Fußnoten für die Feenwelt

Ein Stellenkommentar zu Christoph Martin Wielands Roman „Die Abenteuer des Don Sylvio von Rosalva“

Von Nikolas ImmerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Nikolas Immer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Am 13. Oktober 1764 schildert ein anonymer Rezensent der „Göttingischen Anzeigen von gelehrten Sachen“ in radikalstmöglicher Raffung, wovon Christoph Martin Wielands soeben erschienener, gut 600-seitiger Roman „Der Sieg der Natur über die Schwärmerey, oder die Abentheuer des Don Sylvio von Rosalva“ (1764) eigentlich handelt: „Ein junger spanischer Edelmann, dem das Lesen von Feengeschichten das Gehirn endlich angegriffen hat, geht auf Abentheuer aus, verliebt sich in eine gefundenes Portrait, das von einer bezauberten Prinzeßin seyn muß, das Original heilt ihn endlich.“

Auch wenn dieser Erzählverlauf ein wenig befremdlich wirken mag, verfolgt Wieland mit seinem komisch-satirischen Roman ein durchaus ernsthaftes Anliegen. Indem er seinen Titelhelden einer sogenannten Schwärmerkur unterzieht, veranschaulicht er, wie heilsam die Wirkung der Aufklärung für einen pathologisch Feensüchtigen doch sein kann. In intertextueller Perspektive eröffnet Wieland weitreichende literarische Bezüge, rekurriert aber insbesondere auf die französischen Feenmärchen, um Don Sylvios Lesewut angemessen zu illustrieren.

Dass dieser Anspielungsreichtum der Erläuterung bedarf, bezeugen bereits Wielands zweimalige Umarbeitungen seines Romans (1772 und 1795), in denen er mithilfe von nachträglich eingefügten Fußnoten einzelne beziehungsreiche Passagen kommentiert. Mehr als zwei Jahrhunderte später hat sich diese Situation noch einmal verschärft: Angesichts der vielfältigen und mitunter komplexen literarischen Referenzen, die Wielands Werke enthalten, kommt der moderne Leser kaum umhin, auf entsprechende wissenschaftliche Kommentare zurückzugreifen. Da ist eine Arbeit wie die von Nicki Peter Petrikowski, der einen umfangreichen Stellenkommentar zu Wielands „Don Sylvio“ vorgelegt hat, zunächst einmal äußerst willkommen.

Ein wenig verwundert aber schon der erste Satz des Klappentextes, in dem behauptet wird, dass „erstmals“ ein „umfangreicher Stellenkommentar“ zu Wielands Roman vorliege. Das ist zwar insofern richtig, als Petrikowskis Stellenkommentar mit Sicherheit als der umfangreichste angesehen werden darf, der bisher erschienen ist. Allerdings hat es auch vorher schon umfangreiche Einzelstellenkommentare zum „Don Sylvio“ gegeben, wie vor allem der ausführliche Anmerkungsteil in der Reclam-Ausgabe von Sven-Aage Jørgensen belegt.

Dass Petrikowski selbst „gern“ auf die Vorarbeiten früherer Herausgeber „zurückgegriffen“ hat, macht er in seiner Einleitung kenntlich, da es ihm „unnötig erschien, das Rad völlig neu zu erfinden“. In arbeitsökonomischer Hinsicht hat diese Aussage zweifellos ihre Berechtigung, da sich über die bereits bestehenden Kommentare eine Vielzahl von Lemmata erschließen lassen, deren Sachgehalt inzwischen gut erforscht ist. Angesichts der aktuellen Debatten über etwaige Editionsplagiate erscheint es jedoch ein wenig bedenklich, den Eindruck zu erwecken, als dürften die Kommentarleistungen früherer Editoren ohne weiteres als ‚Steinbruch‘ für die eigene Arbeit genutzt werden.

Eine grundsätzliche methodische Frage bei der Herstellung eines Sachkommentars besteht darin, ob die Darlegungen eines Bearbeiters nur erklärend oder ob sie schon interpretierend angelegt sein dürfen. Petrikowski ist sich dieser Problemstellung auch durchaus bewusst, nur begnügt er sich damit, leichthin auf die unterschiedliche Disposition der Leser zu verweisen: „Die Ansicht darüber, was eines erklärenden Kommentars bedürftig ist und was nicht, wird abhängig vom Vorwissen von Leser zu Leser schwanken“. Der alleinige Hinweis auf diese Binsenweisheit bleibt jedoch wenig überzeugend, zumal die Frage nach der angemessenen Kommentierung zur den traditionellen Diskussionsfeldern der Editionswissenschaft gehört.

Wie Petrikowski in der Einleitung weiter ausführt, hat er seinen Stellenkommentar sowohl für interessierte Laien und Studienanfänger als auch für Fachwissenschaftler konzipiert, die allerdings „viele der Erläuterungen werden überblättern können“. Insofern erweist sich Petrikowskis Arbeit in erster Linie als ein Hilfsmittel für die akademische Lehre. Das erhellt auch aus dem Umstand, dass die Reclam-Ausgabe von Jørgensen und nicht der entsprechende Teilband der Oßmannstedter Wieland-Ausgabe die Textgrundlage bildet. Zwar hat Jørgensen eine mustergültig edierte Ausgabe des Erstdrucks vorgelegt, jedoch sind bei der Textkonstitution, wie im Anhang vermerkt wird, auch einige stillschweigende Korrekturen vorgenommen worden.

Um die Darstellungsebenen von Erläuterung und Interpretation nach Möglichkeit zu trennen, hat Petrikowski zu jedem Buch des „Don Sylvio“ einen eigenen Einführungsteil verfasst, in dem er zentrale thematische Aspekte des jeweiligen Textabschnitts resümiert. Danach folgen die einzelnen Lemmata, die über Seiten- und Zeilenverweise mit der Reclam-Ausgabe von Jørgensen verknüpft sind. Zudem, und das ist als großer Gewinn von Petrikowskis Arbeit anzusehen, werden stets auch Verweise auf die zweite Fassung von 1772 und auf die dritte Fassung von 1795 integriert. Angesichts dieser Parallelverzeichnung wird sofort sichtbar, welche Lemmata Wieland in den späteren Fassungen getilgt hat. Außerdem werden alle Fußnoten zitiert und kommentiert, mit denen Wieland diese Lemmata in den späteren Fassungen selbst erläutert hat.

Die umfassende und fleißige Kommentarleistung Petrikowskis darf prinzipiell ohne Vorbehalte gewürdigt werden. Gleichwohl bleibt festzustellen, dass die Qualität der einzelnen Kommentarpassagen erkennbar differiert. Als besonders hilfreich erweisen sich die Zusammenfassungen der mitunter recht komplexen französischen Feenmärchen, die dem Leser unmittelbar zu beurteilen erlauben, ob Wieland beispielsweise mit dem „Schaumlöffel des Prinzen Tarzai“ nur den Titel einer Märchenvorlage zitiert oder eine strukturelle Motivparallele herzustellen versucht.

An anderer Stelle, wenn im „Don Sylvio“ etwa das „Ungeheuer von Africa“ genannt wird, zitiert Petrikowski in seinem Kommentar die gesamte Horazische Ode „Integer vitae“ im lateinischen Original sowie in deutscher Übersetzung. Das ist für das Textverständnis zweifellos sehr hilfreich, nur hat es den Anschein, als bestehe Petrikowskis Eigenleistung lediglich darin, Jørgensens vorgängigen Kommentar gleichsam ‚auszuschreiben‘, da dieser bereits auf die Ode verwiesen hatte, ohne sie allerdings zu zitieren. Daneben finden sich schließlich Sacherläuterungen, die diesen Namen im Grunde kaum verdienen. So besteht der Einzelstellenkommentar zum Lemma „Allegorie“ nur aus zwei Zitaten, die dem „Sachwörterbuch der Literatur“ und dem „Metzler Lexikon Literatur“ entnommen sind. In beiden Zitaten klingt in keiner Weise an, welche weitreichenden literaturtheoretischen Debatten sich im 18. Jahrhundert an diesem Begriff entzündet haben.

Petrikowski hat mit seinem Einzelstellenkommentar zu Wielands „Don Sylvio“ eine Arbeit vorgelegt, die sich vor allem produktiv im akademischen Unterricht wird einsetzen lassen. Zwar bietet sie darüber hinaus viele Spezialinformationen, die insbesondere für den Wielandforscher relevant sind, jedoch enthält sie auch eine Reihe von basalen Erläuterungen, die schwerlich in einem wissenschaftlichen Kommentar Aufnahme gefunden hätten. Vielleicht aber liegt in dieser Erläuterungsvielfalt gerade ein besonderer Vorzug, da sie rein quantitativ veranschaulicht, welcher intellektuelle Reichtum in diesem fast 250 Jahre alten Roman enthalten ist.

Titelbild

Nicki Peter Petrikowski: Stellenkommentar zu Christoph Martin Wielands Die Abenteuer des Don Sylvio von Rosalva.
Peter Lang Verlag, Frankfurt a. M. 2012.
494 Seiten, 78,95 EUR.
ISBN-13: 9783631624395

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