Tod in der Wüste

Zu Wolfgang Herrndorfs Roman „Sand“

Von Peter KockRSS-Newsfeed neuer Artikel von Peter Kock

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Für Irit (1949-2008), in Liebe

Vor zwei Jahren erschien der überaus erfolgreiche Roman „tschick“, ein Road Movie-Text über zwei Ostberliner Jugendliche, die in den Sommerferien mit einem geklauten Lada eine Spritztour durch Brandenburg unternehmen, ein kurzes Werk (Romane mit 250 Seiten empfindet man heute ja schon als kurz!), flott und stringent erzählt, von witzigen Dialogen dominiert und überhaupt durch die Sicht der Jugendlichen auf die Welt und die Menschen überaus einnehmend, ja menschenfreundlich wirkend. Im vergangenen Jahr folgte dann das Werk „Sand“, um das es hier gehen soll, und das die Kritiker und die Leser, und ich schließe mich hier ein, teilweise doch verstört hat und in bestimmter Hinsicht geradezu vor den Kopf stößt. Wie kann das sein – beide Werke sind, wie der Autor in seinem Blog „Arbeit und Struktur“ ausführt, zur gleichen Zeit entstanden?

Und, wenn wir schon bei Herrndorfs Blog sind – eine Besprechung dieser Bücher kann nicht absehen von dem Wissen, dass der Autor unter einem schweren, unheilbaren Hirntumor leidet und dass ihm die Ärzte nur noch eine kurze Lebensspanne eingeräumt haben. Dieses Wissen, auf das die meisten Rezensenten verständlicherweise nur scheu hindeuten, geht in die Art, wie wir „Sand“ lesen, aber ein – so wie natürlich immer das Bild, das wir von einem uns bekannten Autor haben, schon einfließt in unsere Haltung, mit der wir auf seine neuesten Werke zugreifen. Eine bemüht neutrale, dieses beklemmende Wissen ausblendende Besprechung jedoch wäre fast verlogen. Es gilt, dieses Wissen mitzureflektieren.

Chaos und Struktur

Nun aber zum Inhalt: Es handelt sich um eine Art Agentenroman, der zur Zeit des palästinensischen Terroranschlags auf die Münchner Olympiade 1972 in Nordafrika spielt; das Lokalkolorit erinnert an Marokko, speziell an Tanger. Ein junger Araber ermordet in einer Hippiekommune vier Menschen, die anschließenden Ermittlungen der einheimischen Kommissare führen in ein wirres Getümmel, in dem unter anderem ein CIA-Einsatz stattfindet, der verhindern soll, dass sich Terroristen unklarer Herkunft Zugang zum Bau einer Atombombe verschaffen.

Der Ich-Erzähler führt sich, wir mir scheint überflüssigerweise, selbst als kleiner Junge ein, dessen Hippie-Eltern ihn damals, im Urlaub, als Kokainschmuggler missbrauchten. Dieser Strang wird dann wieder fallengelassen. Dabei quillt das Buch von satirischen Passagen, trashigen Dialogen, zahlreichen parodistischen Motiven und etlichen Anspielungen auf Bücher oder Filme wie „Babel“ und „Der englische Patient“ nur so über. Elemente von Actionkomödien, Thrillern et cetera verbinden sich zu einer auch im übertragenen Sinne „wüsten“ Collage sehr unterschiedlicher Teile, die den Eindruck einer Überfülle erzeugt, die durch die Gliederung in 68 Kürzestkapitel, verteilt über fünf „Bücher“ nur noch verstärkt wird. Auch die Zitate vor jedem dieser Kapitel tragen dadurch, dass sie sich nur mehr oder minder auf den Inhalt beziehen, zur Verwirrung eher noch bei, so wie auch die Titel der fünf „Bücher“ (Das Meer, Die Wüste, Die Berge, Die Oase, Die Nacht) keine zwingende Logik aufweisen, ihre Abgrenzung voneinander bleibt eher unklar.

Dafür ermöglicht diese kleinteilige Struktur das häppchenweise Lesen und verlangt nicht den langen Atem für große Strecken. Ständig unterbrochen, muss ich mich als Leser angesichts der turbulenten Handlung permanent neu einstellen, während ich noch rätsele, was mir die Zitate über dem jeweils neuesten Kapitel sagen wollen (oder dazu zurückblättere) – das heißt, die Leserkonzentration wird in hohen Maße geweckt, gemütliches Lesen sieht anders aus. Die Anspielungen erweitern dabei permanent den Horizont, führen aber teilweise auch in die Irre und laufen dadurch Risiko, den Leser abzuschrecken: soll hier etwa mein Bildungsfundus getestet werden? Eins der Zitate (über Buch 38) zeigt deutlich, wie bewusst Herrndorf damit spielt: „,Anspielungen, in dem Buch sind Anspielungen‘, dachte ich, ‚ich will sofort mein Geld zurück‘“.

Dass diese Vielfalt nicht in einem reinen Chaos mündet, liegt nicht nur daran, dass der Plot des Mordes an den Hippies das Ganze wie mühsam auch immer zusammenhält, sondern dass sich als zentrales Thema die Suche einer Figur, eines „Carl“ herausschält, der, irgendwie in den Plot verwickelt, nach einem Schlag auf den Schädel von Amnesie befallen wird und nicht weiß, wer er ist. Mehr und mehr konzentriert man sich als Leser, der angesichts der Überfülle ohnehin darauf verwiesen ist, sich ein eigenes Lesemodell zu schaffen, auf das Schicksal dieses Carl, der unter den Fittichen einer CIA-Agentin namens Helen wie ein tumber Tor durch eine feindliche Umwelt stolpert und fieberhaft daran interessiert ist, seine Identität wiederzugewinnen.

Fehler und Wahrheit

Liest man das Buch genauer oder wiederholt, zeichnen sich neben dem zentralen Motiv Identitätsverlust rasch deren Vorformen heraus: Verluste, Unsicherheiten und Ausfälle. Der ermittelnde Kommissar Polidorio, ein „pied noir“, der mit stupender Regelmäßigkeit von heftigen Migräneanfällen gequält wird, vergisst mitunter, was er sagen will. Ein Polizeigeneral muss sich wegen seines schlechten Kurzzeitgedächtnisses bei komplizierteren Verhören seine Fragen genau notieren, um nicht den Faden zu verlieren. Als Helens Geschichte vorgestellt wird, ist von ihrer schockartigen Entfremdung die Rede, als sie ihre eigene Stimme auf dem Tonband hört. Ein zwielichtiger Versicherungsvertreter namens Lundgren (alias „Herrlichkoffer“ – allein dieser Name!) kann sich nicht an einzelne Worte erinnern. Und schließlich „Carl“, der alles dafür gibt zu wissen, wer er ist, bis es ihn schließlich das Leben kostet – alles Fehlschlüsse, Aussetzer, Nichtfunktionierendes, Missverständnisse, schwankender Boden mit einem Wort.

Nun geht trotz aller satirischen Passagen, trotz aller trashigen Handlungsmomente zwischen örtlichen Rauschgiftschiebern, terroristischen Fundamentalisten, korrupten Polizisten, eitlen Schriftstellern und im Blinden tappenden Geheimdienstlern der Plot zwar nie verloren – bei sehr genauem Lesen lassen sich auch die Elemente zusammenschnitzeln, die als Indizien auf die Identität „Carls“ verweisen. Was die Handlung vorantreibt, ist aber nicht die systematische Suche nach Hinweisen auf „Carls“ Spuren, sondern eher seine Kette von Fehlentscheidungen und falschen Annahmen!

Herrndorf hat sich dazu in seinem Blog geäußert: „Lese meine eigenen Dialoge und stelle fest, dass ich das Mißverständnis für das Wesen von Kommunikation halte. Es werden Fehler gemacht, und die Fehler führen zu allem. Man könnte auch Zufälle sagen, aber das Wort Fehler ist mir lieber. Ich halte den Roman für den Aufbewahrungsort des Falschen. Richtige Theorien gehören in die Wissenschaft, im Roman ist die Wahrheit lächerlich. Das Unglück, die neurotische Persönlichkeit, das falsche Weltbild, das falsche Leben. Das richtige Leben, das in den Abgrund führt. Das Böse. Die Zeit.“

Das ist zunächst die, sagen wir, postmoderne Erkenntnis, dass es keine Generaltheorie für den Roman mehr gibt, die der Schilderung der Welt (oder: einer Welt) Struktur verleiht und ihre auseinanderstrebenden Momente zusammenbindet. Bei den Klassikern des modernen Romans wie James Joyce, Marcel Proust, Robert Musil lässt sich jeweils eine Art leitende, spezifische Theorie rekonstruieren (verkürzt gesagt: die Vielfalt des modernen Großstadtlebens auf der Folie des antiken Mythos bei Joyce, die Phänomenologie der Einnerung im Ablauf des eigenen Lebens bei Proust, die „reine“ Wahrnehmung des Musil’schen „Mannes ohne Eigenschaften“ und sein „Möglichkeitssinn“).

Herrndorf hingegen zieht die Konsequenz, dem Roman heute jeden wahrheitsbefördernden Anspruch abzustreiten und, gerade umgekehrt, die Fehler, Lücken und Irrtümer als handlungskonstituierendes Element einzusetzen. Dazu passt auch das deutlich Inszenierte, Überkonstruierte der Bauart seines Romans, das geradezu demonstrativ offengelegt wird. Damit kommt es also, das wäre eine erste Konsequenz, nicht mehr so sehr auf den Gesamtzusammenhang, sondern eher auf die einzelnen Momente an – „Sand“ weist in all seinen Elementen, auch gerade da, wo sie nicht „ordentlich“ miteinander verzahnt und als Teil eines größeren Ganzen erkennbar sind, darauf hin, dass der Leser selbst Hypothesen, ja eine passende Art vorläufiger kleiner „Theorie“ für das Funktionieren dieses konkreten Romans bilden muss, um eine Struktur zu schaffen, in der er sich lesend bewegen kann.

Einzelheiten und Politik

Der Effekt von Herrndorfs Weigerung, einen Handlungsverlauf adäquat zu einer wie immer beschaffenen Weltsicht oder „Wahrheit“ zu schildern, ist also zunächst, den Blick genauer auf die Einzelheiten zu richten, die oft nicht zueinander passenden Details gerade in ihrem erratischen Funkeln überscharf wahrzunehmen. Sie können dabei durchaus für sich wahrgenommen und genossen werden, etwa als Witz, Satire oder Parodie. Zwei kleine Beispiele wenigstens für Herrndorfs Witz: „(Er) […] trug einen schlechtsitzenden schwarzen Anzug, in dessen Brusttasche wie ein verzweifelter Hilfeschrei ein senffarbenes Taschentuch steckte“, oder „Michelle war in den Seminarräumen keine große Rhetorikern, aber unter vier Augen und in herzlichem Gespräch konnte sie Textblöcke von beachtlichem Umfang in den Raum stellen“. (So wie mir aus „tschick“ die Formulierungen „endbescheuert“ und „zog mir den Stecker“ in bester Erinnerung sind, sind solche Sentenzen wie „stellte beachtliche Textblöcke in den Raum“ geeignet, in den eigenen Sprachschatz einzugehen).

Dazu kommen glänzende satirische Passagen wie das Gespräch „Carls“ mit einem „Psychiater“, der sich später (natürlich) auch als CIA-Agent herausstellt, Schilderungen einer bedrohlichen Massenhysterie um eine Art Ratte, ein geheimnisvolles „Ouz“, oder absurde Dialoge mit einem Syrer, der während einer rasanten Verfolgungsjagd in einem Auto der CIA-Agenten erfolgreich darauf beharrt, zu gegebener Stunde gen Mekka zu beten. Überhaupt diese Dialoge: hier läuft Herrndorf immer zur Höchstform auf. Sie allein garantieren schon höchstes Lesevergnügen.

Und doch zerfällt das Buch nicht in seine Einzelelemente und zerbröselt nicht selbst wie „Sand“, um seinen Titel zu zitieren. Der so geschärfte und durch die ironisch-satirische Erzählweise bestens unterhaltene Blick des Lesers wird, wobei man sich lesend stets des Spiels bewusst ist, das Herrndorf hier treibt, in den Zustand hellwacher Konzentration versetzt, und man verfolgt „Carls“ Schicksal mit wachsendem Interesse, ja Empathie. Ist einmal die Annahme akzeptiert, dass der Autor sich weigert, Handlungsfäden stringent aufzudröseln und Motivkomplexe sauber auseinander abzuleiten, kann man auch akzeptieren, dass Leerstellen und Lücken die Akteure durch seine Welt stolpern lassen – aber gerade in diesem Stolpern bildet sich ein überraschend genaues Bild von Welt ab, ein Realismus ex negativo, wenn man so will. Unter anderem fällt ein grell-schräges Licht auf die Frühgeschichte des heutigen islamistischen Terrorismus und seine Entstehungsgründe, und der ganze Komplex von Kolonialismus, Imperialismus und Globalismus wetterleuchtet am Horizont. Gleich die Auftaktszene beleuchtet schlaglichtartig das Massenelend in den Slums der unterentwickelten Länder in Kontrast zu den Champagnergläsern auf der Reling eines Kreuzfahrtschiffs. Der Abschnitt endet mit dem halbspöttischen Postulat eines der Hippie-Kommunarden, der Reichtum gehöre allen, man müsse ihn sich nur holen. Wuchtige Seitenhiebe erhalten das damals aufkommende Gefasel esoterischer Strömungen (etwa aus dem Mund der besagten Michelle), wie auch der Anspruch gerade linker Deutscher, das Israel/Palästina-Problem mal eben so vom Schreibtisch aus zu lösen. Damit ergeben sich überraschende Bezüge zu aktuellen politischen Diskursen.

Assoziationen und Theorien

In seinem Blog kommentiert Herrndorf fortlaufend nicht nur das Voranschreiten seiner Krankheit, sondern auch seine Aktivitäten, seine Lektüre, die diversesten Eindrücke. Da und dort entwickelt er skizzenhaft Züge seiner Poetologie, wobei er die Berechtigung literarischer Großtheorien bezweifelt. Neben Stendhal (die Zitate über jedem Kapitel sind auch eine Hommage an den Verfasser von „Rot und Schwarz“) würdigt er vor allem Don DeLillo und beklagt, dass er dessen Assoziationstechnik, die Bauart seiner Prosa nicht begreife, die ihm ebenso unklar sei wie das Geheimnis der Wirkung des Malers Vermeer: „Bei Vermeer konnte ich das nie. Da stand ich vor den Bildern wie ein Idiot. Und ein bißchen so ist das auch bei DeLillo. Ich kann das hundert Mal lesen und begreife die Mechanik dahinter nicht. An meinen eigenen Texten ist immer genau ablesbar, wo ich parallel DeLillo gelesen habe, da schleichen sich dann versuchsweise diese Assoziationssplitter ein, die ich im zweiten Korrekturgang immer wieder rausstreichen muß. Weil, in meiner Prosa haften die nicht, und es ist erbärmlich, ich kann seit Jahren nicht herausfinden, warum“.

Arbeitet DeLillo nur mit Assoziationssplittern, also mit Andeutungen, Verweisen und Anspielungen? Was genau macht das Spezifische seiner Texte aus? Vielleicht ein Beispiel. In einer Szene seines letzten Buches „Der Omega Punkt“ wird ein Mann in einer felsigen Wüstenlandschaft beschrieben: „Ich wanderte zurück in das trockene Flussbett unter der niedrigen Himmelslinie, dann blieb ich stehen, legte die Hand auf die Klippenwand und spürte den geschichteten Fels, die horizontalen Risse oder Verschiebungen, die mich an riesige Erdverwerfungen denken ließen. Ich schloss die Augen und lauschte. Die Stille war vollkommen. So eine Ruhe hatte ich noch nie gespürt, so ein allumschlingendes Nichts. Aber ein Nichts, das war, das sich um mich herum drehte […] Ich weiß nicht, wie lange ich da stand, und jeder Muskel meines Körpers lauschte. Konnte ich in dieser Stelle meinen Namen vergessen? Ich nahm die Hand von der Wand und legte sie an mein Gesicht. Ich schwitzte heftig und leckte mir den feuchten Mief von den Fingern. Ich schlug die Augen auf. Ich war immer noch hier, in der äußeren Welt. Dann brachte mich irgendetwas dazu, mich umzuwenden, und in meinem Erstaunen mußte ich aussprechen, was es war, eine Fliege, die an mir vorbeisummte. Ich musste mir das Wort vorsagen, Fliege“.

Die präzise Beschreibung der Wirkung der Wüstenatmosphäre führt zu einem momenthaften Ichverlust – wer bin ich in dieser Umgebung? Und der Ich-Erzähler fasst sich selbst an, schmeckt sich, um sich zu fühlen, und probt das Benennen der Dinge, um zu sehen, ob die Namen noch an ihnen haften. (Das könnte auch „Carl“ sein, noch bevor er den entscheidenden Schlag auf den Kopf erhält). Bei DeLillo geht die Wahrnehmung oft umstandslos in die Reflexion ihrer Bedingungen über: der Körper, in diesem Fall die Hand, stellt den Kontakt zur äußeren Welt her, die Sinne werden geschärft, und fast sofort setzt der Zweifel an der Sprache ein.

Der hier geschilderte Ich-Erzähler besucht in einem Haus in der Wüste einen Analytiker des Pentagon, der seinen Dienst quittiert hat. „Hier war Wüste, fernab von Städten und Streusiedlungen. Essen, schlafen und schwitzen, dazu war er hier, nichts zu tun, dasitzen und denken. Es gab das Haus und dann nichts als die Ferne, keine Aussichten oder weit reichende Perspektiven, nur die Ferne. Nicht mehr reden, sagte er, dazu war er hier. Es gab niemanden zum Reden außer mir. Er tat es zunächst sparsam und nie beim Sonnenuntergang. […] Für Elster war der Sonnenuntergang eine Menschenerfindung, Licht und Raum, durch unsere Wahrnehmung arrangiert zu Elementen des Staunens. In der Luft war ein Zittern, als die unbenannten Farben und Landschaftsformen Schärfe gewannen, eine Klarheit in Kontur und Ausmaß“.

„All das [nämlich die analytischen Planspiele im Pentagon um die Kriege im Irak und in Afghanistan] hatte er gegen Raum und Zeit eingetauscht. Es gab Dinge, die er durch die Poren aufzunehmen schien. Die Ferne, die das Charakteristische der Landschaft verhüllte, und die Kraft der geologischen Zeit, da draußen irgendwo, die Grabungsraster der Archäologen, die nach verwitterten Knochen suchten. – Ich sehe immer noch die Wörter. Hitze, Raum, Stillhalten, Entfernung. Sie sind zu visuellen Stimmungen geworden. Ich weiß nicht genau, was das bedeutet. Ich sehe immer noch isolierte Gestalten, ich sehe an der physikalischen Dimension vorbei in die Gefühle hinein, die diese Wörter hervorbringen und die mit der Zeit tiefer werden. Das ist das andere Wort, Zeit“.

Der frühere Militärstratege entwickelt unter dem Eindruck der „reinen“ Wahrnehmung in der Wüste Hypothesen über den Zusammenhang zwischen Raum und Zeit. Diese aphoristische Stegreifphilosophie, diese spekulativ-tastenden Theoriefragmente übertragen sich auf seinen Besucher, der die zentralen Begriffe dieser fast meditativen Stimmung in der Wüste auf ihre Wortbedeutung hin abschmeckt, sie variiert, fortführt, mit ihnen gewissermaßen gedanklich spielt. Dabei kommt es zu unklaren, ja dunklen Begriffen (Wörter als „visuelle Stimmungen“?), die nicht zu begreifen der Erzähler hier selbst einräumt. DeLillo versucht so immer, die beschreibende Außenwahrnehmung, und sei es das Diffuse einer atmosphärischen Stimmung, in den Reflexionsprozess seiner (Ich-)Erzähler übergehen zu lassen. Das permanente Ineinanderkippen dieser beiden Elemente erzeugt gewissermaßen ein ständiges Tasten danach, was eigentlich hinter der Oberfläche der Dinge und ihrer Namen ist. Die isolierten Details und der Versuch, ihrer sprachlich und gedanklich habhaft zu werden, sie zu „begreifen“, erzeugt ein eigenartiges Flirren, eine Art Unschärferelation seiner Prosa, die mir typisch zu sein scheint für seinen Stil und über bloße Assoziationssplitter, wie Herrndorf sie sieht, weit hinausgeht. Gerade dadurch, dass diese Theoriepartikel, diese vorläufigen Begriffskombinationen nie zu einer verbindenden Generaltheorie zusammenschießen, wird der Leser ermuntert, seine zunächst und auch weiterhin auf den Verlauf der Story gerichtete Aufmerksamkeit abschweifen zu lassen in Vorstellungsbilder aus der eigenen Fantasie und in Bilder, die wir den uns umgebenden Welten und Sphären von Politik, Gesellschaft, Medien und Geschichte und all ihrer auch sprachlichen Erscheinungsformen entnehmen, sowie das, was wir dazu an Erkenntnismodellen haben, an ihnen zu erproben. Diese spezifische Unschärferelation, die sich so aus dem Hin und Her in DeLillos Prosatechnik ergibt, setzt unsere eigene Imagination frei, die entlang dieser Vorlage selbst aus Sprache neue Bilder und Denkmodelle schafft, Figuren und Handlungsmomente vergleicht oder neu entwirft, die uns zum Teil aus unserer Biografie bekannt sind oder uns durch Medien und Kultur bereitgestellt werden – ein Prozess, der über eine bloße Rezeption, verstanden als Entziffern und Deuten des Geschriebenen, weit hinausgeht und mehr ein halbbewusstes Halluzinieren, ein hellwaches Träumen ingangsetzt.

Es gibt wiederholt Momente, wo Herrndorfs Prosa in „Sand“ an DeLillos Qualitäten herankommt. Als „Carl“ aus seiner Ohnmacht erwacht und realisiert, dass er nicht mehr weiß, wer er ist, probiert er mehrere Male zu sagen, „Mein Name ist. Mein Name ist“, um einen über Zunge und Lippen vermittelten Automatismus in Gang zu setzen. Einmal muss er, schon mehrere Male verprügelt und verletzt, eine Nacht in der Wüste verbringen. „Weiß einer, wie es ist, die Nacht in der Wüste zu verbringen, allein? Wer gewohnt ist, seine Nächte in einem Bett zu verbringen, in einem Haus, umgeben von anderen Häusern und Menschen, macht sich davon nur schwer eine Vorstellung. Und noch schwerer macht man sich eine Vorstellung davon, wie die Schwärze und Finsternis der Metaphysik an einem Geist zerren kann, der in sich selbst seit Tagen nichts weiter zu erkennen vermag als ein unbeschriebenes Blatt Papier. – Als Gegensatzbegriff zur Zivilisation wird oft Barbarei genannt, doch ein passenderes Wort wäre im Grunde Einsamkeit.“ Gut, DeLillo hätte hier vielleicht kürzer, damit aber auch kryptischer formuliert: „Der eigentliche Gegensatz zur Zivilisation ist Einsamkeit.“ Aber in solchen Passagen, wo sich die Verzweiflung des Protagonisten Ausdruck verschafft, arbeitet Herrndorf ganz wie das große Vorbild, während er sich in seinen satirisch-trashigen Passagen deutlich von ihm unterscheidet.

Einsamkeit und Verzweiflung

Dieser einsame Mensch, geschlagen und verfolgt, mit Tausenden gleichgültigen Galaxien nächtens über sich, das ist ein berührendes Bild, das man als Leser kaum vergessen wird. Immer, wenn es um „Carls“ aussichtslose Lage geht und um sein nicht nachlassendes Bemühen, Klarheit über seine Identität und seine Lage zu gewinnen, erreicht „Sand“ eine existenzielle Eindringlichkeit, die die Empathie von uns Lesern gewinnt. Verzweifelt fragt er selbst die Tarotkarten-legende Michelle nach seiner Herkunft, und wiederholt bricht es aus ihm heraus: „Und wenn ich schon gestorben bin?“ Dass er Zuneigung, ja Liebe zu der ihn betreuenden Helen entwickelt, ist nur allzu konsequent, und es wirkt schockierend, dass sie sich zum Schluss, nach all den Prügeln und Verletzungen, die er auf seiner hektischen Suche im Gewirr der Suks und der Elendsviertel in der Stadt und in der benachbarten Oase einstecken muss, an einer Folterszene beteiligt, die nicht nur von fern an Guantánamo erinnert. In einem stillgelegten Bergwerk wird „Carl“ über Stunden misshandelt und, weil er einfach nicht aussagen kann – die Folterer nehmen ihm die Amnesie bis zum Schluss nicht ab –, gefesselt im Wasser dem Tod überlassen.

Damit bin ich bei dem verstörenden Ende, das ich am Anfang erwähnt habe. Denn Herrndorf lässt in einer seitenlangen Passage „Carl“ sich ein letztes Mal, wie unwahrscheinlich auch immer, seiner Fesseln entledigen, aus dem Wasserloch entkommen, sogar den kaum glaublichen Ausstieg aus der Tiefe des Bergwerks schaffen – nur um dann, kaum erblickt er das Licht des Tages, mehr tot als lebend, von einem betrunkenen Ziegenhirt mit einem Schuss zwischen die Augen getötet zu werden. Das wirkt wie ein sadistischer Angriff auf den Leser und dessen Identifikation mit der Romanfigur. Und um dem noch eins draufzusetzen, erfolgt in der Abblende zum Schluss ein weiterer Mord: ein kleines, siebenjähriges Mädchen aus dem Elendsviertel wird, als die Regierung die Slums mal wieder niederwalzen lässt, lebend unter einer umstürzenden Häuserwand begraben.

Mit einem doppelten Todschlag also klingt das Buch düster aus. Es ist nicht möglich, dieses niederschmetternde Ende zu lesen ohne das Wissen um die unausweichliche Konfrontation des Autors mit seinem eigenen Tod. Oder, wie es in der zitierten Stelle aus seinem Blog heißt: „Das richtige Leben, das in den Abgrund führt.“

Herrndorf notiert aber an anderer Stelle auch: „Über weite Strecken parallel geschrieben ist der im Wüstenroman Kapitel für Kapitel wiederholte und gegen Ende völlig aus dem Ruder laufende deprimierende Nihilismus ja eine direkte Reaktion auf die Freundlichkeit der Welt in Tschick. Bzw. umgekehrt. Denn eigentlich war ‚Sand‘ zuerst.“ Halten wir uns daran, dass die Freundlichkeit in „tschick“ nicht nur das erste, sondern auch das letzte Wort behalten soll.

„Immer die gleichen drei Dinge, die mir den Stecker ziehen“, heißt es an anderer Stelle des Blogs: „Die Freundlichkeit der Welt, die Schönheit der Natur, kleine Kinder.“ Das alles bleibt. Oder, um die paradoxe, pointierte Formulierung eines Zen-Lehrers aufzugreifen: Es gibt keinen Tod. Das Leben endet nie.

Titelbild

Wolfgang Herrndorf: Sand. Roman.
Rowohlt Berlin Verlag, Berlin 2011.
480 Seiten, 19,95 EUR.
ISBN-13: 9783871347344

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