Sowjetische Frostalgie

Rosa Liksoms Romanschauplatz „Abteil Nr. 6“ rauscht durch das winterliche Sibirien

Von Frank RiedelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Frank Riedel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

1958 im finnischen Teil Lapplands geboren, ging Rosa Liksom bereits als Teenager nach Helsinki, wo die Autorin, Filmemacherin und Performancekünstlerin auch heute noch lebt. Sie studierte in Helsinki, Kopenhagen und Moskau Anthropologie und Sozialwissenschaften, lebte in mehreren Kommunen und unternahm bereits als 15-Jährige allein ihre erste Reise in die Sowjetunion. Ihr Roman „Hytti nro 6“ (Abteil Nr. 6) erhielt 2011 den angesehenen Finlandia-Literaturpreis und ist 2013 für den Skandinavischen Literaturpreis des Nordischen Rates nominiert.

Der Romantitel „Abteil Nr. 6“ erinnert an die 1893 erschienene Tschechow-Novelle „Krankenzimmer Nr. 6“, in der ein Arzt als Protagonist auf einem Kontrollgang den erbärmlichen Zustand der geschlossenen Psychiatrie eines Provinzkrankenhauses als für die Patienten gesundheitsgefährdend einstuft, und die stoische Akzeptanz der unübersehbaren sozialen Missstände als russische Volkskrankheit beschreibt. Rosa Liksom verlagert den Schauplatz ihres Romans in das Zugabteil der Transsibirischen Eisenbahn mit der Nummer 6 und schafft damit den Rahmen, die ganze Sowjetunion kurz vor ihrem Zusammenbruch Ende der 1980er-Jahre, über Tausende von Kilometern im Vorbeifahren satirisch-kritisch zu beschreiben.

Eine junge finnische namenlose Archäologiestudentin reist im Spätwinter zu Forschungszwecken von Moskau nach Ulan-Bator. Wie der Zufall will, teilt sie sich das Abteil mit einem ungehobelten, russischen Metaller namens Wadim Nikolajewitsch Iwanow, der die 40 bereits deutlich überschritten hat. Es ist eine Zweckgemeinschaft, die in den vielen Tagen und Nächten entsteht, während der Zug sie auf glänzenden Gleisen in „Gottes Kühlschrank“ bringt. Dabei sind die Städte, in denen die Reise zuweilen auch für viele Stunden oder sogar eins, zwei Tage unterbrochen wird, ebenso eklig, abgewrackt und rau, wie der ungehobelte, männliche Begleiter. So wird die Fahrt für die Protagonistin und den Leser zu einer Nostalgiereise in eine stereotypische Sowjetunion, die es vielleicht so nie gab, aber heute jedenfalls nicht mehr gibt.

Es liegt an der Natur der Sache, dass eine Bahnreise handlungsarm ist, zwei völlig unterschiedliche Reisegenossen nicht mehr als Anekdoten, Proviant und selbstverständlich literweise Wodka austauschen. Wobei der Russe in jeder Beziehung den aktiveren Part einnimmt, die junge Finnin ihn wiederum eher nur erträgt. Während sie sich sein sexistisch-homophobes-russistisches Geschwätz anhören muss, er Tee und Wodka säuft und ihr die heimische deftige Küche zelebriert, fliegt vor dem Fenster die wunderbare, winterliche Landschaft Sibiriens vorbei. Man kommt „an resignierten Häusern vorbei, die von ihren Gärten geschluckt wurden, an Dörfern, die der Wald auffraß“ und landet in Städten, in denen Menschen nach und vor allem Schlange stehen, nichts ist schön oder funktioniert. Natürlich hat ein Bahnreisender keine Zeit, Menschen näher kennen zu lernen, sieht selten mehr, als die hässlichen Bahnhofsviertel. Man versorgt sich mit Unnötigem und langweilt sich, bis mit der Abfahrt erst wieder Bewegung aufkommt, wobei Liksom stets den Zug in das verschneite menschenleere Land stampfen lässt und refrainartig wiederholt: „Alles ist in Bewegung: der Schnee, das Wasser, die Luft, die Bäume, die Wolken, der Wind, die Städte, die Dörfer, die Menschen und die Gedanken.“

Menschlich kommen sich die beiden Protagonisten bei Kwas, Kohlpiroggen, fettigem Borschtsch, Gurken, Trockenfisch, Knoblauch und Schweißgeruch nicht wirklich näher. Zu ruhig die Finnin, zu gleichgültig und rechthaberisch der prahlende, fluchende Russe. Sie hatte Moskau auch wegen Beziehungsproblemen verlassen: Ihr Partner war in die Psychiatrie eingeliefert worden und sie hatte eine Affäre mit dessen Mutter begonnen. So werden die Blicke aus dem Fenster und die Predigten des Abteilgenossen von sehr privaten Gedanken und Erinnerungen kurz unterbrochen, bis die Realität sie abrupt weckt.

Die einfache, oft grobe Sprache erinnert an Charles Bukowski und zementiert die satirische Betrachtung des Landes, „in dem ein Unglück als Glück gedeutet wird“. Liksom rechnet mit der Sowjetunion ab, lässt kaum ein gutes Haar an dem Staat, den Bewohnern, den Erzeugnissen, Errungenschaften und Lebensweisen. Besonders die vulgären Sprüche des Mitreisenden sind in dieser Härte und Häufigkeit Geschmacksache und sollen hier nicht belegt werden. Den Kontrast zu alldem bietet die ehrfurchtsvoll-dramatische Beschreibung der endlosen Naturschönheiten, der Weite des Landes, Sibiriens, der Taiga – sofern sie nicht von Menschenhand zerstört wurde.

Heute hat sich längst neben der Armut des heruntergekommenen einstigen Riesenreiches eine glänzende Glamour-Seite Russlands und seiner Nachbarstaaten entwickelt, sind auf Transsib-Fahrten auch Shoppingtouren, Club- oder Restaurantbesuche und Hotelübernachtungen nach westlichen Standards kein Problem mehr. Vermutlich genau deshalb hat „Abteil Nr. 6“ in Skandinavien einen so großen Erfolg: Viele möchten sie literarisch-gedanklich konservieren, die gute alte, schmutzige, funktionsuntüchtige, sauflustige, herzliche, so exotische Sowjetunion, in deren bedrohendem Schatten man sich im Norden ein halbes Jahrhundert befand – Liksoms Roman ist ein (Alb-)Traum aus Eis und Klisch(n)ee.

Titelbild

Rosa Liksom: Abteil Nr. 6. Roman.
Übersetzt aus dem Finnischen von Stefan Moster.
Deutsche Verlags-Anstalt, München 2013.
216 Seiten, 14,99 EUR.
ISBN-13: 9783421045836

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch