Eine Ausgabe mit altem Thema und neuen Ansichten

Es ist keine große Neuigkeit, dass der Antisemitismus in Deutschland Konjunktur hat. Man werfe nur einen kurzen Blick in den im Auftrag der Bundesregierung erstellten „Bericht des unabhängigen Expertenkreises Antisemitismus“, der 2011 unter dem Titel „Antisemitismus in Deutschland – Erscheinungsformen, Bedingungen, Präventionsansätze“ erschien. Das alarmierende Datenmaterial, dass diese Studie in gebündelter Form publik machte, führte 2012 zu einigem Aufruhr in den Medien. Etwa 20 Prozent der Bevölkerung in Deutschland, so lautete eines der Ergebnisse, wiesen latenten Antisemitismus auf.

Dieses statistisch belegte Problem bringt es unter anderem mit sich, dass sich in Deutschland viele Leute überhaupt nicht dafür interessieren oder es gerne mit einem bloßen Achselzucken übergehen. Manche Vorfälle, mit denen sich vor allem jüdische Menschen im deutschen Alltag zusehends konfrontiert sehen, schaffen es derweil nicht einmal mehr in die Presse. So etwa ein Eklat bei einem Pop-Konzert der Sängerin Beyoncé in Berlin, über den man zeitnah nur dann etwas erfahren konnte, wenn man amerikanische oder israelische Webforen las.

Auch Literaturwissenschaftler, die sich mit dem Antisemitismus auseinandersetzen, müssen feststellen, dass das Thema den Deutschen nicht unbedingt unter den Nägeln brennt. Kann man doch sowohl in der universitären Lehre als auch in der alltäglichen Fachdiskussion immer wieder die Erfahrung machen, dass eine wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Phänomen keinesfalls überall begrüßt wird. Stattdessen führt Antisemitismuskritik oft zu offenen Unmutsbekundungen, stößt auf Ablehnung oder führt sogar zu raunenden Warnungen, man könne sich mit einem solchen Thema in der Karriere nur schaden.

Doch nicht alle denken so. Deshalb hat die Beschäftigung mit der Frage, wie Literarischer Antisemitismus, ein von dem Literaturwissenschaftler Mark H. Gelber geprägter Begriff, zu bestimmen und zu bewerten sein könnte, in den letzten Jahren wichtige Differenzierungen erfahren. Die Redaktion von literaturkritik.de, die den Themen Judentum und Antisemitismus in den letzten Jahren bereits wiederholt ganze Ausgaben widmete (so im Februar 2000, im August und im September 2003 sowie im April 2005), nimmt dies zum Anlass, eine kleine Auswahl aktueller Interpretationsansätze zu dem wichtigen literaturwissenschaftlichen Thema zu versammeln.

Es wird kontrovers: Um neuere Erkenntnisse über problematische Texte aus dem 19., 20. und 21. Jahrhundert zu vermitteln, die in den letzten Jahrzehnten von Germanisten zum Teil vehement gegen den Vorwurf des Antisemitismus verteidigt wurden, bietet unsere Ausgabe Essays und Rezensionen, die solchen Einschätzungen widersprechen. Zudem umfasst die Juni-Ausgabe aber auch etliche Besprechungen zum Thema Judentum und der jüdischen Kultur allgemein und soll im Laufe des Monats noch um weitere Beiträge ergänzt werden.

Die Redaktion freut sich darüber, die Juni-Ausgabe in einem komplett neuen Zeitschriften-Layout präsentieren zu können. Das Design hat Susan Gildersleeve entwickelt. Ihr und allen, die an der technischen Umsetzung beteiligt waren, sei für die engagierte Arbeit gedankt. Wir hoffen, dass dieser dringend fällige Relaunch nicht nur der Aufklärung über literarische Tradierungsformen antisemitischer Stereotype zusätzliche Aufmerksamkeit verschafft. Vielmehr illuminiert das neue Outfit von literaturkritik.de auch den Einstand unserer neuen Schwester-Redaktion in Mainz: Dieter Lamping und seine KollegInnen von der Johannes Gutenberg Universität werden ab sofort in regelmäßigen Abständen eine ausführliche Komparatistik-Rubrik anbieten, die das interkulturelle, internationale und auch intermediale Profil von literaturkritik.de schärft. Das Mainzer Team eröffnet damit der Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft ein neues Forum im Internet: Es möchte zum Beispiel noch nicht ins Deutsche übersetzte Neuerscheinungen vorstellen, aber auch dem Film und der Musik verstärkte Beachtung schenken. Wir erheben uns von den Plätzen: Die Marburger Zentrale begrüßt die Mainzer Co-Redaktion, bedankt sich für die engagierte Mitarbeit und ist gespannt darauf, künftig aus berufener Quelle zu erfahren, was die Welt so liest, anschaut und hört!

Herzlich
Ihr
Jan Süselbeck