Das Recht der Literatur auf Leben

Alexandra Böhm nähert sich „Heine und Byron“ aus komparatistischer Perspektive

Von Regina RoßbachRSS-Newsfeed neuer Artikel von Regina Roßbach

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wenn man über die Notwendigkeit von Epochensystematiken nachdenkt, kommt man zwangsläufig zu einer paradoxen Erkenntnis: Sie sind unverzichtbar und zugleich zum Scheitern verurteilt. Wir brauchen Bezeichnungen wie „Romantik“ oder „Surrealismus“ als Orientierungs- und Referenzpunkte, als Erklärungsmodelle und Denkstrukturen. Indem Epochenbestimmungen aber nur dominante Merkmale innerhalb eines Zeitraums beinhalten, kommen sie beim Individuellen und Eigenwilligen an ihre Grenzen – sofern das Eigenwillige nicht selbst zum dominierenden Epochengestus wird.

Heine und Byron sind zwei Autoren, die immer wieder als Beleg für solche Schwierigkeiten herangezogen wurden. Als in hohem Maß individuelle Figuren der Literaturgeschichte lassen sie sich nur schwer einer Epoche zuzuordnen. Alexandra Böhm gelingt es mit ihrer komparatistischen Herangehensweise, für diese beiden zentralen Autoren und besonders ihr Wirken zwischen 1815 und 1848 eine neue Eigenständigkeit zu postulieren. Gerade ihre Schwellenposition zwischen Romantik und Realismus, zwischen Wiener Kongress und Märzrevolution wird dabei zum verbindenden und typischen Merkmal. Der Aspektreichtum der Arbeit trägt dem komplexen Ablöseprozess Rechnung, der sich auf dem Weg von einer Auseinandersetzung mit romantischen Topoi und Poetiken hin zu einer Neubewertung der Kunst im öffentlichen Raum vollzieht.

Eine erste Beobachtung betrifft die neue Zeitwahrnehmung der Autoren. Während bei den Romantikern die Gegenwart allenfalls als Übergang von der Vergangenheit zur Zukunft begriffen wird, arbeiten Heine und Byron in ihren Texten an einem modernistischen Verständnis, bei dem die Gegenwart eine eigene Berechtigung erhält, was auch daran abzulesen ist, dass das ‚Aktuelle‘, das ‚Modische‘ zur Forderung wird. Heines programmatische Betonung der „Interessen der Gegenwart“ ist hierfür charakteristisch.

Innerliterarisch zeigt Böhm diese Entwicklung beispielsweise an der Umwertung der Ironie. Bisher ist diese meist als verbindendes Element zwischen Heine, Byron und den Romantikern gesehen worden. Böhms Beispiele aus Byrons „Don Juan“ und Heines „Die Harzreise“ führen jedoch vor Augen, dass diese Texte gerade eine Durchbrechung der Transzendenz anstreben, romantische Topoi also nur aufgenommen werden, um sie zu säkularisieren und zu dekonstruieren. Beide Autoren vermissen bei den Romantikern das Leben und die Gegenwart, wie es bei Böhm wiederholt heißt. Heine ruft in diesem Sinne aus: „Das Volk verlangt, daß die Schriftsteller seine Tagesleidenschaften mitfühlen, daß sie die Empfindungen seiner eigenen Brust entweder angenehm anregen oder verletzen: das Volk will bewegt werden.“

Eine besondere Leistung der Arbeit ist der Nachweis, dass Heine seine Emphase der Gegenwart gerade in Auseinandersetzung mit Byron entwickelt. Böhm findet typologische Ähnlichkeiten der beiden auf sozialer, literarischer und psychologischer Ebene. Ihre Thesen entwickelt sie dabei als deutliche Abgrenzung gegen die bisherige Forschung, in der Byrons Rolle als Referenzfigur auf Heines Frühwerk beschränkt blieb. Meist wird dies – auf den ersten Blick auf schlüssige Weise – damit begründet, dass Heine sich später öffentlich von Byron distanziert, ihn als Vorbild ablehnt und auch in seinen Texten kaum noch explizite Verweise auf seinen englischen Kollegen zu finden sind. Böhm argumentiert unter Rückgriff auf Thesen von Pierre Bourdieu und Harold Bloom, dass Heine sich öffentlich von Byron distanzieren musste, um die vielfach gezogenen Vergleiche abzuwehren und eine eigene Identität als Dichter zu entwickeln. Ob bewusst oder unbewusst bleiben Byron-Referenzen aber auch in seinen späteren Werken präsent.

In der Tat muss man in Böhms Verwunderung darüber einstimmen, dass man sogar Heines Kenntnis der späteren Werke Byrons angezweifelt hat. Denn in einigen der Parallelen, die Böhm aufzeigt, werden die Byron’schen Dichtungen als Intertexte für Heine mehr als ersichtlich. Nicht nur, dass Heine beispielsweise in seiner Anklage der Heuchelei seiner Zeitgenossen das auch bei Byron dominante Thema des ‚cant‘ aufnimmt, er bedient sich auch der gleichen Motive. So gibt der Erzähler an einer Stelle zu, endlich zu verstehen, warum ein „englischer Dichter“ die Damen mit Champagner verglichen habe: „In der eisigen Hülle lauert der heißeste Extrakt.“ Der Vergleich stammt aus dem Canto XIII. des „Don Juan“. Noch heute lässt sich die Wissenschaft also von Heines „Praxis der Verschleierung“ fehlleiten, mit der er versucht hat, sich gegen den in ganz Europa verbreiteten Byronismus abzugrenzen. Auch in den späten Texten aber – das zeigt Böhm mit vielen weiteren Beispielen – geht der Dialog der Dichter weiter.

Indem die Heuchelei in der Gesellschaft der Restauration von den „Schwellentexten“, wie Böhm sie nennt, angeprangert wird, ist die Grenze zwischen Literatur und Leben bereits überschritten. Noch deutlicher wird dies in Böhms Untersuchung des Skandals, der bei Byron wie Heine „dem Text als Verfahren eingeschrieben“ sei. Der Skandal sei Teil einer radikal grenzüberschreitenden Strategie und bilde einen Aspekt der von ihr schon im Titel so bezeichneten „Poetik eingreifender Kunst“. Böhm macht das Skandalisierungsspiel der Texte durch Analysen von Byrons „The Vision of Judgment“ und Heines „Die Bäder von Lukka“ anschaulich. Beide Texte attackieren polemisch literarische Gegner: Byron richtet sich gegen Robert Southey, dessen Text er parodiert, sowie gegen King George III., Heines noch radikalerer Text rechnet mit dem Dichter August von Platen ab. Beide führen nicht nur auf ähnliche Weise performativ Skandalisierungsprozesse vor, sondern kritisieren auch in gleicher Weise die Poetiken ihrer Zeit. Die schöne, aber soziale Probleme außer Acht lassende Naturdichtung der Lake Poets bei Byron und die Unterdrückung des sinnlichen Moments der Romantiker bei Heine sind zwei Kritikpunkte, die sich gegen das gleiche, ihrer Meinung nach falsche Konzept von Kunst richten: einer Kunst, die in ihren Grenzen verharrt und letztendlich lahm und unbrauchbar wird. Besonders provokativ ist in beiden Texten die Darstellung der Dichterfiguren als sexuell unfruchtbar: „Die Sexualität wird auf die Ästhetik projiziert“, schreibt Böhm.

Die Etablierung einer solchen Wirkungsästhetik wird bis zu einem solch dezidiert romantischen Topos wie der Melancholie nachvollzogen. Anhand von Dichterporträts von Heine und Byron sowie Beschreibungen der italienischen Landschaft und des Meeres in ihren Texten veranschaulicht Böhm, dass die Melancholie „von der subjektiven Stimmung zur politischen Gestimmtheit transformiert“ werde.

Detaillierte und kenntnisreiche Textanalysen führen vor, wie ein neues Geschichtsverständnis und veränderte Auffassungen über die Referenzfunktion von Kunst als Teil einer neuen Poetik immer stärker moderne Züge aufweisen. Auch die Art und Weise, wie die Grenzen des Mediums Literatur durch Referenzen auf italienische Kunstformen wie die Commedia dell’arte und die Opera buffa erweitert und erprobt werden, weist darauf hin, dass für die Literatur ein neuer Öffentlichkeitscharakter gefordert, ja durch die Provokation der Texte schon geschaffen wird.

Italien als Schauplatz wird von Böhm umgewertet. Man habe häufig behauptet, es besitze innerhalb der Texte keine eigene Identität, sondern diene als Folie für Probleme in der Heimat oder subjektive Befindlichkeiten. Böhm zeigt, dass die Texte dem Italienischen ganz im Gegenteil sehr wohl individuelle Eigenheiten zuschreiben, es sogar als vorbildhaft hervorheben. Hier finden die Autoren all jenes realisiert, was ihnen in der Heimat defizitär erscheint: Kunstlandschaft, Lebendigkeit der Gesellschaft und Präsenz der Geschichte.

Böhm hantiert selbstbewusst mit den unterschiedlichsten theoretischen Zugängen und deckt zahlreiche intertextuelle Bezüge auf, die Heine und Byron in ihrer Verflechtung untereinander beleuchten, sie zugleich mit vielen weiteren Referenztexten in Verbindung bringen. Ihre innovativen Thesen verfolgt sie bis in die Mikrostrukturen der Texte, wenn sie sich zum Beispiel auf strukturalistische Weise der Trope des Vergleichs annimmt. Die Arbeit leistet einen beachtlichen Beitrag zur Neubewertung des Zeitraums zwischen Romantik und Realismus.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Alexandra Böhm: Heine und Byron. Poetik eingreifender Kunst am Beginn der Moderne.
De Gruyter, Berlin 2013.
467 Seiten, 119,95 EUR.
ISBN-13: 9783110278750

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