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Frankreich

Von Caroline MannweilerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Caroline Mannweiler

Was Frankreich gerade liest, kann natürlich niemand mit Gewissheit sagen. Gewiss ist aber, dass Michel Houellebecq ein neues Werk publiziert hat und dass damit klar ist, worüber die Feuilletons schreiben. Da den Feuilletons der „Hype“ um Frankreichs berüchtigten Misanthropen selbst schon auffällt, greifen viele Journalisten zur Meta-Kritik der Literaturkritik, was auch nicht weiterhilft. Fest steht nur, dass das Werk Houellebecqs aktuell keine Chance hat, gewürdigt zu werden, weil sein Autor schlicht zu bekannt ist.

Wenden wir uns daher einem anderen Werk zu, das bereits Ende 2012 erschien, aber das Potential hat, noch lange von Leser zu Leser zu wandern. Es stammt von Jean Echenoz, der für das literarische Frankreich durchaus sehr bedeutsam, von einem lähmenden Kultstatus, wie ihn Houellebecq innehat, aber weit entfernt ist. (Womit er und seine Leser sehr gut leben können.)

Echenoz heißt also der Autor besagten Werkes, „14“ lautet dessen Titel. Dass mit dieser Zahl der Erste Weltkrieg gemeint ist, versteht in Frankreich jeder, da man diesen ersten großen Krieg auch gerne als „guerre de 14“ bezeichnet beziehungsweise davon spricht, was „en 14“ passiert ist, womit eben nicht nur das Jahr, sondern immer auch der Krieg gemeint ist. Warum nur schon wieder ein Buch über den Krieg? – mögen einige sich fragen. Warum eigentlich nicht? – möchte man auf solche Fragen antworten. Als müssten Autoren begründen, warum sie sich welche Themen aussuchen.

Dessen ungeachtet kann man aber natürlich feststellen, dass Krieg in den letzten Jahren ein „beliebtes“ Thema in der französischen Literatur war, wofür Alexis Jennis „L’art français de la guerre“ („Die französische Kunst des Krieges“) nur das bekannteste, weil mit dem Prix Goncourt ausgezeichnete Beispiel ist. Vermutlich hat diese Beschäftigung mit dem Krieg etwas damit zu tun, dass selbiger zunehmend vom kommunikativen ins kulturelle Gedächtnis übergeht. Ein Transfer, bei dem so einiges passieren kann, wie man jüngst in Deutschland beobachten durfte, wo das ZDF mit dem Dreiteiler „Unsere Mütter, unsere Väter“ einen dermaßen gut gemachten, bildmächtigen und identifikationsstiftenden Streifen in die Wohnzimmer (oder wo immer Fernseher heutzutage eben so stehen) brachte, dass ab sofort Generationen von Jugendlichen bei Wehrmachtssoldaten unweigerlich an die Hauptdarsteller Tom Schilling und Volker Bruch denken werden, die, egal was sie in dem Streifen so anstellen, einfach zu jung, zu schön und zu sympathisch wirken, als dass man sie nicht in liebevoller Erinnerung behalten könnte.

Wie anders wirkt da Echenoz „14“. Gewiss erzählt auch Echenoz den Krieg vor allem aus der Perspektive eines jungen Soldaten und gewiss sucht auch er, ganz ähnlich wie die Macher von „Unsere Mütter, unsere Väter“, die „Realität des Krieges“ nicht zuletzt dadurch zu evozieren, dass er statt historisch-politischer Umstände die körperlichen und seelischen Befindlichkeiten der Hauptfiguren beschreibt. Hunger, Kälte, Langeweile, Todesangst, Verzweiflung, Abstumpfung, Fatalismus, alles bezwingender Überlebensinstinkt – all dies findet sich in beiden Werken, doch der Teufel steckt bekanntlich im Detail.

Beispiel Überlebensinstinkt: Sowohl in „Unsere Mütter, unsere Väter“ als auch in „14“ kommt es zu einer Szene von gänzlich unromantischem Geschlechtsverkehr. Die Konnotation beider Szenen ist ähnlich: Es ist eine Art stiller Aufschrei der Kreatur, die inmitten der Verzweiflung das Leben herausfordert, auch wenn dieses Leben nur mehr als Trieb zu existieren scheint. Der Unterschied zwischen „Unsere Mütter, unsere Väter“ und „14“ ist aber bezeichnend: Wo in „Unsere Mütter, unsere Väter“ der Geschlechtsakt inmitten der Kriegswirren stattfindet und psychologisch wohl motiviert erscheint – eine Lazarettschwester glaubt nach einer Fehlinformation ihren Angebeteten tot und wirft sich in ihrer Verzweiflung auf den Lazarettarzt –, findet in „14“ der Akt am Ende des Krieges an der Heimatfront statt, wo der invalide Protagonist Anthime sich der eigentlich seinem gefallenen Bruder Charles versprochenen Blanche annähert. Verzweifelt ist auch er in gewissem Sinne, als er zu ihr ins Bett kriecht, aber es ist eher eine stille Panik, die nicht direkt mit den Kriegswirren zusammenhängt, sondern eine ziemlich allgemeine Verlorenheit Anthimes ausdrückt, die im Kosmos von „14“ durchaus nicht unüblich ist. Wobei Anthime immer „funktioniert“, was sich unter anderem ganz handfest darin äußert, dass aus seiner Nacht mit Blanche ein Kind hervorgeht, dem die beiden den Namen Charles geben. In einem anderen Roman könnte man dieses Faktum natürlich als eine schöne Wendung darstellen, nach dem Motto: Das Leben geht weiter und die Toten sind nicht vergessen. Doch bei Echenoz gehen solche Überlegungen ins Leere. Das Leben geht zwar weiter und dafür kann man es in gewisser Weise bewundern, aber Euphorie wäre übertrieben. Zwar kommt ein neuer Charles zur Welt, aber wenn dieser auch nur ein wenig nach seinem Namensvetter gerät, wird er ein arrogantes Ekel, das Menschen, darunter Anthime, gänzlich respektlos behandelt.

Auch hier ergibt sich ein interessanter Vergleich mit „Unsere Mütter, unsere Väter“, denn auch in diesem Film wird der Krieg von einem Brüderpaar erlebt. Doch während diese eben Brüder sind, ungleich, sich nicht verstehend, der eine Militär, der andere Schöngeist, aber eben doch Brüder (und in dieser Bindung auch wirklich rührend), sind Anthime und Charles zwar Brüder, aber von einer gegenseitigen Fremdheit, die kaum zu überbieten ist. Wenn Anthime und Blanche also ein Kind namens Charles zeugen, dann geht damit nichts anderes weiter als die ernüchternde Widerkehr eines ziellosen, häufig tristen Treibens, das nicht erst durch den Krieg sinnlos wird, sondern es vom Beginn des Romans an ist. Darin liegt die so verstörende Botschaft von „14“: Wie kann es sein, dass die Zeit vor und nach dem Krieg nicht so schön ist, wie sie sein müsste, wo sie doch kein Krieg und der Krieg zweifelsfrei furchtbar ist? Diese Frage nimmt dem Krieg nichts von seinem Schrecken. Aber sie verhindert eine Sichtweise, in der „der Krieg“ an allem „Schuld“ ist, was nicht ganz falsch sein mag, aber eben auch nicht ganz richtig.

Womit wir wieder bei „Unsere Mütter, unsere Väter“ wären: Wer kann es den Machern verdenken, dass sie diese schönen Eingangsszenen drehen, in denen sich die fünf jungen Protagonisten ein letztes Mal treffen, um unbeschwert Swing zu tanzen, bei selbstgebackenem Kuchen und etwas Alkohol, um die Stimmung zu heben, was eigentlich gar nicht nötig ist, denn diese Menschen sind so jung und unschuldig, dass ihnen zuzuschauen schon ein Fest ist. Und wenn sich zu diesen Szenen noch die liebevollen Kurzcharakterisierungen gesellen, die Wilhelm, Protagonist und Erzähler in Personalunion, über seine Freunde und seinen kleinen Bruder abgibt, dann kann man gar nicht anders, als alle Anwesenden ins Herz zu schließen. Wer sich mit diesen Figuren nicht identifiziert, dem ist nicht zu helfen.

Und da der Zuschauer sich bis zuletzt nicht vor Identifikation retten kann, muss er am Ende des Films, wenn die überlebenden Protagonisten an den Ort ihrer Feier zurückkehren, aber alles zerstört ist, die Bar, Berlin und sie selbst irgendwie auch, zu dem Schluss kommen: Krieg ist – man verzeihe den hier ausnahmsweise angebrachten Kraftausdruck – scheiße. Nun ist diese (zugegeben nicht bahnbrechend neue) Erkenntnis eine durchaus wertvolle. Im Falle des ZDF-Dreiteilers eine recht teuer hervorgebrachte, aber da sollte man nicht kleinlich sein, sagen wir also, es hat sich gelohnt.

Und doch darf man fragen, ob es nicht noch lohnenswerter gewesen wäre, zusammen mit der Einsicht in die Schrecken des Krieges auch die Einsicht zu vermitteln, dass Frieden keineswegs immer festähnliche Züge trägt. Ansätze dazu bietet der Film: Die Judenverfolgung wird anhand der Familie des jüdischen Protagonisten angedeutet, der Vater der beiden Hauptfiguren, den Brüdern Wilhelm und Friedhelm, steht für ein militaristisches Deutschland, in dem Schöngeister wie Friedhelm nur mit Mühe geduldet werden. Aber diese Ansätze zu einem komplexeren Bild des Friedens gehen gewissermaßen an der Ostfront unter: In der Schilderung dieser Kriegsrealität steckt das Kernstück des Filmes, hier werden keine Mühen und Details gescheut – mit dem paradoxen Ergebnis, dass die ideologischen, politischen, soziohistorischen Ursachen dieser Kriegsrealität in den Hintergrund rücken.

Nun steckt darin fraglos viel vom aktuellen Forschungsstand. Der Historiker Sönke Neitzel, der den Film als Experte mit betreute, hat jüngst in seinem mit Harald Welzer veröffentlichten Buch „Soldaten“ nachgezeichnet, wie die Eigengesetzlichkeit des Krieges Menschen zu Mördern macht und dies relativ unabhängig von ihrer ideologischen Grundausrichtung. Zwar gibt es von Front zu Front große Unterschiede, aber vieles, was im Krieg passiert, ist schlicht der Tatsache geschuldet, dass eben Krieg herrscht. Nun lassen sich mit solchen Forschungen natürlich sehr legitime Anliegen verbinden, nämlich etwa die Konterkarierung von Vorstellungen, nach denen ein „humaner Krieg“ möglich sei. Und trotzdem besteht in der künstlerischen Umsetzung einer solchen Konzentration auf die Kriegsrealität die Gefahr, dass der Krieg allzu sehr zu seiner eigenen Erklärung wird – und somit der Frieden von allem entlastet zu sein scheint. Dass dies nicht nur unzutreffend, sondern auch denen gegenüber höchst unsensibel ist, die ganz unabhängig vom Krieg litten und leiden, liegt auf der Hand.

Für die Kunst ergibt sich daraus eine einfache Konsequenz, die Jean Echenoz „14“ souverän vorführt: Über den Krieg zu schreiben, heißt nicht, den Krieg vom Frieden zu trennen, sondern dem Übel stets auf der Spur zu bleiben, wie übel es auch immer werden mag. Dass dies mit kritisch-moralisierendem Pathos rein gar nichts zu tun hat, auch dafür ist „14“ das beste Beispiel. Ohne Ironie, so subtil sie sich auch äußern mag, lässt sich ein für das Schlechte empfänglicher Blick auf die Welt gar nicht ertragen. Was uns in gewissem Sinne auch wieder zu Houellebecq führt. Doch darüber wollten wir ja schweigen.

Literaturhinweise:

Jean Echenoz: 14. Roman.
Les Éditions de Minuit, Paris 2012.
124 Seiten, 12,50 EUR.
ISBN-13: 9782707322579

Alexis Jenni: Die französische Kunst des Krieges. Roman.
Übersetzt aus dem Französischen von Uli Wittmann
Luchterhand Literaturverlag, München 2012.
765 Seiten, 24,99 EUR.
ISBN 9783630874029

Harald Welzer, Sönke Neitzel: Soldaten. Protokolle vom Kämpfen, Töten und Sterben.
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2011.
288 Seiten, 22,95 EUR.
ISBN 9783100894342

Unsere Mütter, unsere Väter. Regie: Philipp Kadelbach. Drehbuch: Stefan Kolditz. Kamera: David Slama. Musik: Fabian Römer. Drei Teile à 90 Min., gesendet am 17, 18. Und 20. März 2013 im ZDF, 20:15 Uhr. Erhältlich auf 2 DVDs, Laufzeit: ca. 270 Min.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz