Von der Folterkammer über den Regenbogen zum Kriminalroman

Chilenische Prosa 40 Jahre nach dem Putsch

Von Martina KopfRSS-Newsfeed neuer Artikel von Martina Kopf

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Am 11. September 2013 jährt sich der Militärputsch Augusto Pinochets gegen den demokratisch gewählten, linksgerichteten Präsidenten Chiles, Salvador Allende, zum 40. Mal. Während der 17-jährigen brutalen Diktatur wurde Gewalt institutionalisiert. Das erste Dekret der Militärjunta lautete: Wer sich während der Ausgangssperre auf die Straße wagt, wird sofort erschossen. Tausende Menschen wurden Opfer der Diktatur, viele starben oder verschwanden. Es handelt sich hierbei um die desaparecidos, um die Vermissten. Die Leitung des nationalen Geheimdienstes, Dirección de Inteligencia Nacional (DINA), ging zur deklarierten „Verteidigung der christlichen Gesellschaft“ gegen eine „kommunistische Subversion“ vor. Eine große Zahl von linken Oppositionellen, darunter viele Autoren, flüchtete ins Exil. Antonio Skármeta zum Beispiel wählte erst Argentinien, dann Deutschland, Ariel Dorfman die USA, José Donoso lebte ebenfalls in den USA und in Spanien, Roberto Bolaño in Mexiko und Spanien. Erst ab 1983 entspannte sich die Lage langsam, viele Exilanten kehrten zurück und erst dann kam es zu ersten Demonstrationen.

Die meiste Zeit herrschte in Chile der Ausnahmezustand. Angst und Repression prägten den Alltag, die Einführung eines neoliberalen Wirtschaftssystems mit Hilfe einer Schocktherapie und einer neuen Verfassung, Zensur und Bücherverbrennung haben in Chile deutliche Spuren hinterlassen. Sorgte die sozialistische Regierung Allendes für eine kulturelle und intellektuelle Aufbruchsstimmung, so kam es mit dem Putsch zu einem „kulturellen Stromausfall“, einem apagón cultural. Direkt nach dem 11. September 1973 wurde der staatliche Verlag Quimantu, bis dahin ein kulturelles Symbol der Demokratisierung, von der Militärjunta besetzt und schließlich zerstört. Das war erst der Anfang für das Ende zahlreicher Verlage und Buchhandlungen.

Dieser apagón cultural versetzte sämtliche Künstler und Intellektuelle in einen lähmenden Zustand, wie ihn Roberto Bolaños Protagonist Sebastián in „Nocturno de Chile“ (2000), dem „Chilenischen Nachtstück“, beschreibt: „Ich versuchte, ein Gedicht zu schreiben. Erst kamen nur Jamben. Was danach mit mir geschah, weiß ich nicht. Meine Dichtung verfiel vom Engelhaften ins Dämonische. […] Es waren wutentbrannte Verse.“[1]

17 Jahre Diktatur sorgten für unterschiedliche politische Kontexte. Die Zeit der Diktatur lässt sich in zwei Phasen teilen, in eine „dictadura terrorista“ zwischen 1973 und 1980 und eine „dictadura constitucional“ zwischen 1980 und 1988/89.[2] Hinzu kommt das Leben im Exil, das das Schaffen der Autoren ebenso beeinflusste. Einen Roman, der nicht nur von Mächtigen und blinder Autorität handelt, sondern Zerstörung, Untergang und die Frage nach neuen Werten nach dem Verfall der alten thematisiert, schrieb José Donoso mit seiner Allegorie auf die Militärdiktatur in „Casa de Campo“ / „Das Landhaus“ (1978). Antonio Skármeta schuf mit „Soñé que la nieve ardía“ (1975) / „Ich träumte, der Schnee brennt“ einen Erinnerungsraum an die Volksfrontregierung unter Allende und thematisierte den traumatischen Zustand nach dem Putsch. Sein später im deutschen Exil entstandener bekanntester Roman „Ardiente paciencia“ (1985) / „Mit brennender Geduld“ betont die Bedeutung des Künstlers für die Überwindung der Diktatur.

Die Fokussierung auf den weiblichen Körper in Diamela Eltits hierzulande eher weniger bekannten Werken wie „Por la patria“ (1986) / „Für das Vaterland“ oder „El cuarto mundo“ (1988) / „Die vierte Welt“, die sich als Plädoyer für die Menschenrechte und als Dokumentation des Horrors der Militärhaft lesen, geht einher mit politischen Inhalten, so dass Regimekritik gleichzeitig eine Patriarchatskritik bedeutet.[3] Als zentrale Repräsentantin der nueva escena literaria läutet Eltit die zweite Phase der Diktatur ein, in welcher Oppositionelle erstmals Widerstand gegen das Miltär zum Ausdruck brachten.

Chile, vor der Diktatur dank der zwei Nobelpreisträger Gabriela Mistral und Pablo Neruda sowie dem „Anti-Poeten“ Nicanor Parra im Ausland vor allem bekannt als ein Land der großen Lyriker, rückte mit der Diktatur schließlich auch als Land der Erzähler ins Visier eines internationalen Lesepublikums. Dem Putsch ist es auch zu verdanken, dass die chilenische Literatur auf internationaler Ebene präsenter wurde als die Literaturen anderer lateinamerikanischer Länder. Isabel Allendes Bestseller sind hierfür ein Beispiel.

Der Putsch und seine Folgen haben ein Erbe hinterlassen, das auch nach der Rückkehr zur Demokratie 1990 auf der chilenischen Gesellschaft lastet. Zahlreiche Erinnerungsorte wie die Villa Grimaldi, in deren Keller sich der Folterkeller der DINA befand, das Denkmal für die desaparecidos auf dem cementerio general, oder das Nationalstadion, das während der Diktatur zu einem Konzentrationslager umgebaut wurde und heute in Erinnerung an den gefeierten und kurz nach dem Putsch ermordeten Protestsänger den Namen Victor Jara trägt, spielen in der Literatur nach der Diktatur, der literatura post-dictadura, eine zentrale Rolle. Problematisch ist vor allem, wie der in die USA exilierte Ariel Dorfman in seinem bekannten Theaterstück „Der Tod und das Mädchen“ / „Death and the Maiden“ (1991) zum Ausdruck bringt, dass die Chilenen ihre Mörder nicht vor Gericht bringen konnten und sie aus diesem Grund das Bedürfnis teilen, die Verbrechen während der Diktatur aufzuklären und nach Gerechtigkeit streben. Das Gefühl, dass die Mörder unter uns sind, erlebt Dorfmans Protagonistin Paulina, die ihren Folterer wiederzuerkennen glaubt. Mit diesem Hintergrund wird verständlich, warum die Todesursache Pablo Nerudas kürzlich wieder einmal angezweifelt wurde. Der chilenische Nationaldichter und Unterstützer Allendes, der nur wenige Tage nach dem Putsch starb, soll im Auftrag Pinochets ermordet worden sein.

Der Wunsch nach Aufklärung ist aus diesem Grund in der chilenischen Literatur des Übergangs beziehungsweise nach der Diktatur besonders präsent und findet Ausdruck im Entwurf eigentümlicher narrativer Strategien. So überrascht es nicht, dass einige Autoren sich für die Gattung des Kriminalromans, die novela negra, entscheiden.[4] Ramón Díaz Eterovic, dessen erster Roman „La ciudad está triste“ (1987) noch während der Diktatur erschien, schaffte mit seinem Anti-Helden, dem Detektiv Heredia, eine ganze Romanreihe, in der es darum geht, Verbrechen rund um die Diktatur aufzuklären. Auch der jüngste Roman von Roberto Ampuero „El último tango de Salvador Allende“ (2012) / „Der letzte Tango des Salvador Allende“ ist ein Detektivroman. Am Sterbebett seiner Tochter von ihr beauftragt, ihrem früheren chilenischen Geliebten ihre Asche zu überbringen, reist der ehemalige CIA-Agent David Kurtz vermutlich in den 90er-Jahren nach Chile, das er 1973 verlassen hat. Parallel dazu taucht der Leser in das Chile Anfang der 70er-Jahre ein, von dem Allendes Koch und Assistent Rufino erzählt. Vergangenheit und Gegenwart werden durch diese Verknüpfung zweier Erzählperspektiven miteinander verwebt und es kommt zu einem Moment der Aufklärung: Rufinos Sohn entpuppt sich als der gesuchte chilenische Geliebte von Kurtz’ Tochter. Die narrative Strategie, Vergangenheit und Gegenwart zu vereinen, und einen Verarbeitungsprozess anzukurbeln, scheint kein Einzelfall, sondern ein zentrales Anliegen der zeitgenössischen chilenischen Literatur zu sein. Viele Romane handeln von der Rückkehr der Exilierten in die chilenische Heimat, was automatisch eine Auseinandersetzung mit ihrer eigenen und der kollektiven chilenischen Vergangenheit bedeutet.

Dadurch, dass sich die zeitgenössischen chilenischen Autoren aus unterschiedlichen Generationen, aus Exilierten und Nicht-Exilierten, Heimgekehrten und Fortgebliebenen, zusammensetzen, entsteht nach der Diktatur eine Vielfalt an Themen und Schreibweisen. Doch wie Fernando Jerez 2002 erklärte, wurde das große Werk über die Diktatur immer noch nicht geschrieben.[5] Pinochet als Protagonist?  Diese Herausforderung des Diktatoren-Romans sei nach einem der bedeutendsten chilenischen Autoren der 90er-Jahre, Alberto Fuguet, schlicht zu groß. Die spanische Zeitung El País feierte jedoch den 2004 erschienenen Film „Machuca“ des chilenischen Regisseurs Andres Wood als „den großen Roman über die Diktatur“.

Allerdings zeigt ein Blick auf neuere Erscheinungen der chilenischen Literatur, dass Militärputsch und Diktatur keine abgeschlossenen Kapitel sind. Dies ist sowohl bei der älteren Generation chilenischer Autoren wie Antonio Skármeta (geboren 1940), Luis Sepúlveda (geboren 1949), Arturo Fontaine (geboren 1952), Carla Guelfenbein (geboren 1959) als auch bei der jüngeren Generation, die unter der Diktatur in den 70er und 80er Jahren aufgewachsen ist, äußerst präsent. Zu dieser jüngeren Generation zählen zum Beispiel Nona Fernández (geboren 1971) und Alejandro Zambra (geboren 1975). Ihre Werke sind vor allem Familiengeschichten, die von Erinnerungen, Wut, Schmerz, Tod, der Zerstörung der Familie, von Verbrechen und Verschwundenen handeln. Diese Romane der jüngeren Generation scheinen im sich verändernden politisch-kulturellen Kontext an Komplexität zu gewinnen, da sich verschiedene Diskurse kreuzen: Die Kollision des alten und neuen Regimes, traumatische Erfahrungen, die Frage nach einem verlorenen Paradies, Verlust und Existenzleere.

Nona Fernández verwandelt den durch Santiago fließenden Fluß Mapocho in ihrem gleichnamigen ersten Roman „Mapocho“ (2002) / „Die Toten im trüben Wasser des Mapocho“ in einen Strom aus Toten, in den sich die Protagonistin, Rucia, einreiht: „Jetzt treibt mein lebloser Körper dahin, über die Wellen des Mapocho. Mein offener Sarg schwimmt auf dem schmutzigen Wasser und umschifft Reifen, Äste, bewegt sich langsam vorwärts, mitten durch die ganze Stadt.“[6] Aus diesem Sarg heraus scheint die bereits tote Protagonistin ihre Geschichte zu erzählen: Wie der Vater abgeholt wurde und nur seine Schreibmaschine mitnahm, wie sie mit Mutter und Bruder Indio, zu dem sie ein inzestuöses Verhältnis hat, monatelang auf hoher See war und sie sich dann am Mittelmeer niederließen und schließlich ihre Rückkehr nach Santiago mit der Asche der Mutter auf der Suche nach Indio und ihrem alten Haus. Zwar hat sich die Stadt „wie eine Schlange […] ihrer alten Haut entledigt“[7], doch bedeutet die Rückkehr für Rucia vor allem eine Konfrontation mit der Vergangenheit. Während die Mutter stets den Ort mit den Kindern wechselte, sobald sie etwas an Santiago erinnerte, geht es ihrer Tochter nicht um ein Vergessen, sondern um ein Stück Aufklärung und Vergangenheitsbewältigung.

Der kaffeebraune Mapocho versinnbildlicht die Thematik des Verschwindens und des Wieder-Auftauchens. Auch in Luis Sepúlvedas Roman „La sombra de lo que fuimos“ (2009) / „Der Schatten dessen, was wir waren“ verwandelt sich eine Tasse Kaffee in den Mapocho: „Durch die Tasse trieben Leichen in dem dunklen Wasser des Rio Mapocho, tote Körper von Gewerkschaftsführern der eigenen Textilfabrik, die während der Ausgangssperre erschossen worden waren […].“[8] Symbolisiert der Fluss einerseits das Verschwinden, rebelliert er andererseits gegen ein Vergessen und sorgt für ein Aufklärungsmoment: Er lässt Tote wieder auftauchen.

Luis Sepúlvedas Roman, der von drei heimgekehrten Exilanten erzählt, thematisiert die Angst vor der eigenen Vergangenheit und den Schmerz nach der Diktatur, aber auch die Unwissenheit wie sie eine junge Polizistin zum Ausdruck bringt: „Ich hatte keine Ahnung, was das für ein Gebäude war, wusste nicht, dass dort Leute gefoltert und ermordet und zum Verschwinden gebracht worden waren. […] Es war eine schöne, zartgliedrige Frau, später erfuhr ich, dass sie Schriftstellerin war, und sie berichtete von den Schrecknissen und Leiden, die sie und die anderen Gefangenen durchgemacht hatten. Seltsam war, dass kein Groll in ihrer Stimme lag; Schmerz, ja, aber ein Schmerz frei von Hass; ein würdevoller Schmerz, etwas Wunderbares für mich, die ich während der Diktatur aufgewachsen bin und täglich Hasstiraden hören musste.“[9] Bei dem Gebäude handelt es sich um die Folterkammer des chilenischen Geheimdienstes, die Villa Grimaldi, die bereits Roberto Bolaño in seinem „Chilenischem Nachtstück“ (2000) verarbeitet hat. Dort lässt Bolaño seinen Protagonisten Sebastián berichten, wie sich bei einer literarischen Abendgesellschaft in der Villa Grimaldi ein Gast im Keller verirrt und Zeuge eines Folterprozesses wird. Intellektuelles Geplänkel und die Marter scheinen nur eine Handbreit voneinander entfernt zu sein. Während man oben bei Whisky über Literatur diskutiert, wird unten gefoltert.

Von schweigenden Eltern und aufklärenden Kindern handelt auch Alejandro Zambras Roman „Formas de volver a casa“ (2011) / „Die Erfindung der Kindheit“. Der Erzähler inszeniert sich als Aufklärer, indem er seine scheinbar behütete Kindheit in einem politisch neutralen Elternhaus in einer Kommune Santiagos, Maipú, als Anti-Idylle entlarvt. Die Beschäftigung mit der Kindheit während der Diktatur bedeutet die Überwindung der Unwissenheit hin zu einem Moment der Aufklärung und des Erkennens: „Pinochet war für mich bloß ein Fernsehonkel mit einer Sendung ohne festen Programmplatz, und deshalb hasste ich ihn, denn seinetwegen unterbrachen die langweiligen Staatssender oft im schönsten Moment ihr Programm. Später hasste ich ihn als Scheißkerl, als Mörder, aber damals hasste ich ihn nur wegen dieser ungelegenen Shows, die mein Vater ansah, ohne ein Wort zu sagen.“[10] Erst die Wieder-Begegnung mit Claudia, einem Mädchen aus der Nachbarschaft, Jahre später, lässt den Protagonisten erkennen, dass sein Nachbar Raúl eigentlich Roberto war, ein Allende-Anhänger und außerdem Claudias Vater. Es ist also die jüngere Generation, die das Schweigen der Eltern durch einen Aufklärungsprozess ersetzt.

In Antonio Skármetas Roman „Los días del arcoíris“ (2011) / „Die Tage des Regenbogens“ geht es um das Plebiszit, das Pinochet 1988 auf internationalen Druck durchführen ließ. Mit dem „Si!“ stimmte die Mehrheit für eine freie Wahl, bei der im Dezember 1989 der Kandidat der Concertación de Partidos por el No (Die Koalition der Parteien für das No), Patricio Aylwin, gewann. Um Pinochet demokratisch vor der ganzen Welt zu legitimieren, beschloss die Regierung der Opposition im Fernsehen Werbung für das „No!“ einzuräumen. Skármetas Roman, der 2011 mit dem Preis Planeta Casa América ausgezeichnet wurde, erzählt von den Vorbereitungen für das Plebiszit, das die Redemokratisierung einleitete und somit ein Schlüsselereignis in der chilenischen Geschichte darstellt. Der links orientierte Werbefachmann Bettini, der dank des Slogans für ein bittersüßes Erfrischungsgetränk als Star in der chilenischen Werbebranche gilt, wird vom Ministerium gebeten, die Ja!-Kampagne zu übernehmen, bleibt sich aber treu und übernimmt die No!-Kampagne. Dieses Unternehmen erweist sich als Herausforderung, da viele Chilenen wie Bettinis Tochter Patricia die Hoffnung aufgegeben haben. Bettinis moralische Haltung sei naiv: „Weil Pinochet tricksen wird. Kein Diktator veranstaltet ein Plebiszit, um es zu verlieren. Weil die Politiker hinter dem ‚Nein‘ ein Sack Flöhe sind, sie haben kein Konzept, wie sie das Land führen würden, falls sie gewinnen. Weil ich davon überzeugt bin, dass es für dieses Land keinen Ausweg gibt. Ich glaube nicht, dass man mit Zetteln, die man in eine Urne wirft, eine Militärdiktatur erschüttern kann.“[11]

Skarmétas Roman erinnert an Pablo Larraíns Film „¡No!“ (2012), der im Frühjahr in die deutschen Kinos kam. Tatsächlich basiert „¡No!“ auf dem Theaterstück „El plebiscito“ von Skármeta, das niemals aufgeführt wurde, stattdessen aber in den Roman „Die Tage des Regenbogens“ umgewandelt wurde, dessen Titel auf das Regenbogenmotiv der No!-Kampagne anspielt.

Die Frage, ob es den chilenischen Roman über die Diktatur 40 Jahre nach dem Putsch gibt oder geben wird, ist zu simpel. Die chilenische Literatur gleicht dem kaffeebraunen und manchmal reißenden Strom des Mapocho: Putsch und Diktatur sind Ereignisse, die sich nicht einmalig in einem großen Diktatorenroman verarbeiten lassen, sondern als Bestandteile des chilenischen kollektiven Gedächtnisses immer wieder bruchstückhaft und konfiguriert an die Oberfläche der zeitgenössischen chilenischen Literatur gespült werden. Wie der Schriftsteller Arturo Fontaine feststellt, geht es bei dem Verhältnis von Literatur und Diktatur darum, „bestimmte Perspektiven einzunehmen und einzelne Aspekte zu beleuchten.“[12] Letztendlich tragen die Werke in ihrer Gesamtheit zu einer Bewältigung des Erbes der Diktatur bei und stellen die nationale Identität kritisch in Frage. Das geschieht im zeitgenössischen chilenischen Roman auf eine postmoderne Weise: Fragmentarisch und oft multiperspektivisch oder zweisträngig angelegt, brechen Autoren mit einer absolutistischen Ideologie im philosophischen, politischen und literarischen Bereich. Dies kann auch bedeuten, die Perspektive der Täter einzunehmen, wie Arturo Fontaine, der in „La vida doble“ (2011) die Geschichte einer linken Aktivistin erzählt, die auf die andere Seite wechselt.

Nach der Diktatur und über die Diktatur zu schreiben, bedeutet oft auch verborgen darüber zu schreiben, so wie die Vergangenheit verborgen und doch zugleich präsent im kollektiven Gedächtnis ruht. Erst beim Lösen eines Kreuzworträtsels wie in Sepúlvedas Roman wird ein Strom der Erinnerung ausgelöst: „Warum fragen sie eigentlich nie nach ein bisschen Intelligenz erfordernden Wörtern, die etwas mit uns zu tun haben? Zum Beispiel: Konzentrationslager, in das du, wenn sie dich nachts rausholen, nie wieder zurückkehrst, zehn Buchstaben. Puchuncaví. Was du empfindest, wenn deine Alten dich im Gefängnis besuchen und dir sagen, deinen Bruder Juan hätte man erschossen auf einer Müllkippe gefunden, sechs Buchstaben. Trauer. Was du empfindest, wenn du ein Loch gräbst und auf drei Skelette stößt, deren Hände mit Draht auf den Rücken gebunden sind und von denen eines die Schuhe deines Bruders Alberto trägt, drei Buchstaben. Wut.”[13]

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Literatur

Dorfman, Ariel: Den Terror bezwingen. Der lange Schatten General Pinochets. Aus dem Englischen von Ulrike Borchardt. Hamburg 2003.

Franken K., Clemens A.: La novela negra argentina y chilena de (pos-)dictadura. In: Taller de letras Nr. 49 (2011), S. 97-107. http://www7.uc.cl/letras/html/6_publicaciones/pdf_revistas/taller/tl49/letras49_novela_clemens_franken.pdf

Kohut, Karl; Morales Saravia, José: Literatura chilena hoy. La difícil transición. Frankfurt/Madrid 2002.

Lillo C., Mario: La novela de la dictadura en Chile. In: ALPHA Nr. 29 (Diciembre 2009), S. 41-54. http://www.scielo.cl/pdf/alpha/n29/art04.pdf

„Die Menschen begannen wieder Romane zu lesen, Romane die,hausgemacht’ waren“. Interview mit dem Schriftsteller Arturo Fontaine Talavera, einem der bedeutendsten Vertreter der nueva narrativa chilena. Lateinamerika Nachrichten Ausgabe 378 – Dezember 2005. http://www.lateinamerikanachrichten.de/?/print/722.html

[1] Bolaño, Roberto: Chilenisches Nachtstück. Aus dem Spanischen von Heinrich von Berenberg. München 2007, S. 105-106.

[2] Vgl. Kohut, Karl: Generaciones y semblanzas en la literatura chilena actual. In: Kohut, Karl; Morales Saravia (Hgg.): Literatura chilena hoy. La difícil transición, Frankfurt/Madrid 2002, S. 9-34, hier S. 11.

[3] Vgl. Pfeiffer, Erna: Reflexiones sobre la literatura femenina chilena. In: Kohut, Karl; Morales Saravia (Hgg.): Literatura chilena hoy. La difícil transición. Frankfurt/Madrid 2002, S. 67-77, hier S. 71.

[4] Vgl. Franken K., Clemens A.: La novela negra argentina y chilena de (pos-)dictadura. In: Taller de letras Nr. 49 (2011), S. 97-107.

[5] Jerez, Fernando: Generación del 60: escribir en dictadura. In:  Kohut, Karl; Morales Saravia, José: Literatura chilena hoy. La difícil transición. Frankfurt/Madrid 2002, S. 101-116, hier S. 109.

[6] Fernández, Nona: Die Toten im trüben Wasser des Mapocho. Aus dem chilenischen Spanisch von Anna Gentz.  Wien 2012, S. 7.

[7] Fernández, Nona: Die Toten im trüben Wasser des Mapocho. Aus dem chilenischen Spanisch von Anna Gentz.  Wien 2012, S. 13.

[8] Sepúlveda, Luis: Der Schatten dessen, was wir waren. Aus dem Spanischen von Willi Zurbrüggen. Zürich 2011, S. 80.

[9] Sepúlveda, Luis: Der Schatten dessen, was wir waren. Aus dem Spanischen von Willi Zurbrüggen. Zürich 2011, S. 146.

[10] Zambra, Alejandro: Die Erfindung der Kindheit. Aus dem Spanischen von Susanne Lange. Berlin 2013, S. 18.

[11] Skarméta, Antonio: Die Tage des Regenbogens. Aus dem chilenischen Spanisch von Stefanie Gerhold. Berlin 2013, S. 58.

[12] „Die Menschen begannen wieder Romane zu lesen, Romane die ,hausgemacht‘ waren“.

Interview mit dem Schriftsteller Arturo Fontaine Talavera, einem der bedeutendsten Vertreter der nueva narrativa chilena. Lateinamerika Nachrichten Ausgabe 378 – Dezember 2005. http://www.lateinamerikanachrichten.de/?/print/722.html > [12] „Die Menschen begannen wieder Romane zu lesen, Romane die ,hausgemacht‘ waren“. Interview mit dem Schriftsteller Arturo Fontaine Talavera, einem der bedeutendsten Vertreter der nueva narrativa chilena. Lateinamerika Nachrichten Ausgabe 378 – Dezember 2005. http://www.lateinamerikanachrichten.de/?/print/722.html

[13] Sepúlveda, Luis: Der Schatten dessen, was wir waren. Aus dem Spanischen von Willi Zurbrüggen. Zürich 2011, S. 28.

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Roberto Bolaño: Chilenisches Nachtstück. Roman.
Übersetzt aus dem Spanischen von Heinrich von Berenberg.
Carl Hanser Verlag, München 2007.
160 Seiten, 17,90 EUR.
ISBN-13: 9783446208223

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Luis Sepúlveda: Der Schatten dessen, was wir waren.
Übersetzt aus dem Spanischen von Willi Zurbrüggen.
Rotpunktverlag, Zürich 2011.
160 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783858694553

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Alejandro Zambra: Die Erfindung der Kindheit. Roman.
Übersetzt aus dem chilenischen Spanisch von Susanne Lange.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2012.
167 Seiten, 18,95 EUR.
ISBN-13: 9783518423349

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Nona Fernández: Die Toten im trüben Wasser des Mapocho. Roman.
Übersetzt aus dem chilenischen Spanisch von Anna Gentz.
Septime Verlag, Wien 2012.
264 Seiten, 20,90 EUR.
ISBN-13: 9783902711090

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Robert Ampuero: Der letzte Tango des Salvador Allende. Roman.
Übersetzt aus dem Englischen von Carsten Regling.
Berlin Verlag, Berlin 2013.
445 Seiten, 18,99 EUR.
ISBN-13: 9783827011107

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Antonio Skármeta: Die Tage des Regenbogens. Roman.
Übersetzt aus dem chilenischen Spanisch von Antonio Skarmeta.
Graf Verlag, München 2013.
247 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783862200306

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