Reden über das Schreiben ist nicht das Eigentliche
Mit dem siebenten Band, der die Essays, Reden und Interviews des Autors versammelt, findet die Wolfgang-Hilbig-Werkausgabe im S. Fischer Verlag ihren Abschluss
Von Dietmar Jacobsen
Besprochene Bücher / Literaturhinweise„Ein Enzyklopädist des Prekariats, ein letztes Universalgenie allen Nichtwissens, ein minotaurischer Odysseus“ – Dichterkollege Wilhelm Bartsch trägt am Ende seines umfangreichen Nachworts zum siebenten und letzten Band der Wolfgang-Hilbig-Werkausgabe des S. Fischer Verlags dick auf. Aber er hat Recht: Mit dem 1941 im thüringischen Meuselwitz geborenen „Arbeiterschriftsteller“, der sich dagegen verwahrte, einer zu sein – „Diesen Titel hasse ich nun wirklich wie die Pest“, heißt es in einem Interview –, lässt sich tatsächlich kaum ein anderer Autor der deutschsprachigen Literatur der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts vergleichen. Hilbig, ein Getriebener des Schreibens – „Ich halte es nicht aus, über kurze Zeiträume nicht zu schreiben. Dann fange ich an zu verwahrlosen“, antwortet er 2003 auf eine Frage von Günter Gaus –, hat, nachdem er Jahrzehnte fast ausschließlich nur für die Schublade schrieb, von dem Moment an, da er in der literarischen Öffentlichkeit erschien, kurioserweise als Ostautor im Westen, Erstaunliches vollbracht.
Über das Drumherum seines Lyrik- und Prosawerks gibt nun der „Schlussstein“ der ursprünglich zu einem früheren Termin – und weitaus weniger umfangreich – angekündigten Werkausgabe seines Hausverlags Auskunft. Gerade noch zurecht ist das Buch damit zum 80. Geburtstag des Autors am 31. August 2021 gekommen. In drei Abteilungen – 24 Texten unter der Rubrik „Essays“ folgen 12 (hauptsächlich Preis-) Reden und 36 Gespräche aus 22 Jahren – fasst es den „Theoretiker“ Hilbig zusammen, wobei „Theoretiker“ eigentlich schon zu kurz greift, sind doch Hilbigs Werke und seine Reflexionen über das Schreiben nur schwer voneinander zu trennen, ist das Essayistische von Beginn an auch ein Stilzug seines fiktionalen Schreibens.
Dabei kann von Zugeneigtsein zu Äußerungen rund um seine Person und das Schreiben in Wolfgang Hilbigs Fall eher nicht die Rede sein. Auf die Frage, ob er sich als „soziales Wesen“ sehe, antwortet er im bereits erwähnten Gaus-Gespräch: „Ich glaube nicht. Oder ich müßte eigentlich antworten: Ich weiß es, daß ich keines bin.“ Die dem Schriftstellerberuf eigene Egozentrik schließe „allzu viele Kontakte mit anderen Menschen“ aus. Denn ein sozial umtriebigeres Leben als das von ihm präferierte hindere einen Autor an seiner wahren Berufung, dem Schreiben. Man merkt es einigen Gesprächen aus den letzten Jahren an, dass Hilbig, statt sich immer wieder demselben Fragekanon zu stellen, lieber allein gewesen wäre und geschrieben hätte – nicht zufällig lautet seine letzte Antwort auf die Frage eines Interviewers: „Am Schreibtisch fühle ich mich am wohlsten, ja.“
Und dennoch nehmen die versammelten Interviews des Autors nicht nur den größten Raum des vorliegenden Bandes ein, sondern wirken beim Lesen auch am frischesten: Eben weil sie Privates mit Gesellschaftlichem, Offenheit mit Zurückhaltung auf eine Weise miteinander verbinden, dass man den Menschen Wolfgang Hilbig hier deutlicher durchschimmern sieht als in seinen – teilweise bewusst provokanten – Reden und den sorgsam ausformulierten und deshalb weniger spontanen Essays des ersten Buchteils.
Hilbig, der 1985 mit einem vorerst auf ein Jahr begrenzten Visum in die Bundesrepublik kam, fühlte sich weder in diesem noch in dem anderen Deutschland heimisch. Er war ein Wanderer zwischen den Welten, eigensinnig bis zur Sturheit, radikal, wenn es um sein Schreiben ging, unbeeindruckt von den Moden der jeweiligen Zeit und mit einer in seiner Biographie wurzelnden „Veranlagung zur Einsamkeit“ ausgerüstet. Ein sensibler Mensch, der „aus einer finsteren Industrielandschaft des Ostens in die strahlende Fußgängerzone von Nürnberg“ geriet und hier das erlebte, was fünf Jahre später den meisten der zum ersten Mal in den Westen aufbrechenden DDR-Bürger passierte: eine sich als Reizüberflutung tarnende Entfremdung. „Die DDR-Bürger haben ihre Identität im Westfernsehen gesucht, besser: ihr Ziel“, beschreibt er in einem Interview eine Haltung, die nach Wende und Wiedervereinigung schnell alles Euphorische verlor.
Dass Wolfgang Hilbig die neue Zeit als ein Provisorium empfand, wie er seinen im Jahr 2000 erschienenen Roman betitelte, in dem er, stark autobiographisch grundiert und von schonungsloser Offenheit geprägt, nicht nur das erste Nachwendejahrzehnt, sondern das ganze zurückliegende Jahrhundert bilanzierend in den Blick nahm, deutet sich bereits in vielen Reden und Essays aus den 1990er Jahren an. Nicht immer so zum offenen Widerspruch herausfordernd wie mit dem in der Kamenzer Lessing-Preis-Rede gewählten Vergleich des Aktes der Wiedervereinigung als einer „Art Unzucht mit Abhängigen“, aber eindeutig Position beziehend auf der Seite jener, die sich, als noch geträumt werden durfte, wie es weitergehen könnte mit dem maroden Staatswesen DDR, eine andere Gesellschaft vorzustellen wagten als die, welche sie hinter sich gelassen hatten, aber auch als die, in der sie schlussendlich, dem Willen der Mehrheit folgend, landeten.
Aus der Tatsache, dass diese Mehrheit im ersten Jahrzehnt nach der deutschen Wiedervereinigung einen massiven Desillusionierungsprozess durchmachen musste, indem man plötzlich merkte, dass Tugenden, die in der neuen Welt unabdingbar waren, von den Hinzugekommenen erst mühsam erlernt werden mussten, resultiert in Hilbigs Augen nicht nur die alsbald aufkommende „Demokratie-Verdrossenheit“ vieler ehemaliger DDR-Bürger, sondern auch ein neues Selbstbewusstsein der Menschen im Osten. In einem längeren Gespräch mit Werner Jung aus dem Jahr 1994 findet sich dazu die Bemerkung: „Die Freiheit, die jetzt gekommen ist – sie ist ja zweifellos gekommen, bei allen Abstrichen –, scheint plötzlich die Möglichkeit zu schaffen, sich als DDR-Mensch in Deutschland zu bewegen. Das ist eine Art Widerstand, ich kann das nur gut finden.“ Drei Jahre später wird diese Überzeugung in Kamenz noch ein wenig deutlicher formuliert: „Vielleicht wird uns eines Tages die Erkenntnis kommen, daß erst jener Beitritt zur Bundesrepublik uns zu den DDR-Bürgern hat werden lassen, die wir nie gewesen sind, jedenfalls nicht, so lange wir dazu gezwungen waren.“
Auch Wolfgang Hilbig betrat die Szene übrigens nicht als fertiger Autor. Das veranschaulicht sehr schön jene kurze Gedichtinterpretation, mit der der vorliegende Band beginnt. Entnommen dem 1965 in Altenburg erschienenen zwölften Heft von Wir schreiben. Mitteilungen des Zirkels schreibender Arbeiter am Kulturhaus der Eisenbahner und offensichtlich nicht für eine größere Öffentlichkeit gedacht, analysiert der 24-Jährige hier auf knapp zwei Seiten das – u. a. auch von der ostdeutschen Vorzeige-Rockgruppe Puhdys in einem Song verarbeitete – in der DDR äußerst populäre Louis-Fürnberg-Gedicht Alt möcht ich werden. Hält man gegen diese arg bemühten, erstsemesterhaften Zeilen, die in der „Meinung“ kulminieren, „daß dieses Gedicht von der technischen wie von der bildhaften Seite her als sehr gelungen bezeichnet werden kann“, etwa die den umfangreichsten Beitrag des Essayteils bildenden Frankfurter Poetikvorlesungen Abriß der Kritik aus dem Jahr 1995, wird schnell klar, welch fulminante Entwicklung der Autor in den zwischen den beiden Texten liegenden 40 Jahren nicht nur, aber auch sprachlich genommen hat. Für die keineswegs selbstverständliche Aufnahme des Textes in den Band darf man deshalb besonders dankbar sein, lässt sich so doch über Entwicklungslinien diskutieren, die weder an Hilbigs Prosa noch in seiner Lyrik so stark ins Auge fallen.
Vieles in dem mehr als 800 Seiten umfassenden Band darf man als Antwort auf Fragen lesen, die von Hilbigs fiktionalem Werk gestellt werden – etwa seine Ausführungen zur Erzählung Der Brief von 1985, seine Auseinandersetzungen mit Büchern von James Joyce, Alexander Solschenizyn und denen seines Freundes und langjährigen Förderers Franz Fühmann. Auch seine „Antwort“ auf den berühmten Lord-Chandos-Brief Hugo von Hofmannsthals reagiert ganz direkt auf Wolfgang Hilbigs – auch durch sein Herkommen bedingte – Sonderstellung in der deutschsprachigen Literatur. Etwa wenn sich darin der Satz findet: „Da, wo ich lebe, weiß ich niemanden, der so denkt wie ich … und sollte es da noch den oder jenen geben, so weiß er es nicht von mir.“
Dass das Gefühl der Isolation, das hier zum Ausdruck kommt, durchaus auch schmerzen konnte, weiß jeder, der sich einmal auf die Bücher Wolfgang Hilbigs eingelassen hat. Nun sind zu seinen Prosawerken und Gedichten, endlich zwischen zwei Buchdeckeln versammelt und kongenial benachwortet, auch seine zahlreichen nichtfiktionalen Texte hinzugekommen und laden zur Auseinandersetzung ein. Literarisch Interessierte sollten sich nicht scheuen, diese Einladung anzunehmen. Denn man darf einem seiner Sätze aus der Dankrede zum Georg-Büchner-Preis 2002 gerne zustimmen. Er lautet: „Tatsächlich, der Platz der Literatur ist der Monolog: es gibt da einen einsamen Schriftsteller, Poeten oder Dichter, der das Verbot des Alleinseins übertritt und seine Gedanken zu Papier bringt.“ Doch ist jeder Monolog, von Lesern zur Kenntnis genommen, im Grunde nicht bereits ein Dialog?
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