Paarung von Poesie und Psychoanalyse

Astrid Waliszeks emotionaler Psycho-Roman „Der Fisch ist ein einsamer Kämpfer“

Von Thorsten SchulteRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thorsten Schulte

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Astrid Waliszeks Romandebüt „Der Fisch ist ein einsamer Kämpfer“ ist ein spannendes, emotionales Psychodrama über das fragile Leben der 64-jährigen Topolina, welches aus den Fugen gerät – und das nicht zum ersten Mal.

Topolinas Tage sind perfekt zugeschnitten, die Zeit wird minutengenau durchgeplant und der festgelegte Plan fast nie überschritten. Sie arbeitet tagsüber als Putzfrau im Haushalt von Madame Léger und abends als Kellnerin in einem Pariser Bistro. Im Haus von Madame Léger ist sie grundsätzlich allein; auch abends versucht sie, keinen Kontakt zu anderen Menschen aufzunehmen: „Ich kümmere mich nur um mich selbst.“ Das Gedränge und die Gerüche der Bistro-Gäste ekeln sie. Seit vielen Jahren lebt sie in Schweigen, spricht nur dann, wenn es notwendig ist, und liest stattdessen „Berge von Büchern“.

Ihre Nichtbeachtung der Welt macht sie selbst zum einzigen Zentrum des Interesses. Daher ist es nur konsequent, dass sie ihren Körper eingipst und versucht, die Falten und Formen zu konservieren, um sich sehen zu können. Topolina wird sich ihres Alters und ihrer noch immer vorhandenen Schönheit mithilfe des Gipsabdrucks bewusst. Konservierte Zustände und Bewegungen – wie die chronofotografischen Reihen Edward Muybridges („seine Fotos sind richtig lebendig“, sagt Topolina) – erscheinen ihr ohnehin als „das Lebendigste“, was es überhaupt gibt. Zwischenmenschlicher Kontakt stört nur. Denn: „Liebe ist eine riesige Lüge, ein Vorwand für den Alltag“, postuliert sie.

Doch all die Planung, die Nüchternheit und selbstgewählte Einsamkeit bilden nur eine dünne Haut um ihre Seele. Für Topolina ist diese Hülle existenziell wichtig, denn sonst werde das Chaos auf ihren Geist übergreifen. Eines Tages schreibt das Kind von Madame Léger, der vielleicht neun oder zehn Jahre alte Bastien, Topolina einen Brief. Sie antwortet, ein Briefwechsel beginnt und damit die langsame Erosion des Gleichgewichts. Topolina hat das Kind noch nie gesehen, sie versucht, es sich vorzustellen, findet eingerahmte Fotos, sucht auf Facebook, druckt Fotos aus, klebt und pinnt sie in ihrer eigenen Wohnung an die Wand, stiehlt sich einen Milchzahn und nähert sich dem Kind. Sie wartet auf den Jungen vor der Schule, obwohl sie weiß, dass die Begegnung schwer werden wird: „Mein eigenes Durcheinander reicht mir, ich habe genug Zeit gebraucht, um es in den Griff zu bekommen“, ärgert sie sich über sich selbst.

Auch Topolina „hatte ein Kind. Es ist lange her.“ Sie glaubt zwar, jeder Mensch vergisst jeden Tag – irgendwann. „Es ist eigentlich fast unmöglich, dass die Elemente eines Lebens, Tag für Tag, in einen einzigen Kopf hineinpassen“. Doch die Erinnerung an ihren Wutanfall und die Splitter eines mit einem Aschenbecher zerworfenen Spiegels, die ihren eigenen Sohn töteten, quält Topolina so sehr, dass ihr in den vergangenen Jahren kein normales Leben mehr möglich war und die Annäherung an Bastien Léger ihren Verstand auf eine harte Probe stellt.

Astrid Waliszek hat in ihrem Romandebüt Poesie und Psychoanalyse gepaart. Die Beobachtungen auch banaler Details ihrer Hauptfigur sowie die Regungen ihrer Seele sind mit solch faszinierender Finesse in Worte gefasst, dass der Leser tief in die Welt Topolinas eintaucht und in einem regelrecht rasenden Sprachstrudel gefangen wird. Der Leser lernt die Zwänge kennen, die Ängste und die Instabilität ihres Wesens. Unaufhaltsam gleitet die Handlung auf einen grausigen Höhepunkt zu, bis Topolina erschrocken überlegt: „Ich wusste nicht mehr, was ich mit dem Kind machen sollte, das mein Denken beherrschte. Es entführen?“ Ein unvermittelter Lachanfall Topolinas, Gedankenmonologe und kriminelle Träume bilden ein Kaleidoskop eines Menschen am Rande des Verlustes des Verstandes.

Topolina konzentriert sich daher manchmal während ihrer abendlichen Arbeit auf einzelne Gäste, die „anderen verschmelzen mit dem Hintergrund“. Wenn dann der Fokus ihres Interesses, beispielsweise eine junge Frau, Sandwichs bestellt und die getoastete Rinde einen Krümel am Rande ihrer Lippe hinterlässt, überlegt sie unruhig: „Ein Krümel ist wie ein unappetitlicher Auswuchs, wie eine Fliege, die sie nicht spürt“. Topolina wendet den Blick ab und versucht, jedem Gespräch mit den Gästen auszuweichen und nicht aufzufallen.

Der den Romantitel zierende Fisch des Jungen Bastien wird vom Kater gefressen, obwohl er ein Kämpfer war. Topolina ist eine einsame Kämpferin, deren Entbehrungen, Wünsche und Panik intensiver und zugleich sensibler nicht beschrieben werden könnten. In der Kunst findet Topolina eine Möglichkeit, sich auszudrücken und sie erinnert sich dabei an ihre Vergangenheit. Ob sie ihren Körper in Gips hüllt oder mit Kraft und „lange vergessenem Glücksgefühl“ Leinwände bemalt, das dunkle Gespenst des Wahnsinns scheint wie ein schwarzer Kater mit den Krallen nach ihr zu schlagen. Wird sie ihren Kampf gewinnen und bei klarem Verstand bleiben? Und welche Rolle spielt ein Freund aus der Vergangenheit, der in Topolina Verlangen und Lust wiedererweckt? Bis zuletzt ist der Ausgang des Romans ein Rätsel, auf dessen Auflösung der Leser giert. Die Antworten sollte jeder Leser selbst finden. Denn „Der Fisch ist ein einsamer Kämpfer“ ist ein grandioses Debüt, das gelesen werden will. Die Lektüre jeder Seite ist ein sprachlicher Genuss. Der gebannte Leser erlebt eine große emotionale Bandbreite von ängstlicher Gänsehaut bis großer Freude und schwindelerregender Umschwünge. Astrid Waliszek ist eine hervorragende Erzählerin.

Titelbild

Astrid Waliszek: Der Fisch ist ein einsamer Kämpfer. Roman.
Übersetzt aus dem Französischen von Claudia Steinitz.
Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2013.
174 Seiten, 19,99 EUR.
ISBN-13: 9783455403756

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