Was bleibt

Katja Kraus über die Vergänglichkeit von Macht mit „Geschichten von Erfolg und Scheitern“

Von Alexandra HildebrandtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Alexandra Hildebrandt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Katja Kraus ist eine begnadete Autorin. Talent, Handwerk und das Gespür für die richtigen Themen zur richtigen Zeit reichen nicht, um die Kraft und den Zauber ihres Erstlingswerks zu erklären – es kommt noch eine besondere Gabe hinzu, von der Menschen manchmal selbst nicht wissen, dass sie sie haben. Sie hat sich dieser wertvollen inneren Ressource anvertraut, sich intelligent durch die beschleunigte Strömung treiben lassen, ohne getrieben zu sein, weder durch andere noch durch sich selbst.

Die positive Medienresonanz auf dieses Buch zeigt, wie sehr eine Gesellschaft, in der es immer weniger Verbindlichkeiten gibt und Laufbahnen ihre Sicherheit verlieren, ein solches Buch braucht.

Katja Kraus (Jahrgang 1970) hat das Buch nur schreiben können, weil es ihre eigene Geschichte gibt: Von 2003 bis zum März 2011 gehörte sie dem Vorstand des Hamburger SV an und war dort für die Bereiche Kommunikation und Marketing zuständig. Damit besetzte sie als erste Frau eine Vorstandsposition bei einem Bundesligisten. Von 1990 bis 1996 studierte sie Germanistik und Politik in Frankfurt. Als Torhüterin des FSV Frankfurt nahm sie an 220 Bundesliga-Spielen teil. Dreimal wurde sie in dieser Zeit Deutsche Meisterin, viermal deutsche Pokalsiegerin. In ihrer Zeit in der Nationalmannschaft der Frauen von 1995 bis 1997 wurde sie Vize-Weltmeisterin und Europameisterin. Von 1997 an arbeitete sie zunächst im PR-Ressort von adidas. Vor dem Wechsel zum Hamburger SV war sie Pressesprecherin von Eintracht Frankfurt.

Als ihr Vertrag beim HSV nicht verlängert wurde, stand sie vor einer neuen Lebenssituation, aus der heraus sich auch die Qualität des Buches erklärt: aus der Stille und aus der Zeit der Verdichtung und des Innehaltens, die ihr erlaubte, sich ganz und gar auf andere Menschen einzulassen.

Katja Kraus traf sich mit 17 Gesprächspartnern aus Politik, Wirtschaft, Sport und Kultur, die ebenfalls Aufstieg und Fall erlebt haben: Wolfgang Berghofer, Björn Engholm, Tanja Gönner, Sven Hannawald, Thomas Hitzelsperger, Maria Jepsen, Heather Jurgensen, Peter Kabel, Hans Werner  Kilz, Roland Koch, Hera Lind, Hartmut Mehdorn, Udo Röbel, Gesine Schwan, Ron Sommer, Ole von Beust und Andrea Ypsilanti. Die persönlichen Gesprächen und Erzählungen werden nicht in Einzelkapiteln und -biographien beschrieben, sondern überlagern sich in den Kapiteln „Die Erkenntnis“, „Der Antrieb“, „An der Spitze“, „Machtausübung“, „Die Auflösung“, „Der Tag X“ und „Das Leben danach“.

Die Beispiele zeigen: Um etwas zu bewegen und zu erreichen, braucht es Macht. Es gehört zu den Verdiensten des Buches, auch dies zu zeigen und damit ein gesellschaftliches Tabu zu brechen, denn Macht wird häufig nur mit Sanktionsmacht (Amts- und Machtmissbrauch) assoziiert. Dabei bezeichnet Macht die Fähigkeit von Individuen und Gruppen, auf das Verhalten und Denken sozialer Gruppen oder Personen einzuwirken. Das zeigt schon die Herkunft des Wortes: Im Althochdeutschen, Altslawischen und Gotischen bedeutete das Wort Macht so viel wie Können, Fähigkeit, Vermögen. Vergleichbar stammt das lateinische Substantiv für „Macht“ (potentia) von dem Verb posse ab, das mit „können“ übersetzt wird.

Auch wenn das Buch einen völlig anderen Ansatz verfolgt als das zeitgleich erschienene Werk des Psychologen Ian Robertson („Macht. Wie Erfolge uns verändern“, DTV, München 2013), so sollte es in diesem Zusammenhang wenigstens genannt werden. Beide Bücher stehen in den Buchhandlungen häufig nebeneinander: Das eine wirbt mit roter Signalfarbe und einem üblichen Verkaufstitel; das andere von Katja Kraus deutet Geschichten von Erfolg und Scheitern durch eine unauffällige Symbolik an. Es wirkt durch seine leise Stärke und Unaufdringlichkeit. Dennoch enthält das Buch von Robertson einige interessante Thesen, die wissenschaftlich fundiert sind und Themen von Katja Kraus in einen neuen Kontext stellen, z.B. dass Macht die Gehirnfunktionen verändert, indem sie die Aufmerksamkeit einengt, ein illusorisches Kontrollbewusstsein schafft und die Zielgerichtetheit verstärkt, dass Macht unsere Fähigkeit aus dem Gleichgewicht bringen kann, Risiken zu erkennen, dass „Mächtige“ nur begrenzt zur Selbstreflektion fähig sind. „Dass die Macht uns scharfsinniger, konzentrierter und weniger einfühlsam macht, hat einen Grund: Wenn es nicht so wäre, dann könnte kein Chef […] sein Amt richtig ausüben, denn er wäre dem enormen Stress nicht gewachsen.“

Auch Katja Kraus fragt nach den psychischen Wesensmerkmalen der von ihr porträtierten Personen und nach ihrem Antrieb. Zwar wurden einige der Gesprächspartner in Machtpositionen gedrängt wie Ole von Beust („Soll es doch der Ole machen.“), aber auch mangelnde Anerkennung in der Kindheit war für einige die Startmotivation, ganz „nach oben“ zu wollen. So litt die Autorin Hera Lind lange Zeit daran, nie von ihrer Mutter gelobt worden zu sein. Hartmut Mehdorn, der „kleine Mann für die ganz großen Aufgaben“,  berichtet von seiner Freude am Kämpfen. Kritik war für den Pragmatiker, der viele kleine Schritte einem großen vorzieht, immer Ansporn.

Der Erfolg hat den im Buch Porträtierten nie das Gefühl gegeben, dass ihre eigene Person wichtiger ist als ihre Arbeit, auch haben sie sich niemals „mächtig“ gefühlt. Von den Medien wurde Katja Kraus selbst als „mächtigste Frau der Bundesliga“ tituliert; der „Focus“ bezeichnete die Degeto-Chefin Christiane Strobl, Tochter von Wolfgang Schäuble, kürzlich als „mächtigste Filmmanagerin des Landes“, was sie mit den Worten kommentierte: „Macht ist eine Kategorie, die ich nicht angemessen finde. Ich habe die Möglichkeit, viele Filme mitzugestalten und das fühlt sich gut an.“ Das Messen der eigenen Exponiertheit am Entscheidungs- und Gestaltungsspielraum verbindet auch Katja Kraus mit ihrem eigenen Verständnis von Macht.

In ihrem Buch verzichtet sie auf jegliche Wertungen und zieht stattdessen die Beschreibung des Gegenübers und seiner Geschichte vor. Sie zeigt, dass „Mächtige“ nicht durch sich selbst groß sind, sondern durch die, die sie als „groß“ erklären. In ihrer Wirkungszeit werden sie von den Medien oft frei von Makeln dargestellt und überhöht – bis zum Zeitpunkt des Abstiegs, der umso spannender wird, wenn die Fallhöhe besonders hoch war. Dann werden sie vom Sockel gestürzt und zerfallen wie Statuen in ihre Einzelteile, die weiter durch den Staub gezogen werden. Denn das Interesse einer beschleunigten Medienwelt an Mächtigen ist besonders ausgeprägt, wenn sie „zerlegt“ worden sind.

Natürlich wählt, wer auf ein Spielfeld geht, auch die Spielregeln, nach denen das Spiel gespielt wird, mit allen Folgen, die dazugehören. Als Sportlerin hat Katja Kraus schon früh gelernt, mit Niederlagen umzugehen. Sie gehören zum Leben und machen es vollständig. Was sie in ihrem Buch kritisiert, ist jedoch der Umgang mit jenen, die am Ende ihrer Karriere einer öffentlichen Betrachtung und vernichtenden Bewertung ausgesetzt sind. Im kollektiven Gedächtnis bleibt am Ende oft nur die Negativberichterstattung, die den Moment des Falls festhält. So hat Björn Engholm das „Brandzeichen seiner Karriere“ (die Barschel-Affäre) nie ganz ablegen können. „Misserfolg braucht Gesichter“, sagt Katja Kraus. An dieser Stelle berührt und ergänzt sich ihr Buch erneut mit dem von Ian Robertson, in dem es heißt: „Die Gewalt im Italien des 16. Jahrhunderts hatte eine innere symbolische Logik, und eine Entstellung des Gesichts wurde als sfregio bezeichnet. Der Angriff auf das Gesicht symbolisierte die Rache für eine Beleidigung der Ehre und des Ansehens desjenigen, der ihn in Auftrag gegeben hatte. So wurde der ‚Gesichtsverlust‘ des Beteiligten symbolisch“.

Wer sein Gesicht verliert und permanent einer öffentlichen Beurteilung ausgesetzt ist, wird zwangsläufig zum Getriebenen eines Systems, in dem für nachhaltiges und überlegtes Handeln keine Zeit bleibt. Ron Sommer führte als gefeierter „Popstar der Wirtschaft“ die Telekom AG an die Börse und avancierte zum Analystenliebling. Als der Aktienmarkt zusammenbrach, verstand er vieles nicht mehr, „weder die Steigerung auf 200 Mark noch den Fall auf acht Euro. Die enorme Dynamik rund um die T-Aktie war in beide Richtungen falsch“. Jeden Morgen dachte er unter der Dusche: „Wo geht die nächste Bombe hoch?“ Heute ist er für einen indischen und einen russischen Großkonzern tätig. Sven Hannawald, der Gesamtsieger der Vierschanzentournee, bezahlte für den Titel „Bester deutscher Skispringer aller Zeiten“ mit seiner Gesundheit in Form einer Burnout-Erkrankung. Auch die Bestsellerautorin Hera Lind wurde vom „Superweib“ zur Rabenmutter der Nation. Die Behauptungen, dass sie ihre vier Kinder bei ihrem Ex-Partner zurückgelassen hätte, um sich in eine neue Liebe zu stürzen, waren Falschmeldungen. Das Schreiben ist neben ihrer Familie heute ihre „Festung“.

Das Buch von Katja Kraus ist ein wesentlicher Beitrag zur Nachhaltigkeit, ohne dass die Autorin dieses Wort bemühen muss, denn sie plädiert dafür, dass die Gesamtleistung eines Menschen nicht am Ende gemessen und beurteilt werden, sondern auch in ihren sonstigen Lebensleistungen aufgehen sollte. Dabei war es ihr wichtig, den Begriff des Scheiterns neu zu diskutieren: “Wir sind irrsinnig schnell darin geworden, zu urteilen, Menschen ihre Kompetenz abzusprechen, ohne darüber nachzudenken, welche Fähigkeiten sie überhaupt erst in die exponierte Position gebracht haben. Die Härte, mit der das geschieht, und die Rücksichtslosigkeit im Umgang mit der persönlichen Integrität sind erschreckend.“ Einige Gesprächspartner sind daran zerbrochen.

Die sprachhistorische Herkunft des Begriffs Scheitern unterstreicht die zusätzliche Symbolik, die von den Geschichten des Buches ausgeht: Zuerst waren es die zerbrochenen Holz-Scheite (althochdeutsch scît), Planken des Schiffsrumpfes, die in Brüche gingen und ein (Lebens-)Schiff zum „Scheitern“ brachten. Erst im Laufe des 17. und 18. Jahrhunderts wurde der Terminus im übertragenen Sinn allgemein gebräuchlich – als subjektiver Vorgang des autonomen Individuums scheitern nun auch dessen Pläne und Hoffnungen. Damit verbunden ist in Katja Kraus‘ Buch das unausweichliche Ende der Macht: „Was bleibt, wenn die Funktion auch den Menschen eingenommen hat, und wie man zurückfindet zum eigentlichen Kern?“ Viele fallen in ein emotionales Loch und schaffen es erst nach einiger Zeit, sich in der neuen Situation zurechtzufinden. So brauchte Gesine Schwan drei bis vier Monate, um „in die Normalität zurück“ zu kehren.

Kaum jemand der Interviewten definierte sich über Aufmerksamkeit, die neue Währung der Mediengesellschaft. Ihr Verlust ging bei ihnen auch nicht mit weniger Selbstgefühl einher. Vielmehr fehlten einigen die Lebensaufgabe, eine Ordnung in den Abläufen des täglichen Lebens, Verankerung, Zugehörigkeit, Verortung, die der Mensch für seine Identität braucht. Wer seinen Ausstieg selbst gewählt hat wie Ole von Beust, stellte sich die Frage nach dem Machtverlust gar nicht erst. Als Erlösung empfand auch der ehemaligen Dresdner Oberbürgermeister Wolfgang Berghofer die neue Situation.

In diesem Buch ist Scheitern kein Schlusspunkt, sondern eine Kehrtwende hin zu etwas Neuem (Ent-Schluss), in dem sich Betroffene und Leser gleichermaßen als selbst-ständig und selbstbestimmt erfahren. Ein Schlüsseltext wie dieser enthält keine Rat-Schläge und Handbuchweisheiten – er schließt etwas auf, was vorher verschlossen war. Der Moment des Anfangs, „an dem sich mit absoluter Sicherheit anfühlt, nun richtig zu sein, in einem neuen Lebensabschnitt“.

Titelbild

Katja Kraus: Macht. Geschichten von Erfolg und Scheitern.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2013.
252 S. , 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783100385048

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