Der Jammer des alten Mannes

Mario Vargas Llosas Kulturkritik „Alles Boulevard. Wer seine Kultur verliert, verliert sich selbst“

Von Martina KopfRSS-Newsfeed neuer Artikel von Martina Kopf

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es war kaum zu übersehen, dass es für Mario Vargas Llosas den Verfall der Kultur beklagenden Essayband bereits Spott und Kritik hagelte: „Mit Plattitüden offene Türen einrennen“ titelte die „Zeit“ und konstatierte eine „Weltentfremdung“ des Nobelpreisträgers, der laut NZZ „schon weit abgekoppelt ist von der Gegenwart“. Als „geharnischte Generalabrechnung mit der Gegenwartsliteratur“ wurde das Werk in der NZZ verrissen und im „Spiegel“ zierte die Bildunterschrift „Schriftsteller Vargas Llosa: Im Dämmerlicht des Alters“ das Porträt des 77-Jährigen. Das mag böse klingen, doch tatsächlich erweist sich Vargas Llosas Kritik als antiquiert und der Band als eine in ihrer Plattheit schockierende Jammertirade auf die Kultur der Gegenwart.

Die Zusammenstellung, die aus zwischen 1995 und 2011 in „El País“ publizierten Artikeln und weiteren Essays besteht, beinhaltet Kulturpessimismus nach alter Tradition. Der Tenor des Buches lautet schlicht: Unsere Zeit hat keine Kultur mehr, diese befindet sich in einer Krise und ist vom Niedergang bedroht. Früher war eben alles besser. Die Kultur habe sich gewandelt, sie wurde laut Vargas Llosa durch ein „buntes Sammelsurium“ verdrängt, verfälscht und zwar „mit dem Einverständnis aller“.

Es handele sich nun um eine „civilización del espectáculo“, eine „Kultur des Spektakels“, wobei Paul Ingendaay zu Recht darauf hingewiesen hat, dass espectáculo nicht mit Spektakel übersetzt werden kann. Die „Kultur des Spektakels“ meint die Kultur, „in der Eskapismus und Spaß die allesbeseelenden Leidenschaften sind“. Der Unterschied zwischen vergangener Kultur und dem heutigen Entertainment sei folgender: Während früher ein Werk den Anspruch hatte, die Gegenwart zu transzendieren und zu überdauern, würden die neuen Produkte augenblicks konsumiert. Die Ursache für diesen kulturellen Absturz sei laut Vargas Llosa der wirtschaftliche Aufschwung, der Anstieg der Mittelschicht und die Demokratisierung der Kultur. Bildung, Förderung und Subventionierung der Kunst hätten den unerwünschten Nebeneffekt einer Trivialisierung der Kultur.

Ein Beispiel für diese Trivialisierung der Kultur sei die zeitgenössische Literatur, die zu einer reinen Unterhaltungsliteratur mutiert sei. Dass es keinen Joyce, keine Virginia Woolf, kein Rilke und kein Borges mehr gebe, liege an den leichte Bücher konsumierenden Lesern, erklärt uns der Bestseller-Autor.

Aber nicht nur die Literatur steht vor einer Apokalypse, sondern eigentlich alles: Musik, Sport, bildende Kunst (diese stelle die Grundlage für die Kultur des Spektakels dar, „denn sie zeigte, dass die Kunst Spielerei und Farce sein kann und sonst nichts“), Film („unsere Zeit bringt keine Meister mehr hervor“) und Politik (Carla Brunis Einzug in den Elysée-Palast zeige, dass Frankreich der Frivolität erlegen ist). Es ist bestimmt lobenswert, dass sich der Nobelpreisträger für alles zu interessieren scheint – doch will man zu jedem Thema Vargas Llosas klassisch-konservative Haltung hören? Es geht auch um das Kruzifix-Verbot in Bayern und die Kopftuchdebatte in Frankreich. Aber warum diese Essays von 1995 und 2003 mit ihren abgenutzten Argumenten erneut abgedruckt werden müssen, ist fraglich.

Ein Thema, das Vargas Llosa außerdem bedrückt, ist das Verschwinden der Erotik und die „Banalisierung des Geschlechtsakts“. Ausgangspunkt ist ein Selbstbefriedigungskurs für Jungen und Mädchen, der in Spanien in der Schule angeboten werden sollte. Es mag schockieren, mit welcher Ernsthaftigkeit und in welcher Länge sich Vargas Llosa diesem Thema widmet und zu welch trivialer Schlussfolgerung er kommt: „Das Ausleben der Sexualität wird alles Geheimnis, alle Leidenschaft, Fantasie und Kreativität verlieren und sich banalisieren bis zur reinen Gymnastik. Mit dem Ergebnis, dass die Jugendlichen ihr Vergnügen woanders suchen, wahrscheinlich im Alkohol, in Gewalt, in Drogen.“ Der Vorwurf der Trivialität an die Kultur scheint nicht zu funktionieren, ohne selbst trivial zu werden.

Schuld an diesem ausufernden Kulturbegriff, dank dem sich die Kultur verflüchtige, haben laut Vargas Llosa die Anthropologen. Als „Summe der Kenntnisse und religiösen Anschauungen, Sprachen, Sitten und Gebräuche, Kleider, Verwandtschaftssysteme und letztlich von allem […], was ein Volk sagt, tut, fürchtet oder verehrt“ sei dies nicht mit einer der Elite vorbehaltenen Hochkultur vereinbar, wie sie zum Beispiel T. S. Eliot proklamiert. Kultur wird zur bloßen Metapher. Was bleibt, ist ihr Untergang.

Warum dieser Pessimismus? Warum diese Verbitterung? Warum keine Perspektiven für die Zukunft? Verständlicher wird Vargas Llosas Haltung, wenn man sein Schlussbekenntnis liest, in dem er zugibt, dass ihn die Zukunft weniger interessiere als die Vergangenheit. Seit einigen Jahren, so beichtet er, überkomme ihn bei Ausstellungen, Filmen, Theaterstücken und Fernsehsendungen, Büchern, Zeitungen und Zeitschriften, das unbehagliche Gefühl, dass man ihn auf den Arm nehme.

Armer Mario! Kein Wunder also, dass nun die Abrechnung mit der „Kultur des Spektakels“ kommt, obwohl der Bestseller-Autor mit bekannter wirtschaftsliberaler Haltung, der sich an sämtlichen Genres versucht hat, letztendlich selbst zu ihrer Blüte beigetragen hat. Gegen die massenweise weltweite Vermarktung der eigenen Bücher hat Vargas Llosa nichts einzuwenden, und die Frage, warum seine Bücher zur Unterhaltung gelesen werden, scheint ihn kaum zu tangieren. Prinzipiell mag es lobenswert sein, dass sich ein Romanautor für diese Breite an kulturellen Themen interessiert und in bekannter Manier stilistisch brilliert. Bedauernswert ist nur das mangelnde Verständnis für den natürlichen Wandel und die Dynamik von Kultur: Kulturpessimismus entsteht wohl immer als Reaktion auf ein Gefühl der Exklusion. Der deutsche Untertitel könnte ein Selbstbekenntnis des Autors sein: Wer seine Kultur verliert, verliert sich selbst.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Mario Vargas Llosa: Alles Boulevard. Wer seine Kultur verliert, verliert sich selbst.
Übersetzt aus dem Spanischen von Thomas Brovot.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2013.
231 Seiten, 22,95 EUR.
ISBN-13: 9783518423745

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