt einen interessanten Blickwinkel auf die Filmgeschichte der letzten 100 Jahre vermuten. Schon oft wurde in der Forschung darauf hingewiesen, dass sich auch nach 1945 zahlreiche Regisseur:innen der Elemente des filmischen Expressionismus bedienten. Doch Zenetti macht nicht nur auf scharfe, lange Schatten, die Dominanz von Nachtaufnahmen oder das sogenannte low key lighting aufmerksam, sondern ergründet gleich zu Beginn seiner Analyse die beiden äußeren Pole, auf die sich der expressionistische Film bezieht, nämlich „Angst und Ekel vor der kulturellen und gesellschaftlichen Modernisierung und der mit ihr einhergehenden Anonymität und Entfremdung“ einerseits und der „Suche nach dem Absoluten und [der] Beschwörung eines Neuen Menschen in einer Neuen Gemeinschaft andererseits.“ Elemente, die sich also sowohl in den expressionistischen Filmen der 1920er Jahre, den Nachkriegs- und Trümmerfilmen, als auch in der Postmoderne und Gegenwart nachweisen lassen. Elegant streift Zenetti die schwarze Romantik, wenn er noch einmal einen kurzen Abriss über den filmischen Expressionismus der Weimarer Republik gibt, um dann in einem weiteren Schritt die bei dieser Analyse gewonnenen angstverstärkenden Elemente mit Carol Reeds Nachkriegsklassiker Der dritte Mann (1949), Ridley Scotts dystopischem Blade Runner (1982), Steven Soderberghs mystischem Krimi Kafka (1991) und Martin Scorseses modernem Psychothriller Shutter Island (2010) zu vergleichen. Dabei beschränkt sich Zenetti nicht nur auf filmtechnische Komponenten, sondern vergleicht inhaltliche Themen wie beispielsweise Maschinenmenschen in Metropolis mit der düsteren, überbevölkerten und schmutzigen Metropole Los Angeles in Blade Runner, deren gemeinsamen Nenner er in der Auflehnung der Arbeiter in Fritz Langs Metropolis gegen einen „entmenschlichen Taylorismus“ und der Revolte der Replikanten in Blade Runner sieht. Wie im Expressionismus selbst stelle auch hier der Film die Frage, „was den Menschen in einer technisierten Welt überhaupt noch“ ausmache und „ob nicht letzten Endes der Roboter humaner ist als der Mensch.“ In Zeiten von KI und ChatGPT eine überaus aktuelle Frage.

Während Zenetti also in Metropolis und Blade Runner die gesellschaftliche Modernisierung, Anonymität und Entfremdung des Menschen in einer von Produktionsbedürfnissen geformten Gesellschaft als expressionistisches Bindeglied zwischen den beiden Filmen sieht, isoliert er Angst, Wahn und Verwirrung in Shutter Island als das zweite expressionistische Moment, in dem scheinbar nur zufällig ein gewisser Dr. Cawley als Anstaltsleiter genannt wird und sich somit eine Assoziation zu Dr. Caligari herstellen lässt. Die operativen Methoden wiederum, die in seiner Anstalt drohen, erinnern an alptraumhafte Vorkommnisse in Soderberghs Schloss, in dem Zenetti durch exakte Analyse scheinbar belanglose Requisiten identifiziert: das zerfetzte Caligari-Plakat, die vorgeblich nur zufällig ins Kamerabild erscheinende Ausgabe von Franz Pfemferts Aktion oder Motive wie der alte jüdische Friedhof in Prag, den Zenetti als Hinweis auf Hanns Heinz Ewers` Student von Prag versteht.

Zenettis Analysen verdeutlichen seine Annahme, dass der expressionistische Film nach 1945 oft als beliebter Hypertext für moderne Filme diente, womit er die These vom Post-Expressionismus zur Diskussion stellt. Zenetti will keinesfalls den Post-Expressionismus als eigenes Genre vorstellen, wenngleich schon der expressionistische Film als Genre kontrovers diskutiert wurde, sondern versteht die untersuchten Filme nach 1945 im Kontext eines „post-expressionistische[n] Kino[s]“, nämlich als Konstellation „weit voneinander entfernter Objekte“, die unter „einem bestimmten Blickwinkel […] einen gemeinsamen Sinn ergeben“.

Im Ganzen gewähren die Beiträge des vorliegenden Bandes Expressionismus-Debatte(n), insbesondere die von Gregor Langfeld, Julie Combrois und Uwe Czier, interessante Perspektiven auf bislang eher unterrepräsentierte Perspektiven in der Expressionismusforschung. Für Fachbibliotheken, aber auch für die Germanistik und Geschichtswissenschaft lohnt sich die Anschaffung des Bandes, doch die voherigen wie auch nachfolgenden Ausgaben der Expressionismus-Reihe lassen weitere spannende Beiträge vermuten.

Titelbild

Kristin Eichhorn / Johannes S. Lorenzen (Hg.): Expressionismus-Debatte(n). (Expressionismus 07/2018).
Neofelis Verlag, Berlin 2018.
120 Seiten, 14,00 EUR.
ISBN-13: 9783958081529

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