Die Menschen aus dem Limousin

Pierre Michon beschreibt in „Die Elf“ ein imaginäres Gemälde eines imaginären Revolutionsmalers

Von Beat MazenauerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Beat Mazenauer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Am Anfang steht eine Frage, im Januar 1794 gestellt: Warum sollte nicht ein Künstler der alten Schule ein geniales Revolutionsbild malen können? Bei einem gespenstischen nächtlichen Treffen erhält der Maler François-Élie Corentin zur eigenen Verblüffung den offiziellen Auftrag, die elf Mitglieder des allmächtigen Wohlfahrtsschusses um Robespierre und Saint-Just zu porträtieren. Er soll schnell arbeiten und dabei höchste Geheimhaltung üben. Warum ausgerechnet er, Corentin, ein Schüler Tiepolos, der gewiss nicht zu den Jüngern des Revolutionshelden David zählte? Die Frage ist bis heute umstritten, so schreibt es zumindest der Autor Pierre Michon in seinem Roman „Die Elf“. Denn an diesem monumentalen Tableau, das später das „berühmteste Bild der Welt“ werden und zu den Ikonen im Louvre gehören sollte, ist weit mehr als nur das Motiv der Auftraggeber rätselhaft. Einzig in Michelets „Französischer Geschichte“, so Michon, fänden sich knappe Hinweise auf seine Entstehungsweise. So gut wie gar nichts ist über Corentin selbst bekannt.

In seinem Roman „Die Elf“ begibt sich Pierre Michon auf ein rätselhaftes Territorium, in dem viel Gemunkel und Ondit herrscht. Kein Besucher des Louvre hat dieses angebliche Revolutionstableau im Gewand eines Abendmahls à la Veronese je gesehen. Einzig die Leser des schmalen Romans kennen es. Michon treibt darin lustvoll ein intellektuelles Gedankenspiel. Das Ende der ersten Phase der Revolution kristallisiert sich in einem Bild, das Höhepunkt und Abgesang in einem darstellt. Der darauf abgebildete „Abschaum der Erde“ feiert seine Macht, doch die geniale Bildkonstruktion lässt bereits den Sturz erahnen –Michon beschreibt das nie Gesehene.

Virtuos setzt er Zeichen, Symbole und Anspielungen miteinander in eine erfundene Beziehung, um daraus einen Text zu gewinnen, der sich frei und biegsam zwischen essayistischer Brillanz und fantastischer Erzählung bewegt.

„Die Elf“ ist ein sehr französisches Buch – vergleichbar auch mit Mathias Énards historischer Fiktion „Erzähl ihnen von Schlachten, Königen und Elefanten“. Die Träume der Revolution entspringen der intellektuellen und ästhetischen Spekulation, wenn nicht gar der reinen Fiktion; ähnlich verhält es sich mit den Träumen der Akademie, mit deren terreur Michon hier ebenfalls abrechnet. Corentins monumentales Tableau ist der Spiegel, in dem sich die institutionelle Gewalt erzählerisch kondensiert.

Im Kern fokussiert der Roman auf das rätselhafte Revolutionsbild. Michon lässt es sich aber in einem ersten Teil nicht nehmen, die Figur Corentins aus einer Familiengeschichte heraus zu entwickeln, die im Limousin wurzelt. Dieser Gegend in Zentralfrankreich, aus der er selbst stammt, hat Michon bereits 1984 in seinem literarischen Debüt „Leben der kleinen Toten“ (im Original unübersetzbar „Vie minuscule“) ein großartiges Porträt gewidmet. Während der fiktive Corentin „elf kräftige Limousins“ in Gestalt von Göttern und Ungeheuern malte, skizziert Michon Menschen, „die näher an der Erde geboren und schneller wieder von ihr verschluckt werden“.

Sprachlich hoch konzentriert entwickelt er kurze Lebensläufe von Landsleuten, die kaum eine Schule besuchten, Patois sprachen und nur selten aus dem eigenen Dorf herauskamen. Kurzum: von eigenen Verwandten und Nachbarn, die er zumindest vom Hörensagen kannte. Der akkurate Stil dieser Prosa verleiht ihnen nicht Größe, sondern nur „Sehnsucht und Verlangen nach Größe“. Während sich der Erzähler, der keinen Hehl daraus macht, dass er der Heimat entkommen ist, sprachlich weit über sein Limousin erhebt, kehrt er in Gedanken ganz nah dahin zurück – wohl wissend, dass er noch dazu gehört.

„Doch indem ich von ihm spreche, spreche ich von mir“, schreibt er beispielsweise über André Dufourneau, dessen Fluchtziel kurz nach dem Krieg Afrika, auf jeden Fall Übersee war und der vielleicht doch nur in einem nahen Gefängnis endete. Was von ihm zurück bleibt, ist eine Erinnerung und die Illusion, er könnte es geschafft haben. Man redet viel im Dorf, doch selbst von seinem Tod vermag sich der Autor nur eine mögliche Vorstellung zu machen. „Zwischen Apfel und Buschmesser war ein unbedeutendes Leben verflossen, in dem mit jedem Tag der Geschmack des einen schaler und die Schneide des anderen schärfer geworden war“, bilanziert er düster. Allein, was bliebe davon übrig, würde er sich nicht erinnern. „Wie es wirklich war, weiß keiner“, bekräftigt Michon später nochmals. Genau daraus schöpft dieses Buch mit den acht Lebensläufen seine berührende Kraft.

Stil ist der Modus, um mit diesen Geschichten fertig zu werden und ihnen die Reverenz erweisen, insbesondere in der letzten Geschichte über die „kleine Tote“, in der Michon der eigenen früh verstorbenen Schwester gedenkt. Die Toten reden eine andere Sprache, „wenn sie ins reine Wort und ins Licht zurückkehren“, weiß auch er. Möge sein sprachlich vollendetes Zeugnis, hofft er, „ihnen erlaubt haben, einzig kraft der erzeugten Spannung in der Luft flüchtig Gestalt anzunehmen“. Dies wenigstens ist Pierre Michon eindrücklich gelungen.

Titelbild

Pierre Michon: Die Elf.
Übersetzt aus dem Französischen von Eva Moldenhauer.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2013.
120 Seiten, 17,95 EUR.
ISBN-13: 9783518224748

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Titelbild

Pierre Michon: Leben der kleinen Toten.
Übersetzt aus dem Französischen von Anne Weber.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2013.
220 Seiten, 19,95 EUR.
ISBN-13: 9783518224755

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