Der Welt und sich selbst auf der Spur

Ilma Rakusas intelligentes, lyrisches, stimmungsvolles Berlin-Journal „Aufgerissene Blicke“

Von Friederike GösweinerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Friederike Gösweiner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Verzichtet ein Autor auf den schützenden Mantel der Fiktion und spricht mit offenem Visier zum Leser, erzählt von sich, dem eigenen Leben in einem Buch, kann das zu einer schrecklich eitlen Selbstinszenierung verkommen. Oder es kann dem Leser das seltene Glück zuteil werden lassen, tatsächlich direkt, ungeschützt, wahrhaftig in die Augen blicken zu können oder vielmehr auf den Grund seiner Seele, seines Geistes. Ilma Rakusas Berlin Journal „Aufgerissene Blicke“ ist eindeutig der zweiteren Gruppe der raren literarischen Glücksfälle von Autoren-Denk- und Tagebüchern zuzuordnen. Es ist ein absolut uneitles Buch, das ohne große Erzähldramaturgie auskommt, auf große erkennbare Selbstinszenierung verzichtet und – obwohl darin kaum allzu private Dinge verhandelt werden – dennoch ein sehr intimes, persönliches Buch.

Entstanden ist es während Rakusas Zeit als Fellow des Wissenschaftskollegs zu Berlin, von Oktober 2010 bis Juli 2011. Die Autorin, selbst weitgereist und mit Berlin seit vielen Jahren gut bekannt, nimmt den Leser mit auf ihre Wege, mit zu den Orten, die sie aufsucht, zu den Begegnungen, die sie erlebt, mit in ihre Gedanken, die sie bewegen. Das Ergebnis sind 118 Seiten voller kostbarer Momentaufnahmen, jede für sich atmosphärisch dicht, sprachlich höchst kunstvoll und präzise, klug, interessant und dabei trotzdem unterhaltsam und leicht zu lesen.
Da erfährt man nach und nach, wer noch so alles im Wiko arbeitet, worüber die Fellows dort in dieser kleinen, feinen Elite-Intellektuellen-Enklave am Rande des Grunewalds gesprochen wird („Carlo Ginzberg: ‚Happy is not felice, is not glücklich.‘“), man erfährt dank Rakusas multikultureller Herkunft und ihrem entsprechend weltläufigen Berliner Freundes- und Bekanntenkreis auch viel über das ganz andere Berlin, das bunte Vielvölker-ständig-in-Bewegung-Berlin der Gegenwart, das die Stadt heute so wesentlich prägt. Man liest über den Ort Berlin, seine allgegenwärtige Geschichte (Haus der Wannseekonferenz, Museum der bedingungslosen Kapitulation, Friedhof Weißensee), aktuelle Probleme (370.000 Hartz-IV-Empfänger) und erfährt en passant auch etwas über Ilma Rakusa selbst, über die Autorin, die häufig an andere Dichterkolleginnen denkt (etwa an Friederike Mayröcker), sich für Politik interessiert und Anteil nimmt an Katastrophen, Tragödien, politischen Dilemmata, die sich rund um den Globus ereignen, und auch das ein oder andere über die Frau Ilma Rakusa, die zuhause die „Kümmerer“, die im Wiko für sie sorgen, vermissen wird, die an Migräne leidet und keinen Kaffee trinkt.

Lesarten ergeben sich für „Aufgerissene Blicke“ entsprechend viele: Zu allererst handelt es sich um ein Tagebuch, in dem private Dinge verhandelt werden, Befindlichkeiten und Gefühle, die die Schreibende in diesem Jahr beschäftigen. Weil die Journalschreiberin Rakusa aber nicht nur mit sich selbst beschäftigt ist, machen die Passagen, die ihre eigene Person betreffen, fast den kleinsten Teil des Textes aus. Das bedeutet allerdings absolut nicht, dass dem „Journal“ jener intime Tagebuchcharakter fehlen würde, der für dieses Textgenre bestimmend ist. Es zeigt nur, dass die Autorin Wichtigeres zu denken hat (und damit auch Wichtigeres mitzuteilen hat) als dass sie sich zu lange mit banalen Alltagswehwehchen aufhalten könnte, und dass sie nicht nur eitel-narzisstisch um sich selbst kreist, sondern sich tatsächlich für die ganze Welt interessiert. „Aufgerissene Blicke“ wird dank des wachen, kritischen Blicks der Autorin auch zu einem klugen Kompendium an kurzen Kommentaren und Beobachtungen zur Welt, zu Politik und Gesellschaft. Das ist das, was Rakusa abstrakt, im Geist beschäftigt. Nachdem sie sich aber auch mit sehr wachsamen Augen durch die konkrete Lebenswelt bewegt, die sie umgibt, ist das Journal zugleich auch noch ein origineller Insider-Reiseführer für die Stadt Berlin, mit vielen Lokalnamen, Geschäften, Orten, Plätzen, die die Autorin während des Jahres aufsucht, die sie beeindrucken, positiv oder negativ.
Immer wirken die Situationen, die sie beschreibt, ungemein plastisch. Das liegt vor allem daran, dass Rakusa eine wahre Sprachkünstlerin ist. Dank des lyrischen Talents der Autorin, ihrem stark rhythmischen Sprachduktus und ihrer unglaublichen sprachlichen Präzision werden Rakusas Berlin-Augenblicke jeder für sich zu kleinen literarischen Perlen voller Wortneuschöpfungen („Neunuhrblau“), gelungener Metaphern, eindrücklicher Stimmungsbilder und geistreicher Aperçus.

In gewisser Weise bildet ein Tagebuch ja immer auch die Persönlichkeit seines Autors ab. Je interessanter, klüger, facettenreicher der Schreiber, desto bereichernder aller Wahrscheinlichkeit nach die Lektüre seiner Gedanken und Befindlichkeiten. Bereicherung ist die Lektüre dieses großen kleinen Büchleins von Ilma Rakusa zweifellos, ja, man möchte die Autorin am liebsten gleich persönlich kennenlernen, sie sprechen hören, sie nach ihrer Meinung fragen zu den unterschiedlichsten Themen – zumindest aber möchte man nicht aufhören zu lesen und wünscht sich möglichst bald eine Fortsetzung, wünscht sich mehr solch feiner, poetischer Rakusa’scher Momentaufnahmen.

Titelbild

Ilma Rakusa: Aufgerissene Blicke. Berlin-Journal.
Literaturverlag Droschl, Graz 2013.
120 Seiten, 16,00 EUR.
ISBN-13: 9783854208365

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