Urvater der Gaia-Bewegung

Endlich gibt es den Klassiker der Nature Writing, John Muirs „Die Berge Kaliforniens“, auch auf Deutsch

Von Georg PatzerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Georg Patzer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Die höchsten Gipfel loderten wie Inseln in einem Meer flüssigen Schattens. Dann begannen die tieferen Gipfel und Spitzen zu glühen, durch die Täler und Pässe strömten lange Lichtspeere und fielen auf die gefrorenen Wiesen. Die majestätische Gestalt des Ritter kam voll in den Blick, und ich drängte rasch weiter über runde Felsbuckel und Platten, meine eisenbeschlagenen Schuhe klapperten, manchmal plötzlich gedämpft durch Moosheidematten und moosweiches Riedgras an den Seeufern. Auch hier, im sogenannten ‚trostlosen Land‘, traf ich auf Schuppenheide, die zwischen den zerschmetterten Steinen in Säumen wuchs. Ihre Blüten waren längst verwelkt, aber noch krallten sie sich mit glücklichen Erinnerungen an die immergrünen Zweige und noch immer so schön, dass sie jede Faser des Daseins erregten.“

Ein Mann wandert durch die Berge, schaut, erlebt und lebt mit der Natur. Weit offen sind alle seine Sinne – auch der Sinn zum Schwärmen. Für John Muir ist die Natur belebt, sie hat einen Geist, eine Seele, Erinnerungen und Wünsche, so jedenfalls beschreibt er sie, und fast scheint er ein Vorläufer, der Urvater der Mother-Earth-, der Gaia-Bewegung zu sein.

Dabei war zu seiner Zeit die Zerstörung der Natur in Amerika überhaupt erst im Vormarsch. Immer noch gab es riesige Wälder und unberührte Bergwelten. Aber es kündigte sich schon an, dass der Mensch, der weiße Mensch vor allem, nicht davor zurückschreckt, auch noch die letzten Bäume abzufällen, wenn es dem Profit dient. Dass er keine Ehrfurcht vor den tausendjährigen Bäumen hat, die im Westen der USA stehen. Es ist eine Industrie, mit der man Geld verdient, kein Miteinander: „Die Welt, so hat man uns gesagt, wurde speziell für den Menschen erschaffen – eine Vermutung, die sich auf keinerlei Fakten stützt“, schreibt Muir in einem Notizbuch: „Zahlreiche Leute sind bestürzt, wenn sie in Gottes großem Universum etwas Lebendes oder Totes finden, dass sie nicht essen oder sich in irgendeiner Weise zunutze machen können.“ Schafe sind nur „Essen und Kleidung ‚für uns‘, sie fressen Gras und weiße Gänseblümchen aufgrund göttlicher Anordnung zu diesem vorbestimmten Zweck, weil sie die Forderung nach Wolle verstehen, die durch den Verzehr des Apfels im Garten Eden verursacht wurde. Nach demselben bequemen Plan sind Wale für uns Öldepots, um den Sternen zu helfen, bis zur Entdeckung der Ölquellen in Pennsylvania unsere dunklen Straßen zu erhellen.“ Hanf dient der Takelage, „dem Verschnüren von Bündeln und dem Händen der Frevler“, Baumwolle der Kleidung, „Eisen wurde für Hämmer und Pflüge erschaffen und blei für Pistolenkugeln; alles nur uns zugedacht.“

Dem setzt Muir die freie, unberührte Natur entgegen, die Riesenbäume, die tausende von Jahre gebraucht haben, um zu dieser majestätischen Größe heranzuwachsen, die sie jetzt haben. Berge, die aufragen, von winzigen Pflanzen und kleinen Tieren bevölkert, wo man sie nicht vermuten würde. Er betrachtete Pflanzen und Tiere als Mitlebende, als Mitsterbliche, als Mitwesen, die Teil am göttlichen Plan haben. Und um ihr ganz nah zu sein, durchstreifte er die halbe Erde zu Fuß, nicht nur in den USA, sondern auch in Kuba, Europa, Asien und Ägyptten, Australien, Südamerika und Südafrika. Am Schönsten fand er aber das Yosemite Valley und die Sierra Nevada, hier fand er seine „Universität der Wildnis“, die gleichzeitig ein offenes Buch und ein tiefempfundenes Geheimnis, ein pantheistisches Miteinander ist, mit dem Menschen, der nicht die Kröne der Schöpfung ist, sondern nur einer unter vielen, wenn auch der zerstörerischste.

Das Buch „Die Berge Kaliforniens“, das jetzt zum ersten Mal auf Deutsch erscheint, ist in Amerika und der ganzen Welt längst ein Klassiker der emphatischen Naturbeschreibung. 1894 erschien es zum ersten Mal, seither wurde es von den Beatniks, den Hippies, den Grünen in aller Welt studiert und gefeiert, zusammen mit den Werken von Henry David Thoreau und Ralph Waldo Emerson. Muir ist der Klassiker des Nature Writing, ein Genre, das es in Deutschland überhaupt nicht gibt. Nur der weithin unbekannte Jürgen von der Wense hat ein ähnliches Gemisch von fast romantischer Naturfeier und präziser naturwissenschaftlicher Beschreibung fertiggebracht.

Und natürlich setzte sich Muir auch für die Erhaltung der Natur ein, wurde Naturschützer: „Bäume zerstören kann jeder Narr. Sie können nicht weglaufen; und auch wenn sie es könnten, würden sie vernichtet werden – gejagt und zu Tode gehetzt, solange man Spaß oder einen Dollar aus ihrem Borkenfell, ihren verzweigten Hörnern oder ihrem herlichen Stamm-Rückgrat herausholen kann. Es dauerte mehr als dreitausend Jahre, um einige Bäume dieser Wälder im Westen entstehen zu lassen – Bäume, die noch immer in vollkommener Kraft und Schönheit wogend und singend in den gewaltigen Wäldern der Sierra stehen. In den wundersamen, ereignisreichen Jahrhunderten seit Christi Geburt – und lange davor – hat sich Gott um diese Bäume gekümmert, sie vor Dürre, Krankheit, Lawinen und tausend reißenden, plättenden Stürmen und Fluten bewahrt; aber vor Narren kann er sie nicht schützen, das kann nur Uncle Sam.“ Womit er die Regierung der Vereinigten Staaten meinte, die er immer wieder aufforderte, Naturschutzgebiete einzurichten. Berühmt geworden ist ein Foto mit Theodore Roosevelt und John Muir, die 1903 drei Tage lang mit einem Ranger durch Yosemite wanderten.

Auch wenn die Emphase manchmal etwas übertrieben erscheint („Zum Glück singen die Amsel und die alte vertraute Wanderdrossel ein Willkomm, und himmelblaue Maßliebchen strahlen Vertrauen und Mitgefühl aus, wodurch wir sogar hier, unter dem starren Blick ihrer kältesten Felsen, etwas von der Liebe der Natur fühlen können.“) – hier ist jetzt endlich auf Deutsch ein Buch zu entdecken, das in Deutschland wahrhaftig ein unbekannter Klassiker ist. Wer Walt Whitmann, Emerson und Thoreau liebt, wird John Muir verehren müssen.

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John Muir: Die Berge Kaliforniens.
Übersetzt aus dem Englischen, kommentiert und mit einem Nachwort versehen von Jürgen Brocan.
Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2013.
350 Seiten, 34,00 EUR.
ISBN-13: 9783882210507

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