Das kritische Korrektiv

Über Postkolonialismus und Literaturwissenschaft

Von Monika AlbrechtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Monika Albrecht

Die große Anziehungskraft, die seit fast drei Jahrzehnten vom Postkolonialismus ausgeht, verdankt sich der Bereicherung, die jeden tatsächlichen Paradigmenwechsel kennzeichnet. Bei der literaturwissenschaftlichen Arbeit wird diese Faszination immer wieder unmittelbar spürbar, wenn sich eingehend erforschte Texte bei der Wiederlektüre aus postkolonialer Sicht auf einmal in einem anderen Licht darstellen – wenn man also beispielsweise in Wolfgang Koeppens „Tauben im Gras“ ein sozusagen bislang unbekanntes Zitat wie dieses entdeckt: „Majestät erwähnte in seiner Rede Afrika. Ich sage Kolonialpapiere-“. Wenige Stichworte nur, und doch wird plötzlich deutlich, dass das zentrale Problem einer Figur, nämlich der finanzielle Niedergang ihrer Familie, durch Fehlspekulationen der Vorfahren mit Kolonialpapieren verursacht ist.

Mit der anhaltenden Faszination postkolonialer Fragestellungen erwuchs auch die Notwendigkeit zu theoretischen und methodologischen Reflexionen. Insbesondere werden seit einiger Zeit Überlegungen dazu angestellt, worin das Besondere einer deutschen interkulturellen oder postkolonial orientierten Literaturwissenschaft bestehen könnte. In diesem Kontext wird allerdings meist davon ausgegangen, dass es sich bei den postkolonialen Studien um einen reinen Wissenschaftsimport handelt. Doch auch wenn die Prämisse nicht gänzlich unbegründet ist, verstellt sie doch den Blick für die tatsächliche Dimension des Forschungsfeldes. Notwendig wäre dagegen erstens, diese Auffassung kritisch zu hinterfragen – wobei es natürlich nicht um kleinliche Ausdifferenzierung wissenschaftlicher Leistung nach Nationen gehen kann. Es ist jedoch zu bedenken, dass nicht alle Arbeiten, die sich mit postkolonialen Themen beschäftigen, auch unter der Bezeichnung ,postkolonial‘ erscheinen – weder im angloamerikanischen noch im deutschsprachigen Raum. Im Zuge einer ersten Bilanz der von den Postcolonial Studies bearbeiteten Themen und Arbeitsfelder haben Bill Ashcroft, Gareth Griffiths und Helen Tiffin zudem schon vor über zehn Jahren betont, dass keines dieser Themen an sich schon notwendig postkolonial sei, vielmehr erst alle zusammen das komplexe Gewebe des postkolonialen Arbeitsfeldes ausmachen. Die von dem australischen Autorenteam genannten Themen und Arbeitsfelder sind auch im deutschen Sprachraum bearbeitet worden (ohne Anspruch auf Vollständigkeit: in der Ethnologie und Soziologie, den Gender Studies, der Literaturwissenschaft, Geschichte, Psychoanalyse, Politologie und Philosophie), wobei Parallelen und Divergenzen noch kaum im einzelnen untersucht worden sind. In unserer Disziplin wäre beispielsweise nach dem Verhältnis von interkultureller Germanistik (vor allem der neueren Richtungen) und postkolonialer Literaturwissenschaft zu fragen. Eine andere Frage wäre, inwiefern etwa die literarische Exotismusforschung oder die Forschung zum Konzept des Fremden im internationalen Feld des Postkolonialismus zu verorten wären. Festzustehen scheint vor diesem Hintergrund zunächst einmal nur eines: Was im deutschen Wissenschaftsbetrieb importiert wurde, ist vor allem der Begriff „postkolonial“.

In der deutschsprachigen Sektion der postkolonialen Studien zeichnen sich zumindest zwei Richtungen deutlich ab: Die eine tendiert dazu, postkoloniale Ansätze aus dem angloamerikanischen Raum mehr oder weniger unkritisch zu übernehmen, die andere verwehrt sich gegen bestimmte, allerdings zentrale Aspekte. In der Germanistik und Anglistik gilt die Kritik vor allem dogmatischen Vorstellungen von Aufgabe und Zielsetzung einer postkolonialen Literaturwissenschaft und dort besonders der Reduktion literarischer Texte auf ihre „eingestandene oder nicht-eingestandene Komplizenschaft mit dem Diskurs und der Mentalität des Kolonialismus“ (Reckwitz). Kritisiert wird entsprechend, dass „ein Gewinn an politischer Einsicht“ sehr häufig „mit einem Verlust an textanalytischer Komplexität erkauft“ wird (Lubrich), wobei dann immer auch die Frage im Raum steht, wie weit Einsicht und Kritik tatsächlich tragen, wenn die eingehende Analyse komplexer Strukturen letztlich doch andere und gegenläufige Lesarten ans Licht bringt. Zweitens wäre entsprechend notwendig, dass eine deutsche postkoloniale Literaturwissenschaft ihren Untersuchungsgegenstand gegen oberflächliche Festlegung auf vermeintlich darin zum Ausdruck kommende ,Meinungen‘ verteidigt und das herausarbeitet, was Herbert Uerlings das „postkoloniale Potential“ eines Textes genannt hat. Die Frage nach einer Teilhabe an den postkolonialen Studien wäre also unter diesem Gesichtspunkt dahingehend zu beantworten, die „literaturwissenschaftliche Expertise“ im internationalen Feld der postkolonialen Studien zu forcieren (Reckwitz).

Die Reduktion literarischer Texte auf ihre Komplizenschaft mit dem Kolonialismus findet sich meist in Arbeiten, die gleichzeitig von einem konstitutiven Eurozentrismus, Universalismus, Rassismus, und so weiter jeglichen westlichen Denkens ausgehen. Notwendig wäre also drittens, in der postkoloniale Theorie und Praxis – wie das ja vielfach auch bereits geschieht – die kritischen Traditionslinien der deutschsprachigen Literatur und Kultur in den Blick zu nehmen und zu fragen, welche alternativen Angebote sie dem kolonialen und neokolonialen Diskurs entgegenzustellen haben. Denn zwar ist Analyse und Kritik des nicht Akzeptablen (hier der Unrechtsgeschichte des Kolonialismus) unbedingt notwendig, doch wenn Veränderung das Ziel ist, sind auch Ideen gefragt, die darüber hinaus- und weiterführen. Die Aufmerksamkeit postkolonial orientierter Wissenschaft muss also auch alternativen Visionen zur vorherrschenden Ideologie gelten, in unserem Falle also deren Manifestationen in literarischen und anderen Zeugnissen in Vergangenheit und Gegenwart.

Zusammenfassen ließen sich die beiden zuletzt genannten Vorschläge dahingehend, dass die interkulturelle oder postkoloniale Literaturwissenschaft ein kritisches Korrektiv zu bestimmten Richtungen des postkolonialen Theorieimports sein sollte, wozu auch gehören würde, dass vermeintlich gesicherte Prämissen auf ihre Tragfähigkeit zu prüfen sind. Denn bei aller Faszination durch eine historische Perspektive, die, indem sie sich an der kolonialen Vergangenheit mit allen ihren theoretischen und praktischen Implikationen orientiert, ein anderes Licht auf ein zu untersuchendes Thema wirft, sind doch auch die Mängel in diesem Ansatz nicht zu übersehen. Hierzu sollen abschließend zwei Beispiele genannt werden:

Das erste betrifft die These der kolonialen beziehungsweise postkolonialen Amnesie: Das „kulturelle Gedächtnis“ in Deutschland, so wird vielfach behauptet, sei in der „zweiten nachkolonialen Phase, die nach dem Zweiten Weltkrieg begann und bis weit in die 1960er Jahre hineinreichte“, von „Prozessen des Vergessens befallen“ (Zantop). Dagegen lassen sich allein aus dem Zeitschriftenarchiv der Münsteraner Bibliothek stapelweise Artikel zum europäischen und ehemaligen deutschen Kolonialismus aus genau dieser Zeit zusammentragen, womit definitiv gesagt werden kann, dass damals keine postkoloniale Amnesie herrschte. Es lohnt sich also, im Sinne eines kritischen Korrektivs vermeintlich gesicherte Annahmen der Postcolonial Studies auf ihre Tragfähigkeit hin zu befragen.

Das zweite Beispiel betrifft eine ständig weitergeschriebene Behauptung aus dem Kontext postkolonialer Eurozentrismuskritik, die besagt, dass nichtwestliche Geschichte und Gesellschaften aus westlicher Sicht durchweg – mit den Worten des indischen Historikers Dipesh Chakrabarty – „unter dem Gesichtspunkt eines Mangels“, „einer Abwesenheit oder Unvollständigkeit“ betrachtet werden, was zur Folge hat, dass auch die Subjekte dieser Geschichte zu „Gestalt[en] des Mangels“ (Chakrabarty) werden. „Die Spezifität und historischen Unterschiede nichtwestlicher Gesellschaften“, so beispielsweise auch die Herausgeber des Bandes „Jenseits des Eurozentrismus“, „werden dementsprechend in einer ,Sprache des Mangels‘ beschrieben und als Defizite behandelt“ (Conrad, Randeira). Diese Behauptung kann sich mit gutem Grund auf die koloniale Denkfigur von der Überlegenheit der weißen Rasse berufen und scheint somit durchaus einleuchtend. Problematisch wird sie jedoch da, wo Mangelzuschreibungen zum westlichen Diskurs über die nichtwestliche Welt schlechthin erklärt und Traditionen unterschlagen werden, die sich dieser „Sprache des Mangels“ gerade nicht bedienen – Traditionen nämlich, in denen das Fremde im Rückgriff auf Denktopoi der Aufklärung zur Relativierung des Eigenen benutzt wird. Denn dabei wird nicht dieses Fremde, sondern im Gegenteil das Eigene „unter dem Gesichtspunkt eines Mangels“ betrachtet.

Um den Vorschlag nochmals zusammenzufassen: Postkoloniale Literaturwissenschaft sollte – neben den bereits ausgebildeten Arbeitsfeldern – vor allem dort als kritisches Korrektiv fungieren, wo sich hinter Prämissen der Postcolonial Studies problematische Verallgemeinerungen verbergen.

Literatur:

Bill Ashcroft, Gareth Griffiths, Helen Tiffin: General Introduction. In: Bill Ashcroft, Gareth Griffiths, Helen Tiffin (Hg.): The Post-Colonial Studies Reader. London und New York: Routledge 1995, S. 1-4.

Dipesh Chakrabarty: Europa provinzialisieren. Postkolonialität und die Kritik der Geschichte. In: Sebastian Conrad, Shalini Randeira: Jenseits des Eurozentrismus. Postkoloniale Perspektiven in den Geschichts- und Kulturwissenschaften. Frankfurt/M., New York: Campus Verlag 2002, S. 283-312.

Sebastian Conrad, Shalini Randeira (Hg.): Jenseits des Eurozentrismus. Postkoloniale Perspektiven in den Geschichts- und Kulturwissenschaften. Frankfurt/M., New York: Campus 2002.

Oliver Lubrich: Das Schwinden der Differenz. Postkoloniale Poetiken. Bielefeld: Aisthesis 2004.

Erhard Reckwitz: „›Postcoloniality ever after‹. Bemerkungen zum Stand der Postkolonialismustheorie.“ In: Anglia, 118 (2000), S. 1-40.

Herbert Uerlings: „Ich bin von niedriger Rasse“. (Post)Kolonialismus und Geschlechterdifferenz in der deutschen Literatur. Köln: Böhlau 2006.

Susanne Zantop: Race, Gender, and Postcolonial Amnesia. In: Patricia Herminghouse & Susanne Zantop: Women in German Yearbook 17. Feminist Studies in German Literature & Culture. Lincoln, NE: University of Nebraska Press 2001, S. 1-13.