Das Klopfen der Käfer im Gebälk

Thomas Hettches „Totenberg“ erkundet die Dimensionen des Eigenen in zehn Essays

Von André SchinkelRSS-Newsfeed neuer Artikel von André Schinkel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Nimbus dieses Autors ist seltsam umwittert, die Wahrnehmung von Thomas Hettche, den man mit allem Recht einen der beeindruckendsten Sprachakrobaten seiner Generation zu nennen hat, findet sich in einer seltsamen Ambivalenz wieder, die bedrückend sein kann, in verschiedene Richtungen der Betrachtung zumal. Hettche, der sich in merkwürdigem Spagat zwischen dem Nachruch des alt-bundesrepublikanischen Literaturbetriebs und dem völligen Darüberstehen, der beherzten Autonomie eines sich mehrenden, füllenden Werks befindet, vermag mit seinen Romanen nach wie vor zu polarisieren – vor allem in den (und das sind sie nur vermeintlich, es wäre klüger, in ihnen eine Hauptform zu erkennen) ‚Neben-Büchern‘ gelingt es ihm, immer wieder zu überraschen.

Während der Literaturbetrieb auf geradezu hündische Weise versucht, die Pfründe in einem Paket zu halten, riskiert Hettche immer wieder, in die Ungelesenheit zu geraten. Nach dem fulminanten Debüt von 1989, das durchaus zu wünschen übrig lässt, publizierte der Autor seine stilistisch vielleicht bedeutendsten Bücher – „Inkubation“ und „Nox“. Ein großer Erfolg war ihm damit nicht beschieden, handelte es sich doch um eine Sammlung ineinander verwobener Erzählungen und einen Miniroman, eine Novelle eher; und so hat man den Hettche der 1990er-Jahre wohl eher als Bachmann-Juror in Erinnerung denn als den vielleicht sprachlich am besten temperierten Ausblick in ambitionierter Prosa für das ganze Jahrzehnt. Ein gewaltiger Erfolg ist der „Arbogast“-Roman von 2001, dann wird es stiller um Hettche, die Nachfolgeromane werden gemischt aufgenommen. Die große Form, soll kühn behauptet sein, ist nicht die eigentliche dieses Virtuosen, auch wenn er sie mit kühler Verve und dem äußerlich gedimmten Ton des Wissenden beherrscht. Der Umstand, auch die Umlaufbahn im ‚Betrieb‘, dürften ihn mit Koeppen und Hilbig verbinden.

Hettches Essayistik erfährt in seinem jüngsten Buch „Totenberg“ womöglich die Vollendung eines Dreisprungs: nach dem gebündelten Blick der „Animationen“ (1997), der Zerstreuung und dem Abstecken der äußeren Claims im „Fahrtenbuch“ (2007) erkundet sie im neuesten Opus die Dimensionen des Eigenen, die Entwicklung, Formung, Deformation der inneren Umstände, zu dem zu werden, der man ist; die wichtigen Einflüsse und Begegnungen, die diese Entwicklung begleiten. Dabei geht es durchaus kontrovers zu, am imponierendsten, frappierendsten ist dieser Weg der Sichtung allerdings, wenn er sich aus dem Beobachten und Kolportieren heraus den persönlichsten Angelegenheiten zuwendet: „Ich begriff nicht, warum, doch dann schämte ich mich plötzlich, und zwar, ohne zu wissen weshalb, für ihre Scham, die widerstandslos in mich hinein sich spiegelte.“

Wuchtig, dieser Satz, in einem an starken Sätzen nicht armen Buch. Dem voraus geht eine der offensten Szenen, die man in den letzten Jahren zu lesen bekam: der Rückschluss an die Geborgenheit eines Säuglings bei der Mutter wird durch das heranwachsende Kind versucht. Diese Geborgenheit, sie ist unmöglich, da sie bereits der Mutter verloren ging. Gespiegelt in die bücherlose Starre der Kindheit, die sich um die leeren Vertriebenen-Koffer, die staubig und mit den Namen nun unerreichbarer Orte auf den Dachboden im hessischen Outback herumlungern, dreht, eröffnet sich, so ist „Totenberg“ zu lesen, als Aussicht die Literatur. Das Kreisen um sich, die Frage nach dem Woher und Wohin, bekommt eine Antwort; in den einzelnen Essays werden die formenden Elemente vorgeführt, am eindrücklichsten in den Texten, die den Schutz der Gespräche verlassen und sich in die Auslieferung der Selbstschau begeben, in „Unsere eigene Gestalt“ oder „Echo“.

Die gesamte Vertracktheit der Existenz gerät dabei in den Fokus des Gefangenseins in sich und den Prägungen, die lässliche Verlorenheit des Beginns strahlt aus in alle Regungen, ja, sogar die Begegnungsgeografie des Erwachsenen, der man notgedrungen wird, ohne darin einen Nutzen zu erkennen. Die entlarvende, kristalline Sprache dieses verehrungswürdigen ‚Dichters in Prosa‘ kippt an solchen Stellen in den kahlen Frost der Versprengung, und die Tragödie der vorausgehenden Generation überträgt sich, als hätte sein junger essayistischer Held sie mit der Muttermilch aufgenommen, die er nicht mehr bekommt. Man hört in dieser Sammlung das Klopfen der Käfer im Stoff- und Blick-Gebälk eines Schriftstellers – mit aller Offenheit, tastend, am Verfasser wie an sich selbst erstaunend, widerfährt dem Leser die Einübung im Begehen diverser ungeschützter Terrains.

Und immer wieder verwischt Hettche die klaren Momente: erschrocken, ertappt, als wären die Feststellungen einem Zwischenterrain entnommen, das den Sprecher treibt und das ihm überbordet, das er zugleich wie unter der Decke behalten will. Das vordergründig gemiedene Pathos wird dabei von einem geschickten, punktuell gesetzten ‚Pathos des Understatements‘ konterkariert, ein wenig anrüchig womöglich in den Augen mancher (oder vieler) mit den Gestalten Hans-Jürgen Syberbergs und Ernst Jüngers, deren Wirken sich nicht über den kurzen Blick einordnen lässt; berührend im Fall Christa Bürgers, der akademischen Lehrerin Hettches, die mit dem eigenen Haus, Heimat und Bunker in einem, scheinbar versinkt. Grandios: die Querung der Biografien mit dem Eigenen, das einerseits, durch die Gefahr der Bezugslosigkeit, auf der anderen Seite durch die Blicke und Begegnung, die zur Selbsterkundung führen, geprägt ist; das Individuum geformt in den Gebresten der Zeit, die Zeit durch die Augen des Individuums gebrochen, in steter Nach- und Wechselwirkung.

Paradox – im Zeitalter der Selbstbespiegelung erregt eben diese Widerspruch, zumal wenn sie ernsthaft und seriös betrieben wird. Wir erfahren etwas über die Scheu des Essay-Ichs vor dem Osten, seine Zentriertheit gen Westen: in der Spiegelung der Brüche, die die Eltern-Generation erfahren, an es weitergegeben und in es projiziert haben mag, wird sie plausibel. In gewisser Weise vollzieht Thomas Hettche, lediglich im Genre wechselnd, mit diesem Buch, nach dem Hausberg seines Heimatdorfs benannt und gleichsam von einem für die Herkunft aus einem katastrophischen Jahrhundert ungeheuerlichen Symbolwert im Titel, den fälligen Anschluss an die brillanten Text-Observationen der „Inkubation“. Und der Leser, wenn es ihn (nach einem Wort Wolfgang Hilbigs) denn gibt, folgt auf ihm einem ungeheuerlichen Pfad ins Innere, den Hettche, mit einer eigentümlichen Mischung aus Widerstreben und Heraufbeschwören, gelegentlich gewürzt mit einem falben Anklang Bernhard’schen Erzähl- und Anschwärz-Übermuts, tatsächlich freigibt. Was für ein Buch.

Titelbild

Thomas Hettche: Totenberg. Essays.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2012.
213 Seiten, 18,99 EUR.
ISBN-13: 9783462044638

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