… and of all the forgotten faces

Paul Auster schreibt mit „Baumgartner“ ein schmales, aber wunderbares Alterswerk

Von Heribert HovenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Heribert Hoven

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Nun, da die Großen der englischsprachigen Literatur nach und nach das Zeitliche segnen, rückt der ewig jugendlich wirkende Paul Auster, Jahrgang 1947, in die vordere Reihe der schreibenden Zunft. Dass er diese Position in Deutschland bereits seit längerem einnimmt, ist bekannt und wird auch durch kleine Hinweise in seinem jüngsten Roman hervorgehoben, etwa wenn sein Haupt- und Titelheld im Bücherregal ein Stück der Berliner Mauer aufbewahrt. Weitere Bezüge zur europäischen Kultur folgen.

Während sich jedoch manche der alternden Schriftsteller – angefangen von Goethe über Philipp Roth bis Martin Walser – in ihren Alterswerken gern wie Lustgreise aufführen und entsprechend eine letzte Beziehung zu einer deutlich jüngeren Partnerin imaginieren, geht Auster einen anderen Weg. Er lässt seinen Protagonisten „Baumgartner“ der Aufforderung eines Vorgängers, des Schriftstellers Thomas Wolfe, folgen: „Schau heimwärts, Engel!“  Wir begegnen also dem 71-jährigen Baumgartner auf den ersten Seiten in einer Situation, die ganz zart eine beginnende Altersdemenz ankündigt. Diesem Krankheitsbild entsprechend, erinnert sich der Princetoner Philosophieprofessor kaum mehr an soeben noch gefasste Vorsätze, dafür umso mehr an die Ereignisse, die sein Leben bestimmten, besonders aber an all die vergangenen Gesichter, die mit ihm im Orkus des Vergessens verschwinden werden. Diese werden stationsweise wehmütig erinnert, teils novellistisch zugespitzt, vor allem aber mit größter Detailgenauigkeit wiedergegeben. Angefangen von seiner in den Hippiejahren beginnenden Ehe mit der lebenslustigen Anna Blume (Schwitters lässt grüßen), deren Liebes- und schriftstellerisches Berufsleben u. a. wiederum in bewegenden Briefen lebendig wird, über einen persönlichen Bericht von einer Reise „in die blutgetränkten Landstriche Osteuropas, die zentrale Schreckenszone der Gräuel des 20. Jahrhunderts“ im Jahr 2017, bis hin zu Baumgartners rührenden und vergeblichen Versuchen, nach dem Unfalltod seiner Gattin noch einmal eine neue Partnerschaft zu wagen. Da Baumgartner Phänomenologe ist, verwundert es kaum, dass er sich tief in die Familiengeschichte eingräbt. Wenn dabei als Mutter eine Ruth Auster auftaucht, glaubt man auf eine autofiktionale Absicht des Autors zu stoßen, so wie auch andere Parallelen zum Leben und Werk Paul Austers unübersehbar sind.

Die weit verzweigte Geschichte der jüdischen Einwandererfamilie aus dem österreichisch-ungarischen Galizien wiederum wird mit ihren Höhen und Tiefen, Hoffnungen und Verlusten recht locker, aber aus einer altersmilden und teilweise humorigen Perspektive erzählt. Dabei wird der amerikanische Traum immer getragen von selbstbewussten Frauen, die sich bei allen Zwängen einer Aufsteigergesellschaft stets selbst treu bleiben, „sich die Butter nicht vom Brot nehmen lassen und entschieden für ihre Überzeugungen“ eintreten. Ein gut gelaunter auktorialer Erzähler führt den Leser durch das Beziehungsgeflecht eines Intellektuellenpaares, das einander an den Produktionen des anderen teilhaben lässt, etwa an den Gedichten Annas, die Baumgartner erst posthum veröffentlichen lässt und die der bewährte Auster-Übersetzer Werner Schmitz hier einfühlsam ins Deutsche überträgt. In einem Wechselspiel zwischen Fiktion und Wirklichkeit, das natürlich bei einem Rückblick auf ein insgesamt gelungenes Leben immer zu unterstellen ist, gewinnen wir überdies Einblicke in die Bedingungen des künstlerischen Schaffensprozesses. „Zweifel, ja, Hader mit sich selbst, ja, aber welcher Schriftsteller oder Künstler lebt nicht ständig in diesem unsicheren Gelände zwischen Selbstvertrauen und Selbstverachtung?“

Am Ende fügen sich die zwei für Austers Werk typischen Schreibweisen Reflexion und Narration zu einer Engführung zusammen: Zum einen sammelt der Gelehrte Notizen für ein letztes Buchprojekt über Fragen der Verwandtschaft zwischen Geist und Maschine, Reflexionen über das Problem der Verantwortung angesichts einer drohenden Herrschaft des Algorithmus. Zum anderen bahnt sich ein letzter biographischer Höhepunkt an, die sorgenvoll vorbereitete Begegnung mit einer überaus eifrigen Studentin, die eine Dissertation über den umfangreichen schriftstellerischen Nachlass seiner Frau schreiben will. Ob die beiden jemals zusammenkommen, lässt das spannungsreiche Finale offen.

Das erinnerungssatte Tableau amerikanischen Lebens der vergangenen 70 Jahre jedenfalls gehört mit zu den besten Werken des Schriftstellers Paul Auster.

Titelbild

Paul Auster: Baumgartner.
Roman.
Aus dem Englischen von Werner Schmitz.
Rowohlt Verlag, Hamburg 2023.
208 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783498003937

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