Zwischen Detailakkuratesse und Bewusstseinsstrom
Zwei psycho(patho)logische Fallstudien von Gerhart Hauptmann
Von Klaus Hammer
Besprochene Bücher / Literaturhinweise„Damit war ich als Schriftsteller in die Welt getreten“, vermerkt Gerhart Hauptmann in Abenteuer meiner Jugend (1937) im Zusammenhang mit seinem Bahnwärter Thiel (1888), jener „novellistischen Studie aus dem märkischen Kiefernforst“, wie der Untertitel lautet. In der Tat, dieser Prosatext trug noch alle Züge einer naturalistischen Fallstudie und doch wies er schon neue Wege. So hat die Literaturwissenschaft denn auch die Frage gestellt: Ist der Text Beispielfall naturalistischer Prosa oder Musterfall einer die Periode des Naturalismus übergreifenden symbolischen Dichtung?
Diese Bahnwärter-Novelle spielt sich in der märkischen Gegend um Erkner ab, dort, wo Hauptmann mit seiner jungen Frau seit 1885 als freier Schriftsteller lebte. Thiel, ein Mann der Unterschicht, ungebildet und triebhaft, ursprünglich fest verwurzelt im Alltagsleben und in seiner regelmäßigen Arbeit als Bahnwärter, wird durch den Tod seiner ersten Frau, Minna, und durch die Wiederverheiratung mit der robusten, ihn nicht nur erotisch beherrschenden Lene aus dem Gleichgewicht gebracht. Gegenüber dem von ihr geborenen Kind vernachlässigt Lene den Jungen Tobias aus Thiels erster Ehe. Hilflos und nahezu willenlos steht Thiel dem Verfall seiner Lebensordnung gegenüber. In mystischer Verehrung seiner verstorbenen Frau hält er in seinem Bahnwärterhäuschen Zwiesprache mit ihr. Als Tobias durch Lenes Unachtsamkeit von einem Zug überfahren wird, steigert sich Thiels Lethargie bis zur Raserei – und in einem Akt der Geistesverwirrung bringt er Lene und ihr Kind um. Als seelisches Wrack wird er abgeführt.
Thiel ist vor allem ein psychologischer Fall. Im Konflikt zwischen geistiger und körperlicher Liebe ist der des Denkens Ungewohnte unfähig, die Zusammenhänge seines Lebens zu begreifen. Er kann sie nur dumpf, erregt oder wahnhaft erleben. Das erinnert an literarische Vorbilder bei Heinrich von Kleist und vor allem bei Georg Büchner, den Hauptmann wiederentdecken half und der in seinem Dramenfragment Woyzeck eine ähnliche psychopathologische Entwicklung vor sozialem Hintergrund dargestellt hat.
Hauptmanns Erzählweise steigert sich zu einer Verschmelzung äußerer Wahrnehmung von Natur (der Sonnenuntergang an der Bahnstrecke) und Technik (der Schnellzug, der auf schnurgeraden Gleisen aus dem unendlichen Horizont kommt und rasend wieder im Unendlichen verschwindet) mit inneren Bildern (der Ausgang wird schon vorweggenommen, wenn Thiel im peinigenden Angsttraum Minna mit einem blutigen Bündel im Arm auf den Bahngleisen erblickt) zu Symbolen des Zerstörerisch-Dämonischen. Die Verschränkung der vitalistisch-technischen und der spirituellen Sphäre gipfelt im zentralen Dingsymbol der Eisenbahnstrecke, hier wird das Schicksal des Bahnwärters zum einmaligen Fall, zur „sich ereigneten, unerhörten Begebenheit“ (Goethes Definition der Novelle).
Die Sprachnot Thiels, seine Unfähigkeit zum Dialog – oft kann er nur stammeln oder mit sich selbst sprechen –, das Aufhören der Sagbarkeit überhaupt entsprechen der Entwicklung zur Moderne. Hauptmann hat die Erzähltechnik des Bewusstseinsstroms verwendet, in der Gedanken und Gefühle assoziativ aneinandergereiht und unreflektiert wiedergegeben werden.
Das Zerstörerisch-Dämonische im Bahnwärter Thiel findet seine Fortsetzung in der novellistischen Skizze Der Apostel (1890) und, beide Texte vereint, bilden nun auch mit dem Untertitel Zwei Erzählungen die nächste Erkneraner Ausgabe der Werke Hauptmanns, die jetzt vorliegt. Als eigenständige Buchausgabe mit dem Untertitel novellistische Studien waren beide Texte seit 1892 immer wieder bei S. Fischer Berlin erschienen. Naturmystik verschmilzt nunmehr mit Christusmystik. Im Traum wird der Apostel mit Christus vereint.
1888 hatte Hauptmann in Zürich den Nervenarzt Auguste Forel kennen gelernt, in dessen Irrenanstalt Burghölzli er manche psychopathologischen Fälle studieren konnte. Zugleich kam es zu einem Zusammentreffen mit dem Naturapostel und Wanderprediger Johannes Guttzeit, dessen Predigten er am Zürcher See zuhörte. Aber am wichtigsten war wohl seine Beschäftigung mit Georg Büchner, dessen Grab er auch in Zürich besuchte, und dessen Novelle Lenz hat dann die zum Jahreswechsel 1888/89 niedergeschriebene Novelle Der Apostel wesentlich geprägt, vor allem, was die Darstellung der Innenwelt betrifft. Walter Requart und Martin Machatzke haben den Apostel als „die psychopathologische Fallstudie religiöser Wahnvorstellungen“ bezeichnet. Und nach Timm Reiner Menke fungiert Hauptmann in dieser Erzählung „mehr als klinisch-psychiatrischer Beobachter, der mit kühler Distanz die Krankheit seines Helden diagnostiziert“. Was ist an dieser Diagnose dran?
Im Mittelpunkt des Geschehens steht eine namenlose, immer mit „Er“ bezeichnete Figur, die „spät am Abend“ in Zürich eintrifft und sich am nächsten Tag „um Mittag“ wieder aus der Erzählung verabschiedet. Dieser Protagonist, der sich wenig später als Wanderprediger zu erkennen gibt, erlebt in dieser kurzen Zeitspanne beim Aufstieg in die Bergwelt und zurück zu den Menschen – so auch Anna Fattori – eine innere mystische Erleuchtung als Christus-Figur und zugleich pathologische Krise, die sich in Erinnerungssplittern, traumhaft-visionären Selbstgesprächen, ja Halluzinationen offenbart. Wie Bahnwärter Thiel bildet Der Apostel – so stellt Menke fest – ein „ungewöhnlich frühes Zeugnis der modernen Bewusstseinsstrom-Technik“. Hat der Eingangssatz – wie in Büchners Lenz-Novelle – noch die distanzierte Erzählperspektive, folgen dann in geballten Nominalgruppen die Eindrücke und Überlegungen der Er-Figur aus dessen verquerer, zuweilen absurd anmutender Sicht. Gestaltet Hauptmann die Schizophrenie seiner Figur als bildliche Abbreviatur einer tatsächlichen Erfahrung dieser Vorkriegszeit: als Entfremdung, als Ich-Spaltung? Sie hat das Maß für den Raum verloren, in dem sie sich bewegt, und ihr zur Hypertrophie neigendes Selbstgefühl ist mit den objektiv gegebenen Größenordnungen in Kollision geraten. Der voranschreitende Prozess der Ich-Spaltung, durch den vermehrten Gebrauch des Pronomens „es“ („Als es ihn losließ, blieb nichts Festes mehr in ihm“) auch stilistisch signalisiert, zeigt: Diese Figur ist nicht mehr für sich verantwortlich.
Aber vertritt sie eigentlich nicht doch ein humanistisches Anliegen? „Zu warnen vor dem Bruder- und Schwestermord, hinzuweisen auf den Weg zum Frieden war eine Forderung des Gewissens“. Doch sein Körper war dem Protagonisten „wie etwas Fremdes“ geworden, sein Bewusstsein hatte sich aus der Realität ausgeklinkt. „Tiefer und tiefer ging er in sich hinein, bis er in Räume eindrang, weit hoch unendlich“, und in diese „zweite Welt“ war er so tief versunken, dass er sich selbst zum Propheten ernannte und die Wirklichkeit nur noch als virtuelle Welt vernahm. Was interessierte hier Hauptmann mehr: die christliche Botschaft zum friedlichen Zusammenleben der Menschen oder der psychopathologische Verfall eines Menschen als zeitsymptomatisches Zeichen einer Ich-Spaltung? War Büchner schließlich wieder zu einem nüchternen Berichtsstil zurückgekehrt, der ihm Distanz verschaffte gegenüber dem ausbrechenden Wahnsinn seiner Lenz-Figur, so endet Hauptmann mit einer Schluss-Apotheose: „Er horchte lächelnd wie auf eines alten Freundes Stimme, und doch war es Gottvater, der mit seinem Sohne redete“. Das messianische Sendungsbewusstsein des Wanderpredigers wird als krankhafte Erscheinungsform herausgestellt, und zwar nicht durch einen auktorialen Erzähler, sondern durch das widersprüchliche Verhalten dieser Figur selbst, die in einer eigenen inneren Welt lebt und den Bezug zur Außenwelt völlig verloren hat. Als Guttzeit sich über sein angebliches Konterfei in dieser Novelle bei Hauptmann beschwerte, ließ ihn dieser wissen, dass sich sein Text nicht auf „photographische“ Aspekte reduzieren ließe. Es sei ihm um den Anspruch gegangen, den Konflikt zwischen Wahn und Wirklichkeit, Schizophrenie und Realität an einer literarischen Figur untersuchen zu können.
Das Interesse der Schriftsteller um 1900 an den Vorgängen des Unbewussten ist wohl weniger durch eine direkte Beeinflussung Sigmund Freuds erklärbar als vielmehr durch eine allgemeine Ausrichtung der Zeitgenossen auf psychopathologische Phänomene. Als leidenschaftlicher Beobachter der Menschen bemühte sich Hauptmann, durch die äußeren Hüllen hindurchzusehen und – wie er sagt – den „psychischen Akt“ zu zeichnen. Aber der Horizont einer neuen Sinnfülle unter dem Namen Gottes wird so kaum erreichbar sein. Erst mit seinem Roman „Der Narr in Christo Emanuel Quint“ (1910) sollte es Hauptmann gelingen, durch einen eingeschalteten Chronisten Nähe und Abstand, Verständnis und Kritik seiner Christus-Figur eindeutiger zu differenzieren und die Leser – wie Quints Jünger – die Zweideutigkeit der Romanhandlung erkennen zu lassen.
Auf wenigen Seiten gelingt es Stefan Rohlfs wieder, ein schlüssiges, mehr auf die Entstehungsgeschichte beider Texte konzentriertes und weniger deren Interpretations-Möglichkeiten andeutendes Nachwort zu geben.
Als nächste Erkneraner Ausgabe ist bereits der Roman Der Narr in Christo Emanuel Quint für das Frühjahr 2024 angekündigt – warum aber ohne die so stimmigen Zeichnungen von Heinrich Ehmsen, in denen expressive Züge mit neusachlichen und veristisch-sozialkritischen Elementen zusammenkommen? Schon für den Bahnwärter Thiel und den Apostel hätte man auf Illustrationen von Hans Baluschek oder Olaf Gulbransson zurückgreifen können. Denn gerade die bildlichen Erwiderungen sind es doch wohl, die der Erkneraner Ausgabe den so geschätzten bibliophilen Charakter geben.
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