Die Welt als Mosaik

Jonathan Littells Erzählung „In Stücken“ entführt in einen Bereich zwischen Wirklichkeit und Fiktion

Von Martin BeckerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Martin Becker

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Was ist das für ein namenloser Protagonist, der sich wie ein Geist durch das Haus bewegt, ohne dass die Bewohner ihn zu bemerken scheinen? Wer ist die geheimnisvolle Frau, die er auf der Straße beschuldigt, ihm nachzuspüren, und die er doch wie selbstverständlich mit in seine Wohnung nimmt? In welcher Beziehung steht er zu dem blonden Jungen, den er pflegt, und dessen Familie?

Bei der Lektüre der nun auf Deutsch erschienenen Erzählung „In Stücken“ von Jonathan Littell werden viele Fragen aufgeworfen. Die gerade einmal 56 Seiten lange Geschichte besteht darüber hinaus aus mehreren Episoden. Sie sind zwar chronologisch angeordnet und durch den namenlosen Ich-Erzähler sowie einige Nebenfiguren verbunden, laufen aber auf kein Ende oder einen großen Sinnzusammenhang zu. So entsteht eine traumähnliche Atmosphäre ohne festen Anfangspunkt und Ziel.

Zwar gewinnt der geisterhafte Protagonist im wahrsten Sinne des Wortes an Kontur und Festigkeit und interagiert immer mehr mit seiner Umwelt, aber auch diese Entwicklung hat keinen Endpunkt. Es geht in der Erzählung nicht um eine psychologische Analyse eines mehr oder weniger gleichgültigen Menschen. Stattdessen steht die Sprache selbst im Vordergrund, die detailliert die Wahrnehmungen des Protagonisten beschreibt, ohne sie in Sinn zu übersetzen. Selbst mit der unbekannten Frau, mit der der Protagonist gleichzeitig fremd und vertraut zu sein scheint, führt keine Wahrnehmung über sich hinaus: „Als sinnliche Erfahrung glitt sie mir fortwährend durch die Finger“, resümiert er in Bezug auf ihre Körperlichkeit. Die Sexualität wird hier als einsame, individuelle Erfahrung verstanden, bei der der Partner zwar körperlich anwesend ist, aber kein tiefer gehendes Verständnis für die Erfahrungswelt des anderen entsteht. Für Littells Protagonisten gibt es nur eine Wirklichkeit – doch das ist seine eigene, und ihr Sinn ist nicht vermittelbar.

Wenn es keine objektive Wirklichkeit gibt, wird die Fiktion ihr mehr und mehr gleichrangig. Die Lektüre eines Buches in der ersten Episode wird für den lesenden Jungen, den der Protagonist beobachtet, zu einer „Flut innerer Bilder […], wirklicher und fesselnder […] als alles, was sich in diesem Haus befand“. In einer späteren Episode fantasiert der Junge im Fieber und gibt Sätze von sich, die für den Protagonisten so zusammenhanglos erscheinen wie die Episoden der Erzählung für den Leser. Die Handlung liefert ständig neue Informationen, die den Rezipienten aber mehr und mehr irritieren. Littell führt gekonnt eine Sprache vor, die keinen Zugang zur Wirklichkeit eröffnet, weil sie sich jeder sicheren Zuschreibung entzieht. Und genau hier entsteht seine Literatur. Er versteht es gekonnt, durch seine ästhetischen Beschreibungen eine Welt zu erschaffen, die greifbar wirkt und doch fremd bleibt.

Dass Littell die Irritation beherrscht, stellte er schon mit seinem Skandalroman „Die Wohlgesinnten“, Gewinner des Prix Goncourt von 2006, unter Beweis. Hier wurde der Leser mit einem SS-Offizier als Erzähler konfrontiert, dessen Darstellung der Shoah und des Zweiten Weltkrieges den Leser in seinen moralischen Überzeugungen angreift und immer wieder die Grenzen zur Pornografie und zum Kitsch überschreitet. Auch hier demonstrierte der Autor, wie verführerisch Sprache ist, wenn sie uns eine scheinbar kohärente Wirklichkeit erschafft. Dies gilt in „Die Wohlgesinnten“ nicht nur für die Euphemismen der nationalsozialistischen Sprachregelungen, sondern auch für den Protagonisten selbst, der seine Taten rechtfertigt und schließlich auch für eine Geschichtsschreibung, die Fakten zusammenträgt, das Leid der Opfer aber verwischt. Denn Jahres- und Opferzahlen wirken auf den ersten Blick objektiv, vermitteln aber keine Vorstellung der menschlichen Kälte und Grausamkeit. Doch genau dieser Einblicke in die Möglichkeiten der menschlichen Abgründe bedarf eine moralische Reflexion.

In der Sprachkritik zeigt sich die Parallele zu seiner neuen Erzählung, und gleichzeitig liegt hier die Stärke dieses kurzen Textes. Littell arbeitet hier die Brüchigkeit der Sprache viel deutlicher heraus. Trotz der Frustration durch die Handlung, die so viele Spuren legt, die alle ins Nichts führen, lässt sich die Erzählung lustvoll lesen, weil der Leser durchschaut, dass die Verwirrung Teil des Spiels ist. Die ausdrucksstarken Beschreibungen und Bilder, die der Autor verwendet, tun ihr Übriges, um den Leser in Littells fiktionaler Welt versinken zu lassen. Denn wie jeder Traum braucht die Erzählung keinen Anfang und kein Ende, um schön zu sein. Hainer Kober ist es gelungen, Littells Sprache gekonnt ins Deutsche zu übertragen, die die Lektüre auch in der Übersetzung zu einem Genuss macht.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Jonathan Littell: In Stücken.
Übersetzt aus dem Französischen von Hainer Kober.
Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2013.
60 Seiten, 14,90 EUR.
ISBN-13: 9783882210286

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch