Lolita – Filia dolorosa

In ihrem Roman „Darling River“ beleuchtet Sara Stridsberg Nabokovs Lolita aus neuen Perspektiven

Von Beat MazenauerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Beat Mazenauer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Auch 50 Jahre nach Erscheinen klingt Vladimir Nabokovs „Lolita“-Roman noch irgendwie nach Skandal. Beinahe täglich wecken Medien-News die Erinnerung an jenen sexuellen Tabubruch zwischen der kindlichen Dolores Haze und ihrem Stiefvater. Lolita ist längst ein Mythos, der keiner erläuternden Worte mehr bedarf. Genau das aber hat die schwedische Autorin Sara Stridsberg zu einem Roman provoziert, der dieses Selbstredende im kollektiven Bewusstsein anruft und hinterfragt. „Darling River“ dekonstruiert in Variationen Nabokovs Figur aus der Sicht einer feministischen Autorin mit Jahrgang 1972. Stridsbergs Buch ist keine einfache Lektüre. Zwar lässt es sich auch ohne Nabokov-Folie lesen, doch steckt darin ein Netz an Bezügen zur Vorlage, das die Auseinandersetzung mit ihr vertieft. Sie greift gewissermaßen in die Lücken des „Lolita“-Romans und beginnt sie zu füllen. „Darling River“ ist in fünf Episoden unterteilt, deren erste vier das Thema je nochmals in unterschiedliche Textstränge aufgliedern. Unter der Überschrift „Darling River (Lo)“ erzählt Dolores alias Lo (weil Lo schöner und weniger sentimental klingt) von ihren nächtlichen Fahrten mit dem Vater sowie den täglichen Balgereien mit ihren „Brüdern“ im Strandschlick des Darling River. Lo trauert der verschwundenen Mutter nach und findet sich mit dem rastlosen Vater ab. Auf den Ausfahrten bis zum Morgengrauen schläft Lo mal hinten auf dem Rücksitz, mal guckt sie zu, wie sich Vater mit einer der Prostituierten vom Straßenstrich herumtreibt. Tagsüber schießen sie manchmal zusammen auf die Kleider der Mutter.

Dieser Mutter sind die Teile unter der Überschrift „auf der Mutterkarte“ gewidmet: Lebenszeichen aus den unterschiedlichsten Weltgegenden von einer rastlosen Fotografin, die nirgends mehr innehalten kann. Das Ende der Nabokov-Geschichte greift „Das Buch der Toten (Dolores)“ auf. Stridsberg erzählt die Geschichte von Lo mit Richard Schiller – allerdings in einer Rückwärtsprojektion vom Tod ihres Kindes bei der Geburt zurück zum Beginn der Flucht nach Alaska.

Ein beiläufiger Hinweis von Nabokov aus dem Nachwort zu „Lolita“ mündet sodann in die vierteilige Erzählung „Jardin des Plantes“. Ein gehemmter Wissenschaftler experimentiert darin mit einer jungen Äffin, er will sie lehren zu zeichnen, um sie seinen Kollegen vorzuführen. Das Experiment nimmt allerdings zunehmend sadistische und emotional aufwühlende Züge an, die im Desaster enden. Stridsberg spiegelt darin das Lolita-Thema und variiert es auf beklemmende Weise. Enzyklopädische Stichworte zu Motiven und Themen des Buchs schließen jeden der vier Teile ab.

Aus dieser Zusammenfassung lässt sich ersehen, dass es Stridsberg weniger um Nabokov geht, als um eine poetische Dekonstruktion seines Mythos: die Anziehung zwischen jungen Mädchen und älteren Männern, wobei im Unterschwelligen diffus bleibt, wer wen anzieht, verführt und bändigt. „Darling River“ umspielt erotische Sehnsüchte und die Macht des Begehrens, das nicht nur, aber vor allem Lo zerstört. Sie hat sich illusionslos in einer melancholisch verrückten Welt eingelebt, dabei hat sie ihr „Überlebensinstinkt“ verlassen, wie sie selbst feststellt, der „Drang fortzugehen und mir ein eigenes Leben aufzubauen“. Am Ende verfällt sie körperlich zu einer Filia dolorosa, einer Schmerzenstochter, die ihrem Namen gerecht wird.

Aus verfremdender Perspektive beleuchtet Stridsberg das unerlöste Miteinander zwischen Mann und Frau. Sie schildert eine letztlich traurige Welt voller Ängste und Nöte, Fluchtgedanken und falschen Hoffnungen.

Am Roman überzeugt vor allem die klare Diktion und die gezügelt schöne beschreibende Sprache, die kraftvoll, ungeschönt und diskret zugleich beschreibt, was zwischen den Menschen vor sich geht. Stridsberg redet sich nie auf sprachliche Derbheiten heraus, der Sachverhalt wird vielmehr akkurat genau erzählt und befestigt.

Das hat bereits ihren fulminanten Roman „Traumfabrik“ (2011) ausgezeichnet. Im Unterschied dazu verrät „Darling River“ jedoch auch eine Schwäche. Während in „Traumfabrik“ das auktoriale Ich selbst in die Auseinandersetzung eingreift und so emotional spürbar wird, bleibt diese Stimme hier stumm, und die Prosa somit kühl distanziert. So fehlt es dem neuen Buch im Endeffekt an aufwühlender Spannung.

Titelbild

Sara Stridsberg: Darling River. Roman.
Übersetzt aus dem Schwedischen von Ursel Allenstein.
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2013.
331 Seiten, 21,99 EUR.
ISBN-13: 9783100900524

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