Unglaubliche Leben

Über Erwin Kochs „Wahre Geschichten“

Von Martin GaiserRSS-Newsfeed neuer Artikel von Martin Gaiser

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das CERN in Meyrin bei Genf, das unermesslich große Brasilien, die niederländische Provinz, die Schweiz, das kolumbianische Bogotà, der Londoner Stadtbezirk Harrow, halb Asien, Düsseldorf – in all diesen Gegenden, Städten, Regionen, Ländern spielen die wahren Geschichten, die Erwin Koch in seinem atemberaubenden Buch „Von dieser Liebe darf keiner wissen“ versammelt hat. Dass diese Texte zwischen 2002 und 2012 bereits in diversen Zeitungen und Zeitschriften erschienen sind, nimmt ihnen nichts von ihrer Wucht, ihrer Brisanz und Aktualität und vor allem rein gar nichts von ihrer Brillanz.

Der 1956 geborene Koch, der seit zehn Jahren auch als Romancier erfolgreich ist (unter anderem mit „Sarah tanzt“), hat für viele wichtige deutschsprachige Magazine preisgekrönte Reportagen geschrieben, einen Teil davon kann man nun glücklicherweise in diesem Buch nachlesen. Diese Geschichten nacherzählen zu wollen, macht in einer Rezension nicht viel Sinn und ist bei einem solchen Meister der Verknappung und Verdichtung, des exakt gesetzten Wortes nachgerade eine Anmaßung. Deshalb sei nur kurz angerissen, worum es jeweils geht. Da ist die 14-jährige Sarah, die an Leukämie erkrankt ist und sich verzweifelt gegen ihr Schicksal wehrt. In „Puccini statt Pralinen“ liest man atemlos von Dario, der als 15-jähriger seine Liebe zur Musik, zu Opern und Operetten entdeckt und viel später, da ist er schon lange verheiratet und Vater mehrerer Kinder, die Liebe zu anderen Männern. Dann gibt es die unglaubliche Geschichte der 94-jährigen Gertrude Harris aus Harrow, deren Vater 1916 im 1. Weltkrieg wegen Feigheit vor dem Feind erschossen und der nach rund 90 Jahren rehabilitiert wurde, weswegen auch Gertrude bei der feierlichen Veranstaltung zu Ehren vieler Soldaten anwesend ist.

Und so geht es weiter in diesem kleinen Wunder von einem Buch, das den Leser teilweise extrem berührt, obwohl die Geschichten nicht die epische Länge von Romanen haben, eher mit vielen sehr nüchternen Details und typischen Reportageelementen wie Statistiken, exakten Daten wie Handynummern oder Busfahrzeiten gearbeitet sind, doch gerade dadurch eine schon fast greifbare Nähe zum Geschehen und vor allem zu den Menschen herstellen. Diese Authentizität, dieses Verbürgte, Nachrecherchierbare ist es unter anderem, was Kochs Texte so lebendig, glaubhaft, wahrhaftig macht.

Neben all den unfassbaren Beschreibungen unbekannter Menschen, mit denen Koch eindrucksvoll zeigt, dass in jedem Leben eine Geschichte steckt, die es zu erzählen lohnt, findet der ungläubig staunende Leser den Text „Waterloo, Austerlitz“, der das Leben und Leiden, die Erfolge und die Krankheit des großen deutschen Malers Jörg Immendorff auf Koch’sche Weise wiedergibt. Und auch darin wechseln sich exakte Daten und Namen und recherchierte und packend erzählte Ereignisse mit ganz offenen Fragen wie „Herr Immendorff, was prägte Ihre Kindheit am stärksten?“ und emotionalen Antworten wie „Die Scheidung! Die Scheidung meiner Eltern. Und das Sich-einrichten, ich musste mein Leben einrichten / erfinden.“ ab.

Darin liegt Kochs Geheimnis. Die Lebendigkeit seiner Geschichten, das nicht Vorhersehbare, nicht Erwartbare, die Überraschung prägen seinen Stil und führen den Leser ganz nah heran an diese Leben, an diese Menschen. Ein wenig erinnert „Von dieser Liebe darf keiner wissen“ an die zwei starken Geschichtenbände Ferdinand von Schirachs, da auch dieser tief eindringt in umgekippte Lebensläufe und in präzise verknappter Form erstaunliche Porträts schafft. Ein schmales, sehr beeindruckendes Buch.

Titelbild

Erwin Koch: Von dieser Liebe darf keiner wissen. Wahre Geschichten.
Nagel & Kimche Verlag, Zürich 2013.
191 Seiten, 17,90 EUR.
ISBN-13: 9783312005574

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