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Leo Kreutzer über Goethes „Moderne“

Von Ursula HomannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ursula Homann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Literaturwissenschaftler und Germanist Leo Kreutzer machte einmal auf einer Goethe-Tagung der Evangelischen Akademie Loccum mit dem Ausspruch, Goethe sei „zu schade für Germanistik“ von sich reden. In der Einleitung zu seinem neuen Goethe-Buch (1980 erschien das erste unter dem Titel „Mein Gott Goethe“, 2010 das zweite unter dem Titel „Goethe in Afrika“), versichert er, dass er noch immer dieser Auffassung sei, dass man nämlich den Weimarer Dichter nicht „als Gegenstand einer selbst genügsamen Goethe-Forschung herrichten“ dürfe, sondern sich mit einer anderen Einstellung um ihn bemühen müsse. Denn in der Literatur und, das gilt für Goethes ganz besonders, sei „auf eine besondere Weise eine besondere Art von Wissen aufgehoben“. Dieses Wissen, bekennt Kreutzer, sei ihm in den zurückliegenden Jahrzehnten bei der Zusammenarbeit mit afrikanischen Germanisten an Texten von Goethe besonders wichtig geworden. Bei seinen Bemühungen, diese zugleich aus hiesiger Sicht und aus der Perspektive ehemals kolonisierter Länder zu sehen, habe die westliche Moderne für ihn ihren Charme verloren. Daraufhin habe er begonnen, mit dem Begriff einer anderen Moderne zu experimentieren. Von diesen Bemühungen zeugen die hier versammelten sieben Essays, die bei verschiedenen Gelegenheiten schon früher veröffentlicht wurden und die der Autor nochmals überarbeitet und neu zusammengestellt hat, um die Suchbewegungen deutlich herauszustellen, mit denen er auf Goethes Moderne gestoßen sei.

Der erste Beitrag beginnt mit dem Frühlingsspaziergang im „Faust“ und der Begegnung mit dem Pudel, den Faust vollkommen anders wahrnimmt als sein subalterner Famulus, der Stubenhocker Wagner. Kreutzer versucht so, Goethes Ungenügen am herrschenden Wissenschaftsbetrieb herauszustellen, und kommt dann auf den wissenschaftstheoretischen Antagonismus zwischen Kant und Goethe zu sprechen, um darauf hinzuweisen, dass Goethe auch dann in erster Linie ein Dichter sei, wenn er Naturwissenschaft betreibt. Ihm fehle, so der Autor, „Kants folgenreiche Entschlossenheit, die Fülle der Erscheinungen zum Wildwuchs zu erklären und diesem mit wuchtigen Hieben einer definitorischen Energie zu leibe zu rücken.“ Doch brauche man deswegen nicht hinter, sondern nur neben Kant zurück zu Goethe gehen.“ Den Gegensatz zwischen den beiden Persönlichkeiten bringt Kreutzer durch die Überschrift „Richterliches Nötigen versus Zarte Empirie“ treffend zum Ausdruck.

Wie Goethe lehnte der Naturforscher Alexander von Humboldt eine naturwissenschaftlich verengte Sicht auf die Naturwissenschaft ab. Vor seinem Aufbruch nach Südamerika war er zusammen mit Goethe, Schiller und seinem Bruder Wilhelm Mitglied der sogenannten Jenaer Gruppe, die sich als literarische Klassik in der zweiten Hälfte des Jahres 1794 über naturwissenschaftliche und naturästhetische Fragen konstituierte. Es ging darum, neuzeitliche Naturwissenschaft mit sinnlicher Anschauung und ästhetischer Erfahrung zu verbinden. Allerdings zeigte Schiller die Tendenz, ästhetische Erfahrung auf das Kunstschöne zu reduzieren. Goethes Freundschaft mit Schiller begann bekanntlich nach einer Sitzung der Jenaer „Naturforschenden Gesellschaft“, die sie beide zufällig verlassen und auf dem Nachhauseweg darüber gesprochen hatten, dass „eine so zerstückelte Art, die Natur zu behandeln“, abzulehnen sei. Goethe illustrierte anschließend in Schillers Wohnung seinen auf dem Nachhauseweg gehaltenen Vortrag über die Metamorphose der Pflanze mit der Zeichnung seiner Urpflanze, worauf Schiller zu bedenken gab, dass diese keine Erfahrung, sondern eine Idee sei und argumentierte damit, aus Goethes Sicht, als gebildeter Kantianer. Die Freundschaft der beiden Dichter begann also quasi mit einer Auseinandersetzung über die wahre Naturwissenschaft.

Aber nochmals zurück zu Alexander von Humboldt. Kreutzer sieht ihn ihm eine Figur des Übergangs von einer spekulativen zu einer exakteren Naturwissenschaft. Immerhin hatte dieser durch seine Forschungsreisen umfangreiches Daten- und Zahlenmaterial zusammengetragen, was ihm wiederum von Schiller den Vorwurf einbrachte, er wolle die Natur „schaamlos“ ausmessen.

Doch habe Humboldt, so argumentiert der Autor weiter, in der Natur wie in einem Buch gelesen, und zur Sprache der Natur gehörten für Humboldt auch Zahlenverhältnisse, denn in Zahlen spreche die Natur zu uns. Das Ablesen und Mitteilen von Messwerten aber habe Humboldt nicht dazu gedient, einer von Haus aus spekulativen Methode zu ein wenig Exaktheit zu verhelfen. Denn das sei die Unterscheidung einer Naturwissenschaft, die weder Humboldts noch Goethes Sache war, wohl aber die von Kant.

Humboldt indes habe sich nicht so sehr um Erkenntnisfortschritt nach heutigem Verständnis bemüht, sondern habe zu zeigen versucht, wie ein sich verbreitendes Naturwissen dem Menschen geholfen habe, auf der Erde heimisch zu werden. Ihm sei es letztlich wie Goethe um das Heimischwerden des Menschen im Naturganzen gegangen, nicht aber um Entzauberung oder gar Unterwerfung der Natur unter menschliche Zwecke. Goethes und Humboldts Ansichten gehörten mithin nicht zur Geschichte der militärischen, merkantilen und wissenschaftlichen Eroberungs- und Raubzüge, die den europäischen Übergang in eine entsprechende Moderne begleitet und finanziert haben. „Vielmehr sind sie Naturwissenschaft im eigensinnigen Entwurf einer anderen Moderne“, erklärt Kreutzer, eine Einstellung, die sich durchaus mit einer ökologischen Naturästhetik berührt, wie sie in unserer Zeit beispielsweise Gernot Böhme in seinen Büchern und Aufsätzen vorträgt.

In einem anderen Aufsatz befasst sich der Autor mit „Einheit und Mannigfaltigkeit in Goethes Vision einer künftigen Weltliteratur“ und weist darauf hin, dass Goethe darunter ein Forum verstand, auf dem die Nationen miteinander Austausch pflegen können, und damit eine Dialektik von Ethnizität und globaler Kommunikation meinte wie sie ihm in den 1970er-Jahren des 18. Jahrhunderts von Herder vermittelt worden war. Für Kreutzer kommt hier Goethes pantheistische Einstellung zum Ausdruck, aus der heraus er sein eigenes Verhältnis zum Lokalen und zum Globalen bestimmte, wobei er zwischen „Hausfrömmigkeit“ und „Weltfrömmigkeit“ unterschied.

Europa hätte sicherlich seinen Verkehr mit den Völkern und Kulturen anderer Kontinente anders gestaltet, vermutet Kreutzer, wenn der Entwurf einer „pantheistisch dezentrierten Moderne nicht in der Schublade „deutsche Misere“ und „verspätete Nation“ abgelegt worden wäre.

Im „West-östlichen Divan“ wiederum hat Goethe, führt Kreutzer in einem weiteren Beitrag aus, sein poetologisches Credo bei der Nachbildung orientalischer Poesie formuliert. Zu Hafis, dem persischen Dichter des 14. Jahrhunderts, soll der Dichterfürst eine geradezu brüderliche Nähe empfunden und in dessen Außenseiter-Dasein eine Parallele zu seiner eigenen Situation gesehen haben. „Den frenetischen Patriotismus seiner Landsleute und vor allem der sich zur Romantik bekennenden Poeten unter ihnen vermochte er nicht zu teilen.“ Im Grunde habe Goethe, so Kreutzer, Vorstellungen vorweggenommen, wie sie heute von einem postkolonialen Diskurs entwickelt werden. Auch seien weder seine Naturwissenschaft noch seine Orientwissenschaft defizitär oder gar die eines dilettierenden Laien.

Am Ende seiner Lebenszeit lebte und arbeitete Goethe in einem Land, das sich auf der Schwelle zum Industriezeitalter befand. Er stemmte sich nicht gegen diese Entwicklung, wohl aber gegen eine rücksichtslose Industrialisierung, die vielen Menschen ihre Lebensgrundlage entzieht. Das klingt in „Wilhelm Meisters Wanderjahre“ an. Im ersten Teil „Wilhelm Meisters Lehrjahre“ geht es vor allem um die Entwicklung dieses Menschen, im zweiten rücken die Probleme der damaligen gesellschaftlichen Entwicklung in den Vordergrund. Dieser zeigt das Bild einer in Bewegung geratenen Gesellschaft.

Ein Aufsatz handelt vom „Fiesling Faust im Zweiten Teil der Tragödie“. Hier erkundet Goethe die Grundlage der Moderne. Nicht die Erzählung eines kontinuierlich sich entfaltenden Geschehens steht im Vordergrund, sondern die verschiedenen Vorhaben, die Faust nacheinander eingeht und dadurch Mephisto immer wieder zwingt, als Projektleiter seiner Unternehmungen tätig zu sein, weil er, Faust, nie zufrieden ist. So simuliert das Drama die simple Mechanik der Moderne. Es besteht aus lauter Episoden eines Fortschreitens von Scheitern zu Scheitern an der Schwelle zum Industrie-Zeitalter. Die beiden Alten Philemon und Baucis werden Opfer einer skrupellosen Immobilienspekulation und ins Jenseits zwangsumgesiedelt. Faust wandelt sich dabei in einen rational vorgehenden Prototyp eines modernen Ingenieurs und Unternehmers. Am Ende ist er alt und blind, hört nur noch die Geräusche der Arbeit, glaubt, am Ziel seiner Wünsche zu sein, und verkennt, dass die Arbeiter nur eine Grube ausheben.

In seiner Prometheus-Ode dagegen hat Goethe dem Titanen der griechischen Mythologie eine Unabhängigkeitserklärung in den Mund gelegt, mit der ein traditioneller Pantheismus zu einer Philosophie der Moderne umgestaltet wurde. Spinozas „deus sive natura“ (Gott gleich Natur) bildete, stellt Kreutzer fest, für den Naturwissenschaftler Goethe die philosophische und methodologische Orientierung für das Bemühen, das je eigene ökologisch-ökonomische Gesetz zu erkunden, „das als wirkende Kraft, ein jegliches Naturphänomen an der Ganzheit und Göttlichkeit der Natur teilhaben lässt.“

Die für die Entstehung der westlichen Moderne erforderliche Beschleunigung ist, laut Kreutzer, dadurch zustande gekommen, dass die mannigfaltigen Anlagen im Menschen aus ihren Zusammenhängen ohne Rücksicht aufeinander herausgelöst wurden. Zur Kultur gelangt man dadurch, Schillers „Ästhetischen Briefen“ zufolge, jedoch nicht. Da es sich bei Herders und Goethes Denkmodell einer pantheistischen Moderne um den Entwurf einer Moderne als „Kultur“ handelt, sei es als Orientierung für das, was wir heute als westliche Hochentwicklung verstehen, die die Welt bis heute nachhaltig beeindruckt und dominiert hat, nicht in Frage gekommen. Gehört deshalb Herders und Goethes Entwurf auf den „Müllhaufen der Geschichte“? Mitnichten, befindet Kreutzer, immerhin „erfahren wir im demoralisierenden Durcheinander des Weltgeschehens Konturen einer pantheistischen Moderne stets dann, wenn wir uns ,welt-’ und ,hausfromm’ zugleich durch vielfältig Fremdes bereichern lassen und im Verkehr mit diesem das an unserem ,Eigenen’ Schätzenswerte weitergeben.“

Diesem äußerlich so unscheinbar wirkenden und doch so anregenden und aktuellen Büchlein, an dem offensichtlich auch wieder einmal der Lektor eingespart wurde, wünscht man weite Verbreitung.

Kein Bild

Leo Kreutzer: Goethes Moderne. Essays.
Wehrhahn Verlag, Hannover 2011.
158 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783865251916

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