„Heil, Sieg, fette Beute“

Samuel Beckett in seinen Briefen der Jahre 1929 bis 1940

Von Friedhelm RathjenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Friedhelm Rathjen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Vom späten Beckett weiß man, dass er seine gar nicht so wenigen Freunde und Bekannten gern auf Distanz zueinander hielt, sich gern mit einem, aber ungern mit mehreren von ihnen traf. Beckett war kein Mann der Gruppen-, sondern einer der Einzelkommunikation. Seinem Freund Thomas McGreevy schreibt er im Juni 1939: „alle Gruppen sind schrecklich“. Drastischer noch hat er diesen Befund neun Jahre zuvor ausgedrückt, ebenfalls in einem Brief an McGreevy: „Sind die Leute nicht idiotisch?“ Die „Leute“, von denen Beckett sich abgestoßen fühlt, sind Menschen in Gruppen oder auch Menschen, die sich gruppenkonform verhalten. Wer Beckett deswegen für einen Misanthropen hält, geht freilich fehl, denn für einzelne Menschen hat er sich immer interessiert, auch eingesetzt, ihnen notfalls Opfer gebracht.

Und was wäre besser geeignet, mit einzelnen Menschen zu kommunizieren, als der Brief? In den Briefen Samuel Becketts aus den Jahren 1929 bis 1940, die im ersten Band einer auf vier Bände angelegten Edition versammelt sind, ist immer wieder mit Händen zu greifen, wie sehr es Beckett nach der Gesellschaft einzelner Menschen verlangt, die ihm wichtig sind – und dieses Verlangen wird umgesetzt in der Produktion von Briefen. Gelegentlich gibt Beckett dem Bedauern Ausdruck, dass sein Gegenüber nicht bei ihm ist; weitaus häufiger allerdings bekundet er seine Freude darüber, von diesem Gegenüber einen Brief erhalten zu haben – es ist die einzige Freude, die Beckett jemals als solche bezeichnet.

In den Ausdruck dieser Freude mischt sich in aller Regel allerdings so gleich das Bedauern darüber, nicht auch selbst Anlass zur Freude bieten zu können – immer wieder entschuldigt sich Beckett für das Klagen und Jammern, das seine Briefe durchzieht: „verzeih diese Jeremiade“. Beckett beklagt seine Enttäuschungen und Frustrationen (Mutter und Bruder verstehen ihn nicht, Verleger wollen seine Bücher nicht drucken, Redakteure lehnen seine Beiträge ab), vor allem aber beklagt er seine eigenen Unzulänglichkeiten. Als er sich mit der Übersetzung der „Anna Livia Plurabelle“ von Joyce ins Französische quält, formuliert er seine Klage über die Unmöglichkeit dieses Unterfangens so, dass sie wie die Negierung aller Möglichkeiten überhaupt klingt: „Ich weiß, dass so nichts werden kann, dass so nichts Wertvolles entsteht, aber man macht weiter, getrieben vom Wind, wie die Accidiosi.“ (Die Letztgenannten sind die „Trägen in Dantes Inferno“, wie eine der klugen editorischen Anmerkungen uns aufklärt.) Als McGreevy ihn um Hilfe bei der Suche nach einem Zitat bittet, antwortet Beckett: „Alles was ich tun kann, tue ich mit der größten Freude. Aber Du kannst sicher sein, daß ich alles falsch & schlecht mache.“

Als er sich in einer ungeliebten Lektorenstelle in Dublin gefangen sieht, gelähmt von der Befürchtung, er könne sich an seine eigene „professorale Inkompetenz“ gewöhnen, bekundet er: „Hier geht überhaupt nichts – weder lesen noch denken noch schreiben.“ Dabei verbringt Beckett doch lange Zeiten damit, sich quer durch die Weltliteratur zu lesen: Augustinus liest er „auf Zitatsuche“, ein immenses Pensum diverser Nationalliteraturen zur Mehrung der eigenen Kenntnisse, und gelegentlich findet er sogar zurück zur „alten kindlichen Versunkenheit […], mit der ich die Schatzinsel & Oliver Twist und vieles andere gelesen habe – frei von allen Plündergelüsten“.

Vor allem in den Zeiten, die Beckett aus finanziellen Gründen bei seiner Familie in Irland („Land meiner mißglückten Abtreibung“) verbringen muss, ist er wie gelähmt („die Tage rollen über mich hinweg & ich tue nichts“) und kann sich höchstens dazu aufraffen, zu Fuß oder mit dem Fahrrad über die Berge zu hetzen: „Ich mag das Wandern mehr & mehr, & je zielloser, desto besser.“ Am schlimmsten ist ihm die Vorstellung, in Irland hängenzubleiben: „Die Erfahrung, an einem Ort Wurzeln zu schlagen wie ein Polyp, auf einer Art Nährschleim der Konformität zu leben, ist eine schreckliche. Und dazu noch an einem Ort wie diesem.“

Jede Rückkehr von Irland nach London, wo Beckett sich 1934/35 einer Psychotherapie unterzieht, ist ihm eine „enorme Erleichterung“, und das Wort „Erleichterung“ ist in Becketts Wortschatz die größtmögliche Annäherung an einen Ausdruck der Freude (wenn eines der Gedichte, die Beckett gelegentlich seinen Briefen beilegt, vom Adressaten gelobt werden, reagiert er auch darauf „erleichtert“, und zwar „sehr“). Dennoch findet er auch in London keine Perspektive für sich und fühlt sich zu allem unfähig: „Wie schwer es ist, eine erträgliche Balance von Arbeit & Leben zu erreichen.“ (Auch „erträglich“ ist eine Vokabel, die bei Beckett schon die größtmögliche Annäherung ans unerreichbare Glück bezeichnet.) Nur mit Mühe gelingt es ihm, wenigstens am Schreiben festzuhalten („Das einzige Gebiet, auf dem meine Niederlage noch nicht erwiesen scheint, ist das literarische“), nachdem er ein Weilchen zuvor noch befürchtet hatte, er könne „vom Drang zum Schreiben geheilt“ sein, und seinen Roman „Murphy“ fertigzustellen. Über diesen Roman äußert er sich zwar auch nicht gerade begeistert („Am Ende ödet er mich ziemlich an, Murphy O’Blomow“), verwendet aber auf die Versuche, ihn publiziert zu bekommen, mehr Energien als auf irgend etwas anderes.

Vielleicht rührt dieser Energieschub auch daher, dass nur professionelle oder öffentliche Anerkennung die Schuld- und Minderwertigkeitsgefühle, die Beckett seiner Familie gegenüber verspürt, lindern könnte. Becketts vorrangiges Bestreben ist es, sich auf eigene Füße stellen und das fesselnde Zuhause hinter sich lassen zu können; zu diesem Zweck erwägt er alle möglichen und auch unmöglichen Schritte (einmal will er, der nichts über das Fliegen weiß, sogar Pilot werden), deren Umsetzung aber in der Regel daran scheitert, dass er über keinerlei Fähigkeiten zu verfügen glaubt: „Wenn ich wenigstens Reifen flicken könnte!“ Wenn er etwas kann, dann allenfalls auf dem Feld der Literatur oder vielleicht noch auf dem der Kunstkritik (in vielen Briefen finden sich scharfsinnige Analysen von Gemälden und Malstilen).

Becketts Erwägungen, sich auf Lektorenstellen in Harvard, Mailand oder Rhodesien zu bewerben, sind eher getrieben von dem Wunsch, den Verstrickungen in Irland zu entkommen, als von der Hoffnung auf Karrieren, und auch seine ausgedehnte Deutschlandreise 1936/37 ist, wie Beckett selbst vermerkt, mehr eine Reise „weg von“ als eine Reise „zu“ etwas. Tatsächlich beworben hat er sich auf eine Universitätsstelle in Kapstadt; aufschlussreich ist, womit er in dem einzureichenden Lebenslauf die Tätigkeitslücke der Jahre 1932-37 füllt: „Privatstudien und Aufsätze. Reisen nach Frankreich und Deutschland.“ Dass Beckett weitaus mehr gemacht, erlebt und geschrieben hat, als ein dürrer Lebenslauf preisgeben kann, zeigen uns die Briefe dieser Jahre. „Ich kann nicht lesen, schreiben, trinken, denken, fühlen oder mich rühren“, klagt Beckett im November 1936 aus Hamburg und belegt doch mit fast jedem Satz seiner Briefe das Gegenteil.

Die Jahre von 1929 bis 1940, aus denen die hier versammelten Briefe stammen, waren für Beckett Jahre des Erlebens, der (oft erzwungenen, bisweilen ersehnten) Bewegung, durchaus auch des Handelns. Als lückenlose Dokumentation dieser Zeit oder gar als Biografie in Selbstzeugnissen können die Briefe freilich nicht hinreichen, dazu sind sie viel zu lückenhaft – wichtige Themen und Ereignisse wie etwa Becketts Beziehungen zu Lucia Joyce und Peggy Guggenheim oder seine lebensgefährliche Verletzung durch einen Messerstecher kommen nicht oder nur indirekt vor (Beckett bekundet „Erleichterung“, als der Messerstecher nur zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt wird). So ist die Lektüre dieser Briefe erst sinnvoll, nachdem man sich auf anderem Wege über Becketts Lebensumstände der fraglichen Jahre informiert hat, beispielsweise aus der grundlegenden Biografie James Knowlsons. Da Knowlson seinerzeit fast alle hier abgedruckten Briefe schon gesichtet hat und viele ausführlich zitiert, sind uns allerdings die wirklich aufschlussreichen Briefstellen großteils schon bekannt; als Kenner der Beckett-Biografie erfahren wir im Briefband kaum Neues.

Nun war es freilich gerade Samuel Beckett, der immer wieder darauf insistiert hat, es gehe in der Literatur nicht darum, etwas Neues zu sagen, sondern darum, die selben Dinge immer wieder zu sagen, und immer wieder neu. Und in der Tat hat die Lektüre vollständiger Beckett-Briefe eine Qualität, die mit zusammenfassenden Paraphrasen und ausschnitthaften Zitaten so nicht zu haben ist. Erst beim Lesen der Briefe selbst eröffnet sich der unvergleichliche Beckett-Sound. Es ist dies im Übrigen kein Sound des Immergleichen, denn Beckett weiß seinen Ton anzupassen: dem verhandelten Gegenstand und vor allem dem jeweiligen Adressaten. Bisweilen wird der Beckett-Sound beinahe lethargisch, dann aber auch wieder aufgekratzt oder gar überspannt, und einige Briefe, die Beckett von und nach seiner Deutschlandreise schreibt, sind übersät mit deutschen Floskeln, die Beckett in offen satirischer Absicht benutzt: „Heil, Sieg, fette Beute and a Merry Xmas“; „Gehorsamst Sam“ („so im Original“, fügt der Übersetzer vorsichtshalber hinzu).

Eines immerhin ist allen Tonschattierungen des Beckett-Sounds gemein – hier fallen fast durchgängig Distanziertheit und Beteiligung in eins. Becketts Ton ist ein Ton der unablässigen unterschwelligen Distanzierung, einer Distanzierung vor allem von sich selbst; einmal gibt er zu: „Es ist ein großes Handicap für mich […], daß ich mich nicht auf direkte Art ausdrücken kann“. Bei oberflächlichem Hinsehen könnte man meinen, die Dinge, von denen Beckett schreibt, und die Personen, denen er sich zuwendet, interessierten ihn nicht wirklich. Dieser Eindruck allerdings ist ein Trugschluss. Becketts Ton der ganz feinen Distanzierung zielt darauf ab, unerträgliche Dinge durch sprachliche Verwandlung erträglich zu machen – genau diese Distanzierung erlaubt es ihm dann wiederum, sich mit Dingen zu befassen, die ihm eigentlich gerade doch zu nahe gehen, als dass er sich dazu äußern könnte. Die distanziert scheinende sprachliche Umsetzung und auch Formalisierung dient also paradoxerweise dazu, ganz nah an Abgründe und Entsetzlichkeiten (auch des Ichs) heranzukommen, die ansonsten unerreichbar und nicht zu fassen wären. Dieses Phänomen, eng an den Beckett-Sound gekoppelt, scheint in den hier versammelten Briefen auf, durchzieht aber natürlich auch das Werk Becketts, und zwar vor allem das reife, das später entstandene Beckett-Werk. Insofern hat Mitherausgeber Dan Gunn recht, wenn er einleitend schreibt: „Briefe ermöglichen ihm ein Schreiben, eine Stimme vielleicht, die er in der öffentlichen Arena noch nicht einzusetzen wagt.“

Vermutlich ist diese Formulierung aber auch taktisch begründet. Schon 1985 hat Beckett selbst Martha Fehsenfeld autorisiert, eine Ausgabe seiner Briefe zu erstellen, allerdings mit der Einschränkung, es dürften nur Briefpassagen publiziert werden, die relevant für sein Werk seien. Diese Einschränkung hat das Erscheinen der Ausgabe um Jahrzehnte verzögert, zumal Becketts erster Nachlassverwalter, der Verleger Jérôme Lindon, die Einschränkung sehr eng ausgelegt sehen wollte. Nach Lindons Tod hat sich der Rechtsnachfolger, Becketts Neffe Edward, zu einer großzügigeren Auslegung bekannt, derzufolge auch die Briefe selbst ein „Werk“ konstituieren, aber Beschränkungen, die vor allem private Inhalte betreffen, bleiben. Etliche Briefe konnten deswegen nur gekürzt und andere gar nicht gedruckt werden.

Dies ist allerdings nur der eine Grund, warum wir Becketts Briefe nur in einer Auswahl-, nicht in einer Komplettausgabe bekommen; der andere ist der kaum publizierbare Gesamtumfang. Insgesamt 15.000 Briefe Becketts sind bisher gefunden worden; 2500 davon sollen in den vier Bänden der Ausgabe abgedruckt, weitere 5000 im Anmerkungsapparat zitiert werden. So verständlich die Entscheidung für eine Auswahl ist – misslich ist sie doch, wie der erste Band zeigt. Er enthält gut 200 Briefe, davon die Hälfte an Becketts wichtigsten Freund dieser Zeit, Thomas McGreevy – aber es existieren noch viel mehr Briefe an McGreevy, von dessen (allerdings großteils verlorenen) Antworten ganz zu schweigen, und die Auswahl verhindert alle Kontinuität. Eine Publikation des kompletten erhaltenen Briefwechsels Beckett / McGreevy bleibt deswegen unser Wunsch an die Zukunft.

Für die verhinderte Kontinuität versucht das Herausgebergremium der Auswahlausgabe mit Anmerkungen und Zeitleisten zu sorgen, die allerdings nicht immer glücklich formuliert und auch nicht immer korrekt sind (einige haarsträubende Fehler wie die in der Originalausgabe zu findende Behauptung, Hitler sei am 1. Januar 1933 Reichskanzler geworden, werden immerhin vom Übersetzer und Bearbeiter der deutschen Ausgabe korrigiert, der zudem einige hilfreiche Dinge nachträgt, zum Beispiel eine Erläuterung des sonst nur für Keltologen verständlichen Begriffs „Pokornographie“; in anderen Fällen streicht er zweifelhafte Fußnoten leider stillschweigend, statt Fehlinformationen richtigzustellen, und auch die Zeitleisten werden aus unerfindlichen Gründen gegenüber der Originalausgabe verkürzt). Vielleicht ist die Ausgabe auch weniger für die kontinuierliche als für eine gezielt springende Lektüre geeignet, die allerdings durch ein lücken- und fehlerhaftes Register erschwert wird. Hoffen wir, dass solche kleinen Schönheitsfehler in den drei ausstehenden Bänden (von denen einer inzwischen in England erschienen ist) unterbleiben – und dass die Komplettierung der Ausgabe nicht nochmals ein Vierteljahrhundert Vorbereitungszeit braucht. Becketts Briefe führen ins Zentrum der Existenz eines Autors, der das 20. Jahrhundert vielleicht besser verkörpert als jeder andere, und deswegen möchten wir von diesen Briefen lesen, soviel nur möglich ist.

Für schlichtes Lesen ohne wissenschaftliche Verwertungsinteressen ist Chris Hirtes Übersetzung im übrigen durchaus geeignet; zwar könnte man sich hier und da ein wenig mehr Nähe zum Wortlaut der deutschen Beckett-Werkausgabe wünschen, doch der erwähnte Sound Becketts kommt in den deutschsprachigen Brieffassungen gut zur Geltung. Dass und warum hingegen für die wissenschaftliche Beschäftigung diese übersetzte Fassung nicht benutzt werden sollte, legt Hirte in einer ausführlichen „Vorbemerkung des Übersetzers“ etwas umständlich dar und begründet damit auch die zum Teil leicht irritierenden editorischen Abweichungen von der Originalausgabe. Diese Abweichungen haben zu dem erstaunlichen Satz im Impressum geführt: „Cambridge University Press, Herausgeber und The Estate of Samuel Beckett übernehmen für die deutsche Ausgabe keine Gewähr.“ Wer eine „Gewähr“ will (was immer das in der Praxis auch heißen mag), greife also unbedingt zur Originalausgabe, sei dabei aber stets auf der Hut vor Patzern in der Kommentierung.

Titelbild

Samuel Beckett: Weitermachen ist mehr, als ich tun kann. Briefe 1929–1940.
Übersetzt aus dem Englischen und Französischen von Chris Hirte.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2012.
800 Seiten, 39,95 EUR.
ISBN-13: 9783518422984

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