Abschied von der Literaturdidaktik?
Ein Sammelband von Daniela A. Frickel und Andre Kagelmann fragt nach dem Verhältnis von Literaturdidaktik und dem neuen Paradigma der Inklusion
Von Thomas Berger
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseDer vorliegende, auf einer Tagung in Köln basierende Sammelband Der inklusive Blick. Die Literaturdidaktik und ein neues Paradigma verfolgt mit der notwendigen, aber bisher nur in Ansätzen geleisteten literaturdidaktischen Neuorientierung in Zeiten der bildungs- und gesellschaftspolitisch verordneten Inklusion ein wichtiges Desiderat. In diesem Diskurs ist es längst obsolet, über die Vor- und Nachteile der Einführung von Inklusion im Schulsystem selbst zu debattieren: Die politischen Rahmenbedingungen sind eindeutig und der Deutschdidaktik bleibt nur die Möglichkeit, ein inklusives Schulsystem so weit wie möglich mitzugestalten oder aber in einer letztlich aussichtslosen Widerstandshaltung zu verharren. Ganz ähnlich waren die Voraussetzungen auch schon bei der Einführung der Bildungsstandards, wobei die Fachdidaktik hier in weiten Teilen auf den fahrenden Zug aufsprang. Tilman von Brand spricht diesbezüglich von der „abschreckenden Wirkung“ der damaligen „pragmatischen Reaktion“ auf eine staatliche Verordnung. Man wisse auch diesmal nicht, wohin der Zug fahre und wer ihn steuere. Womöglich erkläre sich auch hieraus eine gewisse Zurückhaltung der Literaturdidaktik gegen die staatlich verordnete Inklusion. Ralph Olsen konstatiert nüchtern, die Wissenschaft müsse den „geschaffenen Tatsächlichkeiten hinterherlaufen“.
Der im Buchtitel in Hinblick auf die Inklusion verwendete Begriff „Paradigma“ bleibt leider merkwürdig unscharf; die Herausgeber kommentieren ihn lediglich in einer Fußnote, in der sie festhalten, dass Inklusion für sie bezogen auf die Literaturdidaktik ein „zwar neues, allerdings nicht revolutionäres Muster“ sei. Die Literaturdidaktik müsse sich also nicht neu erfinden, sondern verfüge bereits über hinreichende Methoden und Theorien. Gerhard Rupp stellt dem Inklusionsparadigma das „Kompetenzparadigma“ gegenüber und versucht beide in Einklang zu bringen. Diesem optimistischen Zugriff folgen freilich nicht alle Beiträge. Von Brand etwa formuliert unumwunden die These: „Inklusion und Bildungsstandards schließen sich aus.“
Nun ist fairerweise anzumerken, dass Heterogenität in den theoretischen Zugriffen bei einem so aktuellen und schillernden Thema wie Inklusion unhintergehbar ist. Die Herausgeber unternehmen in ihrem einführenden Beitrag zwar tapfer den Versuch, die Beiträge in ihrer Stoßrichtung als möglichst homogen vorzuführen, doch erscheint bereits die Subsumierung der Texte unter drei Großgruppen teilweise willkürlich: Die Grundlagenbeiträge des ersten Teils enthalten meist auch Praxisbeispiele und umgekehrt reflektieren die sich stärker auf den Literaturunterricht beziehenden Beiträge des zweiten Teils auch theoretische Grundlagen der Inklusion, wobei sich die Texte in Einzelheiten durchaus widersprechen, so etwa auch in Bezug auf den Stellenwert des sonderpädagogischen Konzepts der Elementarisierung. Im dritten Teil werden schließlich Beiträge, die sich auf die Lehramtsausbildung beziehen, mit schulischen Förderansätzen vereint. In dieser Restkategorie fällt auf, dass sich die Aufsätze mit einer Ausnahme kaum mehr als „Literaturdidaktik“ bezeichnen lassen. Die Herausgeber unternehmen dennoch den Versuch, auch diese Beiträge in Hinblick auf Literaturdidaktik zu perspektivieren. So stellt zum Beispiel Nana Eger kulturelle Bildungsangebote vor, die vor allem die Körperlichkeit ästhetischer Erfahrung fokussieren. Die Herausgeber stellen den Bezug zur Literaturdidaktik her, indem sie anmerken, dass „ein Konzept inklusiven literarischen Lernens“ die beschriebenen „ganzheitlichen bzw. emotiven Zugänge und Räume zur ästhetischen Erfahrung“ produktiv aufgreifen könne.
Der Bezug auf „ästhetische Erfahrung“ findet sich in vielen Beiträgen des Buches. Am konsequentesten auf Literaturdidaktik bezogen erscheint er im Beitrag von Ralph Olsen. Hier wird gerade das Nichtverstehen mitsamt seinem Irritationspotenzial für die Vermittlung ästhetischer Erfahrungen betont. Rainer Maria Rilkes Grabspruch wird als Beispieltext vorgestellt. Die Wahl dieses Textes überzeugt, denn er ist einerseits aufgrund seiner Kürze und Wortwahl für alle zugänglich und andererseits so enigmatisch, dass er Literaturwissenschaftler bis heute beschäftigt. Allerdings kann man sich schwer vorstellen, Literaturunterricht nur über derartige Texte zu bestreiten, und das Nichtverstehen zum Ausgangspunkt ästhetischer Erfahrungen zu machen, erscheint auch nur zum Teil plausibel. Mindestens ebenso wichtig für die ästhetische Erfahrung ist doch wohl, auch etwas (richtig!) zu verstehen – ansonsten wäre ästhetische Erfahrung entweder völlige Beliebigkeit oder Dauerfrust (oder beides).
Neben dem häufigen Bezug auf ästhetische Erfahrung lassen sich einige Gegenüberstellungen erkennen, die viele Beiträge durchziehen. Hier wäre an erster Stelle das Verhältnis von Fachdidaktik und Sonderpädagogik zu nennen. Einerseits findet sich Polemik von beiden Seiten: von Seiten der Fachdidaktik etwa gegen das Prinzip der Elementarisierung (besonders ausgeprägt im Beitrag von Olsen) und von Seiten der Sonderpädagogik mittels der Diagnose einer „Inklusionslücke“ oder gar „Inklusionswüste“ in der Fachdidaktik. Andererseits gibt es auch vermittelnde Ansätze, die Fachdidaktik und Sonderpädagogik nicht gegeneinander ausspielen, sondern die Kooperation beider Bereiche stärken wollen (beispielsweise im Beitrag von Petra Anders und Judith Riegert). Ein Grundtenor der meisten Beiträge aus literarturdidaktischer Perspektive im engeren Sinn besteht darin, auf der Komplexität der literarischen Kunstwerke zu bestehen und zum Beispiel vereinfachte Klassikerausgaben oder eine Indienstnahme von Literatur zur Förderung von Lesekompetenz abzulehnen. Als weitgehender Konsens von Literaturdidaktik und Sonderpädagogik kann hingegen die positive Bewertung eines „erweiterten Lesebegriffs“, der auch Analphabeten literarästhetische Erfahrungen ermöglichen soll, sowie eines multimedialen Zugriffs auf Literatur herausgestellt werden.
Eine weitere Gegenüberstellung findet sich zwischen Literaturdidaktik und Unterrichtspraxis. Hier ist zu beklagen, dass die Unterrichtspraxis von Seiten der Forschung kaum befragt, sondern meist belehrt wird. So konstatiert Olsen eine fast durchgängig in der Praxis zu beobachtende „fehlende Text-Methode-Schüler/in-Passung“. Auch in anderen Beiträgen wird gängige Unterrichtspraxis immer wieder als defizitär dargestellt. Auch wenn die Kritik zuträfe, erscheint sie doch wenig geeignet, einen fruchtbaren Dialog zwischen Fachdidaktik und Schulpraxis zu initiieren. Die – teilweise immensen – Vorbehalte von Lehrkräften gegen eine Fachdidaktik, die die realen Verhältnisse an einer Schule nicht zur Kenntnis nimmt, kommen hingegen in dem vorliegenden Band kaum zur Sprache. Die bisherigen Bemühungen um eine inklusive Deutschdidaktik erscheinen wenig geeignet, derartige Vorbehalte zu entkräften, da die Vorstellungen von einem Unterricht für alle mit ständiger „Arbeit am gemeinsamen Gegenstand“ teilweise utopisch erscheinen und den Lehrkräften enorm viel abverlangen. Der vorliegende Band bildet hierbei keine Ausnahme.
Eine wichtige Gemeinsamkeit fast aller Beiträge ist in diesem Zusammenhang auch das Mantra von der „Arbeit am gemeinsamen Gegenstand“. Literatur sei ein dankbarer Lerngegenstand mit vielen Erkenntnischancen und dementsprechend wird in mehreren Beiträgen auch immer wieder die Wichtigkeit von Auswahlentscheidungen betont. Geteilt wird aber auch eine konstruktivistische Auffassung des Lernens, die hervorhebt, dass jeder Lerner sich sein eigenes Bild vom Gegenstand konstruiere. Das Ergebnis dieser Reflexionen ist eine Didaktik, die – zumindest bezogen auf den Lerngegenstand Literatur – gegenüber der Vermittlung bestimmter Erkenntnisse und Lernwege skeptisch ist. Dass sich hierbei der gemeinsame Gegenstand auch wieder ein Stück weit auflöst, wird hingegen nicht diskutiert.
Die Opposition zwischen Inklusion und Bildungsstandards wurde bereits erwähnt, und womöglich handelt es sich hierbei um einen Scheingegensatz. Es ist auffällig, dass die Autoren des Bandes häufig auf Spinners elf Aspekte literarischen Lernens zurückgreifen, die von der Literaturdidaktik ja auch für die Kompetenzorientierung in Stellung gebracht wurden. Mit dem Bezug auf Spinner endet jedoch der Anschluss des sich formierenden literaturdidaktischen Inklusionsdiskurses an die aktuelle kompetenzorientierte Literaturdidaktik. Thomas Zabka etwa, der die literaturdidaktische Diskussion nach PISA auch in Hinblick auf deren kognitionswissenschaftliche Ausrichtung maßgeblich mitbestimmt hat, wird im vorliegenden Band kein einziges Mal erwähnt. Der Kognition wird im „Inklusionsparadigma“ offensichtlich eine eher untergeordnete Rolle zugewiesen. Die Positionen des Mainstreams der gegenwärtigen Literaturdidaktik sind im vorliegenden Band kaum vertreten: Man ist versucht, geradezu von einer weitgehenden Exklusion der etablierten Literaturdidaktik im aktuellen Inklusionsdiskurs zu sprechen. Es wäre also zu fragen, ob das Inklusionsparadigma nicht doch eine „Revolution“ ist, indem die Literaturdidaktik, wie sie sich aktuell darstellt, implizit verabschiedet wird. Dass es umgekehrt wohl auch explizite Vorbehalte der etablierten Literatur- beziehungsweise generell der Deutschdidaktik gegen das Inklusionsparadigma gibt, passt dabei ins Bild.
Jenseits der dargestellten, von den meisten Beiträgern geteilten Gemeinsamkeiten findet sich in den bunt gemischten Texten eine Vielzahl sehr unterschiedlicher Perspektiven und Anregungen. Oft werden, entsprechend dem von Rupp konstatierten Primat des Didaktischen und Methodischen, bestimmte Zugänge zum Lerngegenstand fokussiert, etwa durch Medienverbünde. Berbeli Wanning hingegen wählt einen thematisch-inhaltlichen Zugang zur Inklusion über Literatur, in der Epilepsie thematisiert wird. Andere Beiträge wiederum sind rein theoretischer Natur. So bemüht sich etwa Christiane Hochstadt um eine Überwindung des funktionalen Sprachbegriffs, um die ästhetischen Aspekte von Sprache stärker in den Blick zu nehmen. Je nach Erkenntnisinteresse wird der Leser die Aufsätze unterschiedlich interessant finden und dementsprechend auswählen.
Wenn im Folgenden ein Beitrag aus den 20 Aufsätzen als besonders ansprechend hervorgehoben wird, dann geschieht das aus der Perspektive eines Deutschdidaktikers, der zugleich mit halber Stelle als Deutschlehrer in einer inklusiven Gesamtschule in der Sekundarstufe tätig ist, der sich also neben theoretischen Konzepten praktikable Vorschläge erhofft, die insbesondere auch mit einer schulischen, im Inklusionsparadigma leider häufig eher geringgeschätzten „Vermittlungsperspektive“ harmonieren.
Der aus dieser Perspektive ergiebigste Beitrag von Kathrin Ulbricht, Lars Krüger, Stefanie Schick und Mona Bekteši bezieht sich auf die Sekundarstufe und stammt aus der Feder von zwei Fachleitern, einer Lehramtsstudentin und einer Lehrkraft für besondere Aufgaben an der Universität Bremen. Die Autoren stellen ein konkretes Setting für inklusiven Literaturunterricht ausführlich vor, wobei sie ihre Entscheidungen von der Textauswahl (Markus Zusak: Der Joker) über die Entfaltung des Gegenstandes im Unterricht bis hin zur Reflexion von Gelingensbedingungen ausführlich begründen. Dabei werden Fachdidaktik und Schulpraxis, obwohl jeweils durchaus kritisch dargestellt, nicht gegeneinander ausgespielt, sondern in ein sinnvolles Verhältnis gesetzt. Die Schwierigkeiten und der Arbeitsaufwand in der Praxis werden realistisch erfasst, die Entwicklung der eigenen Unterrichtskonzeption einschließlich erster praktischer Erprobung erstreckte sich zum Beispiel – „trotz regelmäßiger Treffen“ – auf anderthalb Jahre! Die Autoren betonen, dass „didaktisiertes, erprobtes Material, das den Anforderungen eines inklusiven Unterrichts genügt, veröffentlicht werden“ müsse, wobei insbesondere auch die Fachdidaktik – jenseits der Erörterung von „Grundsatzfragen“ – in der Pflicht sei. Hoffentlich wird das konkrete Material zum Unterrichtsprojekt der Autoren bald veröffentlicht!
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