Vorgeschichte einer ungeheuerlichen Tat

Alfred Döblins "Die beiden Freundinnen und ihr Giftmord" im Nachdruck

Von Yvonne WübbenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Yvonne Wübben

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Heute gilt nicht mehr, was der Münchener Germanist Walter Müller-Seidel 1991 noch ohne Bedenken feststellen konnte: daß Alfred Döblins Text über zwei Giftmörderinnen seinem hohen literarischen Rang zum Trotz wenig Beachtung gefunden hat. Jetzt liegt das kleine Buch im Patmos Verlag vor. Nur 7,95 Euro kostet der Lektüregenuss. Der Verlag feierte unlängst sein sechzigjähriges Bestehen, auch Döblin hat ein Jubiläum und so ist der Text eine denkbar gute Wahl, wenngleich nicht originell und ohne Vorläufer: 1971 brachte Suhrkamp, 1978 Rowohlt, 1992 der Walter-Verlag, 2001 schließlich Artemis & Winkler das Meisterwerk heraus.

"Die beiden Freundinnen und ihr Giftmord" nennt Döblin die auf einem authentischen Fall aufbauende Geschichte von zwei Frauen, die einen Mann vergiften. Sie gründet auf einem uralten Mythos, der (wie vieles und manchmal sogar die Ehe) im Paradies begann und mit der Vergiftung Adams endete. In misogyneren Fortschreibungen wurde der Dritte des mythischen Bundes, die Schlange, gern zum Attribut der weiblichen Giftmischerin erhoben: "Blickt harmlos wie die Blume, doch sei die Schlange drunter", umschrieb Macbeth die quasinatürliche Allianz von Frau und Gift.

Anders Alfred Döblin: In seinem 1924 erschienenen Buch vollzieht sich der weibliche Giftmord auch aus einer Dreiecksbeziehung. An die Stelle der Schlange tritt jedoch eine zweite Frau. Elli Klein und Margarete Nebbe verband eine lesbische Beziehung miteinander - und als Komplizinnen brachten sie den Dritten, den Ehemann Klein, um.

Während sich die Öffentlichkeit damals vor allem für den Mordprozess und das ausgesprochen milde Strafmaß interessierte, richtet Döblin den Blick auf die Vorgeschichte der ungeheuerlichen Tat. Auf mehr als siebzig von insgesamt hundertzwanzig Seiten werden Szenen einer Ehe nachbuchstabiert, einer echten Höllenqual der Intimität, die von Rücksichtslosigkeit, Gewaltexzessen und Vernichtungswut gekennzeichnet wird. Schon Döblins Ausstellung des kleinbürgerlichen Milieus macht deutlich, dass der Sadismus hier keine ins Ästhetische gewendete Verweigerung bürgerlicher Ehe-Routinen und der ihnen eigenen Reproduktionslogik darstellt. In Döblins Mikrokosmos der Gewalt fehlt den Figuren das freie, spielerische Verfügen über solche Selbstentwürfe, jene souveräne Willkür also, die zur Illusion der Freiheit gehört.

"Sachlich und unsentimental ergreifend" - so charakterisierte Robert Musil den Text. Wie in das Oxymoron 'Hassliebe' virtuos und nüchtern psychopathologischer Zündstoff eingelagert werden konnte, wie aus dem Themenspektrum von Alkoholismus, Perversion und Minderwertigkeit Pathos erwächst, das dem des Sozialdramas in nichts nachsteht, macht das Geheimnis des Textes aus. Ohne sozialkritisch zu sein, rührt er an den Grundfesten der Gesellschaft und säht Zweifel darüber, wie es um Moral, psychische Gesundheit und rechtliche Ordnung in der Weimarer Republik bestellt war.

Doch das ist nicht alles: Seine Modernität oder Faszination geht zu großen Teilen von der eigenwilligen und für das Genre der Kriminalgeschichte eher untypischen Komposition aus, vom Arrangement verschiedener Texteinheiten, die sich nicht zum Ganzen fügen, sondern sperrig als sich relativierende und miteinander rivalisierende Momente gegeneinander gestellt werden. So als würden damit bestimmte Erkenntnisformen stillgestellt und in erkenntniskritischen Überlegungen zersetzt. In einer zeitgenössischen Rezension heißt es über Döblins Text deshalb wohl auch: "Sein ganzes Buch ist nichts anders als ein großes Fragezeichen, hinter diese und hinter alle Tatsachen." Bedauerliche Tatsache ist allerdings, daß dieses Fragezeichen in bislang erschienenen Leseausgaben oft keine klareren Konturen erhielt. Auch die nun vorliegende Ausgabe lässt die Komplexität des Textes geradezu verschwinden. Sie stellt das Sensationelle aus und suggeriert, der wesentliche Akzent liege auf der spektakulären Fallgeschichte und ihrer 'Ästhetik des Schrecklichen'.

Döblins einfacher Stil täuscht über die komplexe Verflechtung wissenshistorischer Diskurse, die den Text gleichermaßen auszeichnen, hinweg. Gerade deshalb hätte man sich aber eine (diesen ersten Leseeindruck korrigierende) kommentierende Ausgabe mit quellenhistorischem Material gewünscht. Denn Döblins Rekurs auf psychiatrische, juristische, naturphilosophische, erzähl- bzw. erkenntnistheoretische sowie charakterologische Diskurse wirft zweifellos mehr Fragen auf, als ein noch so informiertes und kompetentes Nachwort beantworten kann. Welche Elemente des Infantilismus werden in der Figur Elli präsentiert? Wie verhält sich der hier dargestellte Zusammenhang von Infantilismus und Schuldfähigkeit zur damals aktuellen strafrechtlichen Diskussion? Woraus bezieht der Text seine Kritik an der psychiatrischen Diagnostik und dem Tatsachenbegriff?

Diesen und anderen Fragen geht das (bereits 2001 publizierte) Nachwort des ehemaligen Leiters der Marbacher Handschriftenabteilung Jochen Meyer auf eindrucksvolle Weise nach. Jetzt möchte man aber erst recht mehr wissen über Döblins Prozessabschrift und andere von ihm konsultierte Quellen. Das Fehlen weiterer Materialen und eines Kommentars kann man dieser Ausgabe freilich nicht zum Vorwurf machen. Ein Umstand scheint dennoch merk- und kritikwürdig. In der Edition, die angibt, dem Originaltext von 1924 zu folgen, fehlt etwas: und zwar die so genannte räumliche Darstellung der sich wandelnden Seelenzustände der Hauptbeteiligten in siebzehn Phasen. Warum wird dieser Text- und Bildteil, der naturphilosophische Momente in Döblins Anthropologie vorstellt, in Nachdrucken so oft ausgespart? Weil er nicht mehr von selbstbewussten, intellegiblen Menschen, sondern von "Ballungen" und "Seelenenergien" handelt, die sich je unterschiedlich konfigurieren können und über keine Willensfreiheit verfügen?

Für heutige Leser mögen diese Stellen zu den dunkleren zählen und einer Kommentierung am dringendsten bedürfen. Abgesehen davon sind unausgewiesene Textauslassungen immer unschöne Irritationen in einer sich ansonsten schön präsentierenden Ausgabe, die, teuren Klassikerausgaben gleich, mit einem serpentinenroten Samtband verziert ist. Als Ausstiegshilfe wird man dieses Lesenzeichen allerdings kaum benötigen, weil der Text in den Bann zieht, weil sich beim Lesen ein Sog einstellt, gegen den man allemal machtlos ist.


Titelbild

Alfred Döblin: Die beiden Freundinnen und ihr Giftmord.
Artemis & Winkler Verlag, Düsseldorf 2007.
120 Seiten, 7,95 EUR.
ISBN-13: 9783538063310

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