Fragwürdige Provokationen

Die scheiternde Aufklärung über Antisemitismus und das Gedächtnis der Literatur

Von Andrea GeierRSS-Newsfeed neuer Artikel von Andrea Geier

Antisemitismus und Antisemitismen: Ringen um Begriffe und Problembeschreibungen

„Gegen jeden Antisemitismus“. Auf diese Formulierung wurde ich zufällig bei der Lektüre eines Zeitungsartikels über anti-antisemitische Präventionsarbeit an Schulen aufmerksam und twitterte: (Ich) „(v)erstehe die Idee hinter dieser Formulierung ‚gegen jeden Antisemitismus‘, frage mich aber weiterhin, ob das wirklich nötig & tatsächlich hilfreicher ist als: Gegen Antisemitismus.“ 

Die Formulierung ‚gegen jeden‘ soll offensichtlich ein Defizit bearbeiten, nämlich den Eindruck, es seien oftmals gar nicht alle Formen des Antisemitismus eingeschlossen, wenn jemand sagt, es sei eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, „über Antisemitismus“ aufzuklären und antisemitische Vorurteile zu bekämpfen. Kann man mit der Formulierung „gegen jeden Antisemitismus“ mehr Aufmerksamkeit schaffen für die verschiedenen Formen antisemitischen Denkens? Hilft sie zu differenzieren und sensibilisiert sie für Argumentationsmuster, die möglicherweise weniger öffentliche Aufmerksamkeit finden und daher schlechter erkannt werden als offen rassistisch begründeter Antisemitismus, dessen Bekämpfung direkt mit der Erinnerung an den Holocaust verknüpft ist? Ich denke hier zum einen an die Rede von Martin Hohmann zum Tag der Deutschen Einheit 2003, an der solche Rezeptionsschwierigkeiten nach der Jahrtausendwende in besonderer Weise sichtbar wurden, und zum anderen an antisemitische Elemente in Verschwörungstheorien, die derzeit in der Pandemie Auftrieb erhalten. Oder besteht umgekehrt eher die Gefahr, dass verschiedene antisemitische Äußerungen und Denkmuster – rassistischer, israelbezogener oder islamistischer Antisemitismus oder Antisemitismus in der linken Kapitalismuskritik – gegeneinandergestellt oder sogar aufgerechnet werden? Vielleicht aber kann oder muss man sich zwischen den Varianten „gegen Antisemitismus“ und „gegen jeden Antisemitismus“ gar nicht entscheiden, weil die Frage, was bestimmte Formulierungen leisten können, situations- und kontextabhängig ist. 

Antisemitismus in der Literatur und (scheiternde) anti-antisemitische Aufklärung 

Literatur hat sowohl Anteil an der historischen Genese, Etablierung und Normalisierung, an Tradierung und Wandel antijüdischer Stereotype und Denkmuster als auch an der Aufklärung über Antijudaismus und Antisemitismus. Beides ist Gegenstand der literaturwissenschaftlichen Antisemitismusforschung. Am literarischen Diskurs seit 1945 und insbesondere an so unterschiedlichen Literatur- und Theaterskandalen wie Rolf Hochhuths Drama Der Stellvertreter und Martin Walsers Roman Tod eines Kritikers lassen sich sowohl die kritische Leistungsfähigkeit von Literatur im jeweiligen zeithistorischen Kontext als auch verschiedene neuralgische bis problematische Formen ästhetischer Repräsentationen von NS-Geschichte und des Holocaust ablesen. Anlässe, über (nicht) angemessene Formen des Umgangs mit NS-Geschichte zu streiten, finden sich immer wieder. Das Feld der Kultur stellt weiterhin einen vorrangigen Raum der erinnerungskulturellen Auseinandersetzung dar, und die Angemessenheit bestimmter Darstellungsweisen ist in ihrem jeweiligen zeitspezifischen Resonanzraum zu beurteilen.

Ein grundlegender, wichtiger Beitrag der Literaturwissenschaft besteht darin aufzuzeigen, wie sich antisemitische von anti-antisemitischen Texten unterscheiden. Was auf den ersten Blick trivial klingen mag, ist es im Einzelfall nicht. Denn dabei kann es auch darum gehen, Aufmerksamkeit für Fallstricke von ästhetischen Repräsentationslogiken zu schaffen, mit denen sich eigentlich das Versprechen verbindet, kritisch und aufklärerisch zu wirken. 

Fehlschlagende Formen der Aufklärung im Kontext des Konzepts literarischer Antisemitismus zu betrachten, weckt oftmals Abwehrreflexe. Sie sind motiviert von der Befürchtung, dass damit die Autor:innen dieser Texte in einen Giftschrank der Literaturgeschichte verbannt würden. Dies ist jedoch unbegründet. Wenn sich zum Beispiel an Rainer Werner Fassbinders Drama Der Müll, die Stadt und der Tod zeigen lässt, dass vielfach antisemitische Vorurteile als Projektionen entlarvt werden, dass aber im Rahmen der Kapitalismuskritik des Textes antisemitische Ressentiments auch affirmiert werden, kann man das durchaus so benennen. Man behauptet damit nicht, dies sei ein Indiz für ein antisemitisches Weltbild einer Autor:innen-Person. Vielmehr wäre zu fragen, ob nicht solche Graubereiche sogar eher der Normalfall von Literatur sind – ohne dass dies literarischen Antisemitismus in irgendeiner Weise ‚entschuldigte‘ oder eine möglicherweise scheiternde Aufklärung grundsätzlich für irrelevant erklärte. Ungenügende bis irreführende Formen der literarischen Darstellung von NS-Geschichte und Antisemitismus herauszuarbeiten, ist eine ebenso wichtige Orientierungsleistung der Literaturwissenschaft wie der Nachweis, dass es Texte gibt, die Antisemitismus plausibilisieren, normalisieren und propagieren oder im Falle fehlschlagender Aufklärung antisemitische Denkmuster unfreiwillig bestätigen können.

Wenig hilfreich für die Aufklärung über Antisemitismus ist beispielsweise ein rein psychologisierendes Erklärungsmuster. In der Gegenwartsliteratur findet es sich u.a. in Christian Krachts Roman Imperium: Zunächst in kritischer Distanz zu einem antisemitischen Weltbild, verfällt die skurrile Figur August Engelhardt einem ‚antisemitischen Wahn‘. Die Psychologisierung ist nicht nur an sich problematisch, weil sie tendenziell enthistorisiert und den Blick von den gesellschaftspolitischen Dimensionen und Folgen von Antisemitismus weglenkt. Sie entfaltet im Erzählen über den ‚Aussteiger‘ und seine Idee des Kokovorismus, den er in der deutschen Südsee-Kolonie Kabakon zu verwirklichen sucht, eine irritierende Wirkung. Über die Stichworte ‚Weltreich-Phantasie‘ bzw. ‚-anspruch‘, ‚Vegetarier‘, ‚Selbstbild des verhinderten Künstlers‘ (bei Engelhardt im Sinne einer künstlerisch anmutenden Lebensphilosophie) und Antisemitismus wird eine assoziative Parallele zwischen Engelhardt und Adolf Hitler evoziert. Dass der Antisemitismus Engelhardts als Wahnsinn deklariert wird, ließe sich mit Blick auf einen späteren Verweis des Erzählers auf die Shoah zwar als Markierung von Differenz statt Ähnlichkeit lesen – beide Modi sind in Vergleichen angelegt. Allerdings ist dann umso auffälliger, dass in dieser kulturkritischen, ironisch-nostalgischen Perspektive auf das Laboratorium der Ideen um 1900 die Kolonialgeschichte augenzwinkernd auf der Seite des Abenteuers reinszeniert wird, und darüber hinaus, welche Fragen ausgespart werden: Die wichtigste lautet, ob es im Weltbild des Kokovorismus nicht Vorstellungen über Unterschiede zwischen Menschen gibt (z.B. in Bezug auf zu vermeidende Vererbung bestimmter Eigenschaften), die durchaus geeignet wären, über ‚Verwandtschaften‘ von rassifizierenden Denkmustern zu reflektieren. In diesem Zusammenhang ist als weitere Leerstelle erkennbar, dass innerhalb eines kolonialrassistischen Settings nur über den ‚antisemitischen Wahnsinn‘ Engelhardts eine Verbindung zu Hitler und dem Nationalsozialismus hergestellt wird. Während in einem Roman über Kolonialismus also ein Diskurs über die Frage, wie man von NS-Geschichte und Shoah erzählen kann, eingespeist wird, werden gleichzeitig mögliche historische Verbindungspunkte – erneut im Sinne von Ähnlichkeit und von Differenz – zwischen rassifzierenden Denkmodellen und Weltanschauungen nur ‚spielerisch‘ evoziert und narrativ ausgeklammert. 

Über Krachts Erinnerungsdiskursroman, über seine Qualitäten ebenso wie über seine problematischen Aspekte (auf die ich mich hier konzentriert habe), gibt es eine mittlerweile differenziert geführte Debatte. Dagegen kann es sogar bei hochproblematischen Texten lange dauern, bis sich die Ansicht durchsetzt, dass sie zu Unrecht als vorbildlich aufklärerisch gelten. Ein besonders eklatanter Fall ist John Boynes Jugendbuch Der Junge im gestreiften Pyjama (Orig. 2006, dt. 2007), das wegen seiner inszenierten ‚naiven‘ Perspektive auf NS-Geschichte und Shoah als misslungen bis irreführend kritisiert wird. Der Roman soll laut Nachwort des Autors von Respekt vor den Opfern getragen sein. Es sei „vermessen“ zu denken, „dass die Schrecken der Konzentrationslager aus heutiger Sicht wirklich begreifbar wären, und dennoch ist es die Pflicht eines jeden Autors, innerhalb dieser Landschaft des Grauens möglichst viel emotionale Wahrheit zu zeigen“. Der Autor erteilt sich von dieser Feststellung ausgehend eine Lizenz, das Unbegreifbare des Holocaust zugänglich zu machen durch die „Augen eines Kindes, und zwar eines sehr naiven Kindes, das die schrecklichen Geschehnisse um es herum nicht versteht“. Dabei handelt es sich um den neunjährigen Jungen Bruno, Sohn des Lagerkommandanten von Auschwitz, der sich mit dem gleichaltrigen Schmuel, einem jüdischen Jungen im Lager, anfreundet. Die beiden treffen sich regelmäßig am Zaun des Lagers und sterben schließlich beide, nachdem Bruno, nun ebenfalls „im Pyjama“, ins Lager geschlichen ist, um Schmuel bei der Suche nach seinem Vater zu helfen.

Bruno soll von der ideologischen Indoktrination im NS-Regime vollkommen unbeeindruckt geblieben sein, genauer, er soll darüber gar nichts wissen. Dies wird im Roman sowohl sprachlich veranschaulicht als auch in der Erzählorganisation umgesetzt: Es zeigt sich in Begriffen wie „Pyjama“ für die Häftlingskleidung, „Furor“ für Hitler und „Aus-Wisch“ für Auschwitz; der Hitlergruß wird nicht so genannt, sondern umschrieben; als Bruno eine Erschießung beobachtet, vermag er nicht zu erfassen, dass Menschen ermordet werden; Bruno hat nicht nur keinen Begriff vom „Vaterland“, er weiß auch nicht, dass sein neuer Wohnort Auschwitz in Polen liegt; als Bruno das Lager betritt, sieht er erstaunt, dass dort nicht „lauter glückliche Familien wohnen“, dass die Jungen und Mädchen nicht „Tennis oder Fußball spielen“, und dass es auch kein „kleines Café“ gibt. Diese Erwartung Brunos widerspricht sogar der im Roman selbst vermittelten Informationen – stellt also im Unterschied zu vielen anderen Aspekten nicht nur gemessen an geschichtshistorischem Wissen ein Problem dar. Schmuel korrigiert zwar selten direkt Brunos schiefe Vergleiche ihrer Lebensverhältnisse (z.B. Umzug / Deportation), aber er berichtet ihm durchaus von den Lebensbedingungen im Lager. Umso nötiger erscheint, dass Schmuel die Freundschaft mit Bruno und dessen Charakter als „einfühlsam und gut“ lobt. 

Der gesamte Roman ist also getragen von der Idee, dass die Vernichtung in kein Erfahrungskonzept passt und ‚nicht zu verstehen ist‘. Gerade die Freundschaftskonstellation führt jedoch eindringlich vor Augen, dass, was einfühlsam klingen mag, in erster Linie bedeutet, die Erfahrungsdimension der Opfer konsequent auszublenden – hier Schmuels, für den es lebensweltlich unmöglich ist, die Geschehnisse nicht zu begreifen. Eine metaphorische ‚Unbegreifbarkeit‘ des Holocaust führt einer Art Ignoranz bis hin zu Widersprüchen im Erzählen. Denn es gehört zwingend zur Erzähllogik, dass Schmuels Stimme immer wieder gestoppt, geradezu abgewürgt werden muss, um die Behauptung von Brunos ‚Nicht-Verstehen‘ aufrecht erhalten zu können. Gleichwohl schreibt Boyne im Nachwort, dass die „verlorenen Stimmen“, gemeint sind hier die der beiden Opfer Bruno und Samuel, „weiterhin gehört“ werden müssten. Dass die Jungen beide ermordet werden, ist eine Art pervertierte Geste der Universalisierung. Denn dieser „Junge im Pyjama“ war im Unterschied zu Schmuel in der NS-Vernichtungslogik nicht als Opfer des Genozids vorgesehen. In der Erzählorganisation wird genau dies betont, da zum Schluss noch einmal eine Spannung aufgebaut wird: Fast wäre Bruno doch nicht ins Lager geschlichen! Das Hauptaugenmerk liegt also darauf, dass der Sohn des Lagerkommandanten zufällig vergast wird, und der Roman endet konsequenterweise damit, dass der Vater begreift, wie Bruno gestorben ist. Er wird dann als Lagerkommandant abgelöst. Dass die Sympathielenkung auf das zufällige, aus Sicht des Vernichtungsantisemitismus ‚falsche‘ Opfer zielt, wird übrigens im gleichnamigen Film (GB 2008; Regie Mark Herman) erschreckend adäquat umgesetzt: Der letzte Lichtstrahl in die Gaskammer fällt auf das Gesicht von Bruno. Schmuel steht im Dunkeln. Dass sich trotz all dieser Probleme Der Junge im gestreiften Pyjama in der Schule, gerade im Deutschunterricht, ungebrochen großer Beliebtheit erfreut, sollte dringend kritisch diskutiert werden. 

Die Literaturwissenschaft ist somit gefordert, Aushandlungsprozesse über gelingende und misslingende Darstellungen der NS-Geschichte und des Antisemitismus kontinuierlich zu begleiten und Kriterien für dieses Wertungshandeln auch in den öffentlichen Diskurs einzubringen. Ein interessantes Element dieser Orientierungsleistung ist der kritische Blick auf das Gedächtnis der Literatur für (ästhetisch, ethisch, historisch) gelingende und misslingende Mittel der Aufklärung über Antisemitismus. Als ein Beispiel für diese literarische Rezeption soll hier im Anschluss an Fassbinders Theatertext Elmar Goerdens Drama Lessings Traum von Nathan dem Weisen vorgestellt werden: Innerhalb eines insgesamt vergnüglichen, aufklärerisch-kritischen und deshalb aufschlussreichen intertextuellen Gedächtnis-Theaters über Aufklärung findet sich darin nämlich ein problematischer Rekurs auf Fassbinders Skandalstück.

Was wird hier enttabuisiert? Misslungene Aufklärung über Antisemitismus 

Um Text und Inszenierung(sversuche) von Fassbinders Drama Der Müll, die Stadt und der Tod wurde jahrzehntelang kontrovers öffentlich gestritten. In der Literaturskandalgeschichte ist es ein paradigmatischer Fall für die gesellschaftliche Auseinandersetzung um Antisemitismus und die Frage nach angemessenen und erfolgreichen Mitteln von Aufklärung über Antisemitismus in einer postnationalsozialistischen Gesellschaft. Die Kontroversen um den Text (1976) und die mehrmaligen Versuche der Aufführung (1984/85) lassen sich als Skandalkommunikationen mit produktiven und mit problematischen Auswirkungen für gesellschaftliche Selbstverständigungsprozesse über Antisemitismus und Vergangenheits-‚Bewältigung‘ beschreiben. Aus heutiger Sicht ist aber nicht nur der Einblick in den damaligen erinnerungskulturellen Raum interessant, sondern unter anderem auch, wie viele Argumentationsmuster aus den Debatten für unsere Gegenwart unmittelbar anschließbar erscheinen. Auffällig sind vor allem die falsche Frontstellung zwischen ‚Kunstfreiheit‘ vs. ‚Zensur‘ sowie die Vorstellung, dass Provokation grundsätzlich aufklärerisch wirke und Kritik an kontraproduktiven und verletzenden Effekten bestimmter ästhetischer Darstellungsverfahren von fehlendem Kunstverständnis zeuge. Apologet:innen von Fassbinders Text bedienten sich immer wieder eines zwar leicht durchschaubaren, aber trotzdem wirkungsvollen Reiz-Reaktions-Musters: Wer gegen ‚Zensur‘ und für Kunstfreiheit sei, müsse sich für die Inszenierung von Fassbinders Stück aussprechen. 

Die Kritik eines menschenverachtenden, zerstörerischen Kapitalismus, auf die der Titel hinweist, wird im Theatertext am Thema Immobilienspekulation sowie Prostitution – benutzt als Bild für die Warenförmigkeit menschlicher Beziehungen – aufgezeigt. Die Figur des ‚Reichen Juden‘ ist in Bezug auf seine Zugehörigkeit zur jüdischen Minderheit in einer postnationalsozialistischen Gesellschaft zwar eigentlich ein Außenseiter, aber nicht nur in ökonomischer Hinsicht klar privilegiert. In den Worten der Figur: „Die Stadt schützt mich, das muss sie. Zudem bin ich Jude.“ Fassbinder inszeniert den ‚Reichen Juden‘ in mehrfacher Hinsicht als Holocaust-‚Profiteur‘: Er verdient Geld im Rahmen eines Plans zur Umgestaltung der Stadt und wird von den Mächtigen zwar zu ihren Zwecken benutzt, aber auch gebraucht, weil er Jude ist. Als er einen Mord begeht, wird er beschützt, und der Vertuschung fallen weitere Figuren zum Opfer: Statt des ‚Reichen Juden‘ wird Franz B. als Sündenbock verhaftet, und der ‚Kleine Prinz‘ wird ermordet, weil er den wahren Täter öffentlich machen möchte. 

Das „Müll“-Stück präsentiert den ‚Reichen Juden‘ als Täter, um über diese Rolle und Handlungsmacht das kapitalistische System in seiner Wirkungsweise zu charakterisieren. Diese Konstellation bietet die Chance, über antijüdische Stereotype aufzuklären. Vorurteile anderer Figuren werden als Projektionen entlarvt, und sowohl das Weiterwirken antisemitischer Einstellungen aus dem Nationalsozialismus als auch ein Schuldabwehr-Antisemitismus werden insbesondere an den Figuren Müller, Technokrat des Massenmordes im ‚Dritten Reich‘ und Vater von Roma B., sowie Hans von Gluck, Immobilienspekulant und damit Konkurrent des ‚Reichen Juden‘, kritisch vorgeführt: „Sie haben vergessen, ihn zu vergasen. Das ist kein Witz, so denkt es in mir. Und ich reib mir die Hände, wenn ich mir vorstelle, wie ihm die Luft ausgeht in der Gaskammer. […] Der Jud versteht sich auf sein Gewerbe, Angst scheint ihm fremd, der Tod kann ihn nicht schrecken, ihn, der kein Leben lebt.“

Das kapitalistische System soll also als besonders perfide gezeichnet werden, weil es sich eines Juden nach dem Holocaust bedient. Dass das Jüdischsein der Hauptfigur für die Kapitalismuskritik eine so große Rolle spielt, bewirkt jedoch umgekehrt auch, dass antisemitische Ressentiments wiederholt werden. Dreh- und Angelpunkt ist die Idee, dass Juden und Jüdinnen nach dem Holocaust ‚tabuisiert‘ seien. Fassbinder selbst erklärte dazu: „Ich meine, daß die ständige Tabuisierung von Juden, die es seit 1945 in Deutschland gibt, gerade bei jungen Leuten, die keine direkten Erfahrungen mit Juden gemacht haben, zu einer Gegnerschaft gegen Juden führen kann.“ („Philosemiten sind Antisemiten“. Gespräch mit Benjamin Heinrichs in „Die Zeit“ vom 9.4.1976). Das ist allerdings mehr als eine nur eigenwillig zu nennende Problembeschreibung, wenn man die Vorgänge betrachtet, die das Stück inspiriert haben. Gerade die Proteste gegen die Umgestaltung des Frankfurter Westends offenbarten einen weit verbreiteten Antisemitismus und gerade keine Tabuisierung von Juden und Jüdinnen. Und im Rahmen dieser Debatte, die antisemitische Klischees vom ‚jüdischen Kapital‘ aktivierte, wurde gleichzeitig die Arisierung des Westends während des Nationalsozialismus totgeschwiegen. Auch dieses erinnerungskulturelle Versagen wiederholt sich in Fassbinders „Müll“-Stück.

Die irreführende Prämisse, die Fassbinders Verbindung von Kapitalismuskritik und angeblicher ‚Enttabuisierung‘ des Umgangs mit Juden und Jüdinnen zu Grunde liegt, führt zu einer hoch problematischen Konstellation von Antisemitismus-Kritik auf der einen und Wiederholung und Bestätigung antisemitischer Projektionen auf der anderen Seite. Die angeblich ‚unmoralische Privilegierung‘ von Juden ist selbst Teil eines antisemitischen Ressentiments, das im Text nicht nur in ökonomischer Hinsicht relevant ist, sondern in Bezug auf die Tat, einen Mord, beglaubigt wird. 

Dass diese Tat ‚auf Verlangen‘ geschieht – Roma B. bittet den ‚Reichen Juden‘, sie zu töten –, ändert daran nichts. Denn er bleibt ungestraft, während andere indirekt zu seinen Opfern werden, und darüber hinaus steht eine eigenständige Handlungsmotivation für den Mord im Raum: Rache für den Holocaust. Dies ist zwar auch eine Vorstellung, die von der antisemitischen Figur Müller geäußert wird, doch dazu passen Äußerungen des ‚Reichen Juden‘. Die Frage „Bin ich ein Jud, der Rache üben muss an kleinen Leuten?!“ beantwortet er selbst: „Es soll so sein und ziemt sich auch!!“ Das Bild des jüdischen Täters aus eigenem Antrieb und eigener Motivation, die gerade Ängste von Antisemit:innen bestätigt, schiebt sich damit vor das Bild eines Täters, der bloßer Agent des Kapitals ist. 

Die Verknüpfung der Kapitalismuskritik mit Antisemitismus, mit der Idee, Juden seien angebliche Holocaust-‚Profiteure‘ und mit einer angeblichen Notwendigkeit, dies zu ‚enttabuisieren‘, führt im „Müll“-Stück zu einer nicht auflösbaren Irritation. Auch wenn das kritische Spiel mit Stereotypen dominant ist, kann die Destruktion von Vorurteilen nicht vollständig gelingen. Es ist die Kombination unterschiedlicher Zielsetzungen der Aufklärung und ihrer Voraussetzungen, die eine kritische Aufklärung über Antisemitismus nachdrücklich irritiert und dazu führt, dass antisemitische Ressentiments auch bestätigt werden.  

Gelingende und misslingende Aufklärung im Gedächtnis der Literatur

Wenn Shylock oder Nathan auf der Bühne stehen, scheint die jeweils andere Figur im Hintergrund immer schon auf ihren Auftritt zu warten. Die Literaturgeschichte hat diesen beiden Figuren eine Rollenverteilung zugewiesen, die Erich Schmidt bereits 1892 in Lessing. Geschichte seines Lebens und seiner Schriften als einfache Gegensätze beschrieb: „Ein Jude, Shylock, vertritt in der Weltliteratur den rachedürstigsten Haß, ein Jude[, Nathan,] die lauterste Nächstenliebe.“ Die Shylock-Figur hat allerdings im Vergleich mit Nathan eine deutlich vielgestaltigere Deutungs- und Rezeptionsgeschichte, in der er vor allem als Opfer und Ankläger gesellschaftlicher Missstände und damit als Kronzeuge eines Plädoyers gegen Antisemitismus in Anspruch genommen wird. So imaginiert etwa Heinrich Heine in Shakespeares Mädchen und Frauen Shylocks „Schmerzlaute, wie sie nur aus einer Brust kommen konnten, die all das Martyrtum, welches ein ganzes gequältes Volk seit achtzehn Jahrhunderten ertragen hat, in sich verschlossen hielt“. 

Im deutschen Theater nach der Shoah wurde die Frage, welche Figur sich besser eigne, um über Antisemitismus aufzuklären und zur Toleranz anzuleiten, zunächst, scheinbar naheliegend, mit Lessings Nathan der Weise beantwortet. Doch in dem Maße, in dem dessen harmonischer Schluss in Frage gestellt wurde, brachten z.B. die Theatermacher Peter Zadek und George Tabori Shylock auf die Bühne, und zwar nun als Versprechen einer Provokation, als irritierende Verkörperung eines Stereotyps des ‚bösen Juden‘, das eingeübte, nur vordergründige Anerkennungsroutinen der Toleranz durchkreuzt und vermeintlich schon erfolgte Vergangenheits-‚Bewältigung‘ entlarvt. 

In dieser Tradition eines Störenfrieds der Erinnerungskultur inszeniert ihn auch der Autor und Regisseur Elmar Goerden in seinem Drama Lessings Traum von Nathan dem Weisen (UA 1999; Staatstheater Stuttgart). In einer Spiel-im-Spiel-Situation, einer Probe von Lessings Toleranzdrama, stehen Lessing (als Regisseur), Nathan und Shylock gemeinsam mit weiteren Figuren aus Lessings Drama auf der Bühne. Das von Interfiguralität und Intertextualität getragene Gedächtnistheater stellt eine Konkurrenz der Aufklärungsmittel vor, in der Provokation und Kritik falscher Toleranz und nur vermeintlicher Anerkennung von Minderheiten (Shylock) gegenüber einem Werben um Toleranz (Nathan) privilegiert wird. Im Rahmen dieser Evokation und Re-Inszenierung eines Gedächtnisses der Literatur begegnet auch Fassbinders Der Müll, die Stadt und der Tod. Diese Reminiszenz ist nicht nur darauf zurückzuführen, dass es sich um ein besonders prominentes Beispiel im Streit um gelingende oder misslingende Aufklärung nach dem Holocaust handelt. Es erklärt sich auch damit, dass es in der Rezeptionsgeschichte von Fassbinders Stücks Vergleiche von Fassbinders ‚Reichem Juden‘ mit Shylock gibt. 

In Goerdens Drama ist Nathan der Weise ein nicht mehr spielbares Stück: Die Schauspieler:innen-Figuren verstehen den Sinn nicht. Nathan und Shylock halten sich gegenseitig ihre Darstellungs- und Rezeptionstraditionen und deren fatale Wirkungen vor, und dabei werden die aufklärerischen Strategien Nathans insbesondere mit Verweis auf den Zivilisationsbruch Auschwitz als wirkungslos entlarvt. Shylocks beharrt nachdrücklich darauf, Bedingungen von Toleranz, Anerkennung und Zugehörigkeit der jüdischen Minderheit kritisch zu betrachten. Toleranz ist nicht erreicht, wenn man eine perfekte Nathan-Figur liebt, sondern wenn Eigenschaften und Handlungen einer Person individuell zugeschrieben werden statt als Merkmale einer Gruppenzugehörigkeit zu gelten. Shylock fragt entsprechend: „Oder darf einer nicht böse sein, bloß weil er Jude ist?“ Goerdens Dramentext stellt allerdings nicht nur die aufklärerische Kraft von Nathans Gesprächskunst in Frage und führt an Shylock die Qualität provokativer Fragen vor, sondern entwickelt darüber hinaus eine Kritik an Nathan der Weise als philosemitischem Stück: Philosemitismus sei eine problematische Haltung, die Antisemitismus nicht wirksam bekämpfen könne, weil sie die Realität jüdischer Existenz ignoriere. 

Goerdens Kritik an Lessings Drama geht damit weit über den Vorwurf hinaus, dass sich idealisierte Figuren nicht für Vorurteilskritik eignen – eine Einsicht, die Lessing übrigens selbst in seinem Frühwerk Die Juden gestaltet hat, wenn die antisemitischen Figuren den jüdischen Reisenden am Ende akzeptieren, indem sie ihn als Ausnahme von der Regel – der einzelne ‚gute Jude‘ vs. ‚das jüdische Volk‘ – einordnen. Doch in Lessings Traum von Nathan dem Weisen verschiebt sich der Fokus von der Aufklärung über Antisemitismus zur Aufklärung über Philosemitismus, und beide Phänomene sollen als wesensverwandt erscheinen: „Shylock Philosemiten sind Antisemiten, die Juden lieben. / Daja Das verstehe ich nicht.“ Indem Shylock, inszeniert als besserer Aufklärer, die oben erwähnte Aussage Fassbinders zitiert, bestätigt er die Selbst-Inszenierung des Autors als Tabu-brechender Aufklärer, der nicht nur Antisemitismus entlarve, sondern auch die gefährliche Wirkung von Philosemitismus, der Antisemitismus erzeuge. Dass Daja, in Goerdens Stück eine ‚geheilte‘ Antisemitin, die behauptete Kippfigur von Philosemitismus und Antisemitismus nicht versteht, unterstreicht dies noch, denn sie erklärt an anderer Stelle, dass eine Gesellschaft Tabus brauche. 

In dieselbe Kerbe schlägt die zweite intertextuelle Referenz: „Patriarch Auf Nathan zeigend Das hat der geschrieben! Ich persönlich bin ein großer Freund der Ringparabel. Wann kommt die eigentlich? Er saugt uns aus, der Jude. / Shylock: Jud! / Patriarch: Bitte? / Shylock: Jud. Er saugt uns aus, der Jud. Ohne ‚e‘. Klingt besser. Griffiger.“ 

Dass Antisemit:innen die Ringparabel lieben, soll unterstreichen, dass Nathan der Weise ein absolut wirkungsloses Stück sei. Dass Shylock „Jude“ zu „Jud“ korrigiert, demonstriert, wie überaus souverän er mit Fassbinders Text umgeht. Er spielt auf eine entsprechende Aussage in einem längeren antisemitischen Monolog der Figur Hans von Gluck an. Damit werden aber nicht einfach zwei antisemitische Figuren (Patriarch / Hans von Gluck) überblendet, sondern es wird auch der aufklärerische Anspruch des „Müll“-Stücks bestätigt. In Fassbinders Text handelt es sich um die Aussage einer Figur mit antisemitischem Weltbild, und sie ist ganz offensichtlich nicht auf Zustimmung angelegt, sondern zielt auf die Kritik insbesondere eines Schuldabwehr-Antisemitismus nach der Shoah. Im Streit um die Aufführung des Stücks wurde den Kritiker:innen Fassbinders immer wieder vorgeworfen, dass sie genau dies nicht erkennen und sich schlicht dagegen wendeten, dass antisemitische Aussagen auf dem Theater zu hören seien. Wie wenig harmlos diese These vom ‚Missverständnis‘ ist, zeigt sich in den Fassbinder-Kontroversen daran, dass sie der Forderung nach einer vermeintlich wünschenswerten ‚Normalisierung‘ im Umgang mit der Shoah Vorschub leistete. Die Kritiker:innen Fassbinders seien, so die infame Unterstellung, die eigentlich versagenden Aufklärer:innen, da sie es nicht ‚aushielten‘, in provokativer Weise mit der NS-Vergangenheit konfrontiert zu werden. 

Shylock macht in Goerdens Stück eindeutig Sympathie-Punkte als besserer Aufklärer, und zwar sowohl in der Sprechposition Fassbinders als auch im Hinweis auf die richtige Lesart antisemitischer Aussagen in Fassbinders Stück. Über die intertextuellen Referenzen wird das Skandalstück im Gedächtnis-Theater der Aufklärung vereindeutigt und also einseitig, nämlich unter Aussparung aller problematischen, mindestens ambivalenten Aspekte der Tabu-Diskurse, als Beispiel für die Kraft provokativer Aufklärung positioniert und tradiert. Dass im Fahrwasser dieser Philosemitismus-Kritik seit den Fassbinder-Kontroversen antisemitische Redefiguren wie die Täter-Opfer-Umkehr schwimmen, bearbeitet Goerdens Stück nicht.

Kampf gegen Antisemitismus und die Verknüpfung mit der Erinnerungskultur

Die Aufklärung über Antisemitismus als gesellschaftspolitische Aufgabe ist, auch wenn sie in Anspruch nimmt, alle Formen des Antisemitismus zu bekämpfen, weiterhin eng mit der Erinnerung an die NS-Geschichte und dem Vernichtungsantisemitismus verknüpft. Daraus werden moralische Appelle und eine gesellschaftspolitische Verantwortung zur Bekämpfung von Antisemitismus in der Gegenwart abgeleitet (während es für den Kampf gegen Rassismus keinen ähnlichen Bezug zur Kolonialgeschichte gibt, obwohl sich auch hieraus ein Appellcharakter ableiten ließe). Wie gut dies gelungen ist, wird seit Langem kontrovers diskutiert. Anlässe in jüngster Zeit sind antisemitische Angriffe und rechtsextremer Terror, aber auch Befragungen, in denen deutliche Widersprüche auftreten: Es gibt hohe Zustimmungswerte zur Bedeutung von Erinnerungskultur, aber es werden, wenn auch in geringerem Maße, Schlussstrich-Wünsche geäußert. Und weiterhin zeigt sich in Umfragen, dass ein allgemeines geschichtshistorisches Wissen über den Holocaust und die Frage nach den Täter:innen im Nationalsozialismus kaum miteinander in Verbindung gebracht werden.

Die Kontroversen um das „Müll“-Stück von Fassbinder haben Konfliktlinien sichtbar gemacht, die bis heute nachwirken. Dazu gehört, dass ein Antisemitismus nicht nur nach, sondern wegen Auschwitz sichtbar wurde, und daran schließen bis heute auch abgeschwächte Versionen an, welche die Deutschen zum Opfer ihrer NS-Vergangenheits-‚Bewältigung‘ stilisieren und Schlussstrich-Phantasien befeuern. Mit der Kontroverse über den ‚linken Antisemitismus‘ wurde darüber hinaus Antisemitismus zu einem fungibel verwendbaren Vorwurf, den sich Apologet:innen wie Kritiker:innen des Stücks gegenseitig machten. Mit Blick auf Debatten in der Gegenwart sind aber vor allem der Vorwurf einer angeblich unaufgeklärten Fehlrezeption, der undifferenzierte, vermeintlich Kunst wertschätzende Lobgesang auf das angeblich immer aufklärerische Potential von Provokationen sowie der Versuch, den großen Wert der Kunstfreiheit für einen Erpressungsversuch zu nutzen, hervorzuheben. 

Dass große Werte wie Kunstfreiheit als Kampfbegriffe verwendet werden, ist ein Problem auch der Gegenwart, während es stattdessen darum gehen müsste, ästhetische Repräsentationen, ihre Leistungen und ihre Limitationen differenziert zu bewerten. Dies ist eine auf die Literaturgeschichte – Kanonkritik – und auf die Gegenwart – Mitarbeit an Wertungshandeln und Kanonisierungsprozessen – bezogene Arbeit, und sie schließt auch die literarische Rezeption ein. Es gibt ein Gedächtnis der Literatur für die literarischen Verfahren der Aufklärung, für erhoffte und tatsächliche Effekte von Provokation, Ironie und Einfühlung und deren unterschiedliche emotionalisierende Qualitäten. Für die Untersuchung von Antisemitismus sind all diese Spuren und Experiment-Situationen interessant, in denen im literarischen Diskurs die Gelingensbedingungen ebenso wie das Fehlschlagen von Vorurteilskritik auffindbar sind oder direkt zum Thema gemacht werden. In diesem Sinne können auch Skandalkommunikationen zumindest auf lange Sicht die Aufklärung über Antisemitismus und Rassismus voranbringen.