Kabinettstück ersten Ranges

Das Urteil über die „Protokolle der Weisen von Zion“ im Berner Prozess 1933

Von Albrecht Götz von OlenhusenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Albrecht Götz von Olenhusen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die berüchtigten „Protokolle der Weisen von Zion“, eine der wichtigsten und verbreitetsten antisemitischen Schriften der jüngeren Zeitgeschichte, waren mit ihrer „Verschwörungstheorie“ eine wesentliche Basis für die frühe nationalsozialistische Ideologie und Propaganda vor allem bereits in den 1920er-Jahren. Bald darauf wurden sie vom Parteiverlag der NSDAP und von dem völkischen Antisemiten Theodor Frisch publiziert. Historisch sind Genese und Bedeutung der „Protokolle“ mehrfach fundiert analysiert worden.[1] Die 13. Auflage der von Theodor Fritsch kommentierten Ausgabe (1933, 66.-75.Tausend) stand im Zentrum des Verfahrens. Es begann 1933 vor dem Strafgericht Bern. Fünf Angeklagte hatten sich nach Anzeigen des Israelitischen Gemeindebundes und der Israelitischen Kultusgemeinde Bern zu verantworten. Grundlage bildete Artikel 14 des Gesetzes über das Lichtspielwesen und Maßnahmen gegen die Schundliteratur von 10.09.1916 (LSchG). Das bis zum Berner Obergericht bis 1937 laufende Verfahren wurde auch international sehr beachtet.

Die Berner Rechtshistorikerin Sybille Hofer hat die Hintergründe und Abläufe des Verfahrens aus rechtsgeschichtlicher Perspektive umfassend analysiert und detailliert dokumentiert[2]. Ziel der Anzeigeerstatter war es, der antisemitischen Propaganda in der Schweiz Einhalt zu gebieten. Die Problematik lag von Anfang an darin, dass das Schweizerische Strafrecht die Kollektivbeleidigung nicht sanktionierte. Als Basis musste daher das LSchG dienen. In erster Instanz wurden die Angeklagten nach einer 23 Tage dauernden Verhandlung zu Geldbußen verurteilt. In der Berufung wurden sie jedoch vom Obergericht Bern freigesprochen. Das zweite Urteil wurde von Zeitgenossen und Kommentatoren weithin als Fehlurteil bezeichnet.

Die die Feinheiten der gerichtlichen Argumentationstechnik herausarbeitende Analyse Hofers zeigt die richterlichen Fragestellungen auf: Waren die Protokolle eine Fälschung, ein Plagiat, wer waren ihre Urheber, waren sie überhaupt Protokolle des Zionistenkongresses von 1896? Die rechtliche Fragestellung war: Fielen sie unter den Begriff Schundliteratur? Das Strafgericht Bern griff auf Zeugen und Sachverständige zurück. Hofer untersucht das Vorverständnis, die Ziele und Methoden des Gerichts 1. Instanz. Das lief, wie die sorgfältig ausgeleuchteten zeitgenössischen Hintergründe zeigen, darauf hinaus, mit dem Urteil jeder Judenverfolgung und antisemitischen[3] Propaganda die literarische Legitimationsgrundlage zu entziehen. Das Sachverständigengutachten des renommierten Basler Gelehrten Prof. Arthur Baumgarten stützte die Anklage.

Die Angeklagten bedienten sich des als „Berufsantisemiten“ bekannten Gutachters Ulrich Fleischhauer. Von besonderem Interesse ist auch das weitere Gutachten von Carl Albert Loosli, das (vom Gericht zitiert) mehrere hundert Seiten umfasst haben muss. Die Beweisaufnahme kam denn auch überzeugend zu dem Ergebnis, dass der Vorwurf der Fälschung und des Plagiats begründet war.

Der nicht bekannt gewordene Autor der „Protokolle“ bediente sich einer Reihe von inzwischen ermittelten Vorlagen aus dem 19. Jahrhundert. Mit welcher politischer Raffinesse hier über Jahrzehnte hinweg von einer schon früh nachgewiesenen plagiatorischen Fälschung Gebrauch gemacht worden ist, wurde im Prozess nur allzu deutlich. Für den Strafrichter stand zudem fest, dass es sich bei dem verbreiteten Werk um Schundliteratur im Sinne der Norm handelte. Seine Beweisführung ist zeitgeschichtlich und juristisch bemerkenswert. Denn noch nie waren die Protokolle Gegenstand einer historisch-genetischen Analyse im Rahmen eines Gerichtsverfahrens gewesen. Das spektakuläre und politisch international weitestgehend begrüßte Urteil kann man als ein Kabinettstück ersten Ranges bezeichnen. Es sei jedoch, so die Richter zweiter Instanz in einer Rüge, nicht prozessordnungsgemäß gewesen, die Parteien zur Benennung von Sachverständigen zu veranlassen, statt selbst von vornherein einen Gutachter zu bestellen. Aber die Verfahrensweise des ersten Gerichts war vielleicht nach Schweizer Prozessrecht nicht ganz lege artis, aber sie war fair und sehr geschickt, denn auf diese Weise konnten die schwerwiegenden Mängel der „Beweisführung“ der Angeklagten und des Gutachters Ulrich Fleischhauer am besten demonstriert und im Urteil „auseinandergenommen“ werden.

Das Urteil des Obergerichts Bern von 1937 ist von untergründigen politischen Erwägungen geprägt. Indem das OG sich freilich zunächst darauf beschränkte, den Begriff „Schundliteratur“ durch historische und systematische Auslegung und Rechtsvergleichung näher zu bestimmen, konnte es sich der politisch heiklen Aufgabe weitgehend entziehen. Denn die Schweiz wollte ersichtlich auch gewisse Rücksichten auf die politische Lage gegenüber NS-Deutschland nehmen. Der normative Befund ließ die Möglichkeit offen, die Schrift zwar inhaltlich abzulehnen, aber nicht unter den Begriff der „unsittlichen Schriften“ zu subsumieren. Mittels einer relativ engen Definition von Art 14 LSchG, (Reduktion auf die Beeinträchtigung der sexuellen Sittlichkeit) vermochten die Richter des OG die Frage der Fälschung und des Plagiats dahinstehen zu lassen und die Schrift nicht als Schundliteratur anzusehen. Das Urteil ist implizit auch politisch. Es zeigt nicht nur auf, wie sich angesichts eines politisch prekären Gegenstandes die Schweizer Justiz verfahrensrechtlich und argumentativ verhielt, sondern ermöglicht durch die Einsicht in die vollständigen kommentierten Urteilsgründe eine ausgezeichnete Einschätzung der Judikatur in einem Prozess über literarische Fälschung und Plagiat, dessen historische und politische Bedeutung in Bezug auf die antisemitische Propaganda nicht hoch genug einzuschätzen ist, unabhängig davon, wie man das jeweilige Ergebnis der Judikate auch wertet. Der Begriff der „Schundliteratur“ spielte seit 1942 in der Schweiz wegen einer Gesetzesänderung keine Rolle mehr. Seit 1938 konnte aber antisemitische Propaganda durch die Demokratieschutzverordnung geahndet werden.

[1] Wolfgang Benz: Die Protokolle der Weisen von Zion. Die Legende von der jüdischen Weltverschwörung. München 2007; Norman Cohn: „Die Protokolle der Weisen von Zion“. Der Mythos der jüdischen Weltverschwörung. Baden-Baden, Zürich 1998; Jeffrey L. Sammons: Die Protokolle der Weisen von Zion. Die Grundlage des modernen Antisemitismus – eine Fälschung. Text und Kommentar. Göttingen 1998. Siehe ferner die Arbeiten von Michael Hagemeister, Urs Lüthi und Jacques Picard, zitiert bei Hofer.

[2] Sybille Hofer: Richter zwischen den Fronten.  Die Urteile des Berner Prozesses um die „Protokolle der Weisen vom Zion“ 1933-1937. Basel: Helbing & Lichtenhahn 2011. 216 S. Dort auch Hinweise auf die Biografie von Fleischhauer und Baumgarten nach 1945.

[3] Siehe dazu Carl Albert Loosli: Judenhetze. Werke Bd. 6, herausgegeben. v. F. Lerch und E. Marti, Zürich 2008, sowie die Akten des Staatsarchivs Bern.

Titelbild

Sybille Hofer: Richter zwischen den Fronten. Die Urteile des Berner Prozesses um die "Protokolle der Weisen von Zion" 1933 - 1937.
Helbing & Lichtenhahn, Basel 2011.
216 Seiten, 37,00 EUR.
ISBN-13: 9783719031442

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