Krankheit als Metapher

Über Ugo Riccarellis Roman „Die Residenz des Doktor Rattazzi“

Von Olaf MüllerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Olaf Müller

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ugo Riccarellis kurzer Roman Die Residenz des Doktor Rattazzi, im italienischen Original als Comallamore (in etwa: Wie bei der Liebe) 2009 erschienen, erzählt die zur Zeit des Faschismus spielende Geschichte des jungen Beniamino, dessen Elternhaus neben einer Nervenheilanstalt in einer norditalienischen Stadt liegt. Der Junge ist fasziniert von den Geisteskranken, die er durch eine Lücke in der Mauer immer wieder bei ihren Ausgängen im Hof der Anstalt beobachtet. Gerade als Beniamino nach einem schweren Sportunfall, bei dem ihm „der Castellucci“ das Bein irreparabel zerstört hat, sein Medizinstudium unterbrechen muss, stirbt unerwartet sein Vater, so dass der Sohn sich plötzlich gezwungen sieht, die restliche Familie zu ernähren.

Deshalb bewirbt er sich als Krankenpfleger in der benachbarten Psychiatrie. Der Anstaltsleiter, dessen Rolle im Hospital mit der Mussolinis im Staat verglichen wird, ist ein Anhänger konventioneller Behandlungsmethoden, von denen sich der sanftmütige Beniamino abgeschreckt zeigt. Als eines Tages Doktor Rattazzi in der Klinik auftaucht, findet Beniamino in ihm einen Ersatzvater, dem er sich auch aufgrund der patientenfreundlicheren Methoden verbunden fühlt, mit denen Rattazzi sich der Kranken annimmt. In der alten, von Mauern umgebenen Klinik mitten in der Stadt haben Rattazzi und Beniamino aber keine Gelegenheit, ihre alternativen, die reformpsychiatrischen Ideen Franco Basaglias vorwegnehmenden Therapievorstellungen umzusetzen. Der Ausbruch des Zweiten Weltkriegs und die damit einsetzenden Bombardierungen erweisen sich in dieser Lage kurzzeitig als Glücksfall für Rattazzi, Beniamino und die Gruppe von Geisteskranken, die die beiden zu betreuen haben, weil sie alle zusammen zur Sicherheit auf einen idyllisch gelegenen Bauernhof in den Bergen ziehen müssen, der dann die titelgebende Residenz des Doktor Rattazzi wird. Zwar ist die Idylle ständig bedroht, weil die Gegend um den Hof – wir befinden uns mittlerweile im Jahr 1943 – zum Schauplatz der Kämpfe zwischen antifaschistischen Partisanen auf der einen und deutschen und faschistischen italienischen Soldaten auf der anderen Seite geworden ist, doch für eine gewisse Zeit herrschen geradezu paradiesische Zustände in der improvisierten Residenz. Doch es kommt, wie es kommen muss. Die Unerbittlichkeit des Krieges, auf die der Originaltitel Comallamore mit seiner Variation der zynischen Maxime „À la guerre comme à la guerre“ anspielt, fordert auch unter den Patienten Opfer, als ein filmreifer, die Reitpeitsche schwingender deutscher Offizier mit seinen Soldaten auf dem Hof auftaucht und nach versteckten Partisanen sucht.

Die Geschichte wird als Rückblick des alten Beniamino erzählt, der von einer Journalistin nach seinen Erinnerungen an die Zeit der Klinik in den Bergen und der Partisanenkämpfe befragt wird. Da der alte Mann der Journalistin aber nur einen einzigen Satz diktiert, dass nämlich die Befreiung der reine Wahnsinn gewesen sei, müssen wir uns den restlichen Bericht als die Erinnerung vorstellen, die dem Leser, aber nicht der Journalistin mitgeteilt wird. Bei der Erzählinstanz aber beginnen die Schwierigkeiten dieses gut gemeinten, aber leider nicht besonders gut geschriebenen Romans.

Die auf dem Buchumschlag formulierte Frage, ob Menschen, die man für wahnsinnig erklärt, wahnsinniger seien als Menschen, die Kriege erklären, lässt bereits die Erzählabsicht erahnen, die auch die doppeldeutige Formulierung vom „reinen Wahnsinn“ ausdrückt, dem die Befreiung vom Faschismus zu verdanken gewesen sei. Und tatsächlich sind die Patienten alle bloß etwas schrullige, kindliche Gestalten, denen das Leben hart mitgespielt hat und denen nie jemand so verständnisvoll zugehört hat wie Beniamino und Rattazzi. Wenn man ihnen aber einmal einfach ruhig zuhört, entpuppen sie sich alle als poetisch veranlagte Wesen, die ständig tiefsinnige Äußerungen über die grundlegenden Fragen der menschlichen Existenz von sich geben, wenn sie nicht sogar mit einem Rosenzweig und ihrem eigenen Blut als Tinte ihre traurige Geschichte an die weißen Klinikwände schreiben, wo sie von den gefühllosen Aufsehern wieder abgewischt wird: „Unendlich viele Zeilen hatte Ubaldo schon geschrieben, und jedesmal hatten Aufseher und Schwestern seine Sätze mit Seife, Lappen und Schwämmen weggekratzt, ausgelöscht und zerstört wie Penelopes Tuch, um die Ordnung der Anstalt wiederherzustellen, so dass er gezwungen war, von neuem mit dem Schreiben zu beginnen.“

Abgesehen davon, dass der Vergleich mit Penelopes Tuch an dieser Stelle nicht passt, weil es ja Penelope selbst ist, die in einem autonomen Akt der List nachts ihr Tuch auftrennt, ist diese Stelle bezeichnend für das Desinteresse des Erzählers – und vermutlich auch Riccarellis selbst – an seinen Figuren. Diese dienen immer nur dazu, möglichst schnell zu einem mehr oder weniger bemühten Vergleich oder einer pathetischen Metapher zu gelangen, wie überhaupt der Wahnsinn durchgängig als Metapher verstanden wird. Krankheit als Metapher ist aber nicht nur, wie Susan Sontag argumentiert hat, ideologisch problematisch, sondern in der hier anzutreffenden Ausschließlichkeit auch literarisch unbefriedigend. Der durchgängig hohe Ton, der sich zu genauen Beschreibungen gar nicht erst herablässt, sondern ständig auf der Ebene bemüht poetischer und – besonders gerne – synästhetischer Vergleiche sich bewegt, führt immer wieder zu unfreiwilliger Komik, so wenn von den „Ausdünstungen der Träume und Essensreste“ die Rede ist, oder wenn „Worte und Gesten ihren Geruch aus Leid und Verwirrung [verströmen]“.

Wirklich ärgerlich wird diese immer wieder sehr kitschnahe Erzählerstimme, wenn am Ende der sadistische deutsche Offizier einen der harmlosen Irren erschießt, der sich dadurch ausgezeichnet hatte, dass er ständig Homer zitierte. Aus dem zerschmetterten Schädel des Erschossenen sieht Beniamino buchstäblich und allen Ernstes die Homerverse hervorströmen, die dann, nachdem die deutschen Soldaten wieder abgezogen sind, den anderen Patienten das Herz wärmen („Getröstet vielleicht von der Musik der homerischen Verse, die noch immer in der Luft schwebten […]“).

Dass der des Italienischen offensichtlich in Vollkommenheit mächtige Nazioffizier ausgerechnet von „dem Castellucci“ begleitet wird, der einst Beniaminos Bein zertrümmert hatte und nun natürlich ein finsterer Faschist geworden ist, gehört zu den Konstruiertheiten, an denen der Text nicht gerade arm ist. Dies ist sicher eine der mißratensten Stellen des Romans, aber auch ansonsten deutet die Menge der willkürlich zusammengefügten Bilder, die man bisweilen fast schon als Selbstparodien empfindet („Die Augenblicke der Liebe zum Beispiel waren Jahrhunderte aus tiefem Atem, weite Wasserflächen, auf denen man sich ohne Eile, ohne Mühen forttragen lassen konnte“), darauf hin, dass die Geschichte insgesamt nicht um ihrer selbst willen erzählt wird, sondern für etwas anderes steht. Dieses andere ist sicher gut gemeint, aber gute Absichten machen bekanntlich nicht unbedingt gute Literatur.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Ugo Riccarelli: Die Residenz des Doktor Rattazzi. Roman.
Übersetzt aus dem Italienischen von Annette Kopetzki.
Paul Zsolnay Verlag, Wien 2013.
192 Seiten, 18,90 EUR.
ISBN-13: 9783552055995

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