Sprachlos

Über Yang Jishengs „Grabstein – Mùbei. Die große chinesische Hungerkatastrophe 1958 bis 1962“

Von Roman HalfmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Roman Halfmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Historie ist wohl bekannt: Zwischen 1958 und 1962 versucht die Kommunistische Partei Chinas unter Führung Mao Zedongs mit dem so genannten Großen Sprung die industrielle Entwicklung voranzutreiben. Um die Arbeiter als eigentliche Träger des Fortschritts in den Städten ernähren zu können, sind nach Meinung der Politiker tiefgreifende Änderungen auf dem Land vonnöten. Aus diesem Grunde werden die Bauern zu Kollektiven zusammengefügt und mit einer Gemeinschaftsküche versehen, die kostenloses Essen verspricht. Dafür werden die Bauern gezwungen, ihr Land sowie ihre Arbeitskraft an das Kollektiv abzugeben und sich also dem jeweiligen Führer des Kollektivs unterzuordnen, sowie ihre Küchen in den Wohnhäusern abzubauen: Privat darf von nun an nicht mehr gekocht werden, alles muss innerhalb der Gemeinschaft ablaufen.

Die Folge sind etwa 36 Millionen Tote, eine in den Grundfesten erschütterte Bevölkerung und – kein Machtwechsel sowie keinerlei Aufarbeitung, bis heute nicht. Weshalb es nicht wundert, dass auch dies hier vorliegende Werk, eine umfassende Darstellung eben jener Jahre, gleich nach Erscheinen in China verboten wurde.

Nun ist es ja aus zweierlei Gründen schwierig, ein derart angelegtes Werk zu beurteilen: Zuerst einmal sind die hier verhandelten und oftmals in grausamen Details dargestellten Ereignisse grundsätzlich entsetzlich und daher kaum mit gewöhnlichen Maßstäben zu bewerten. Ist das Werk zu grausam, zu detailliert und deshalb notgedrungen auch zu schockierend? Ja, die hier beschriebenen Geschehnisse sind furchtbar, reichen vom Kannibalismus über Folter bis hin zum systematisch betriebenen Völkermord: ganze Landstriche sind damals entvölkert worden, und in den Gassen der Dörfer lagen die Verhungerten; Bäume waren abgenagt, die mineralreiche Erde aufgegessen. Man kann sich das nicht vorstellen, und doch werden in diesem Werk die Bilder lebendig. Und nochmals ja, Yan Jisheng verliert oftmals den Überblick, reiht Statistik an Statistik, wiederholt immer wieder gewisse Zahlen und verliert sich selbst im Gewirr der gesammelten Fakten, die er als Journalist für die Presseagentur der chinesischen Regierung und infolge vieler Ortsbesichtigungen in jahrzehntelanger Arbeit recherchierte. Vor allem im Umgang mit diesen Daten merkt man ihm den Schock an, der seine Arbeit sicherlich über den gesamten Zeitraum hinweg begleitete, motivierte und zugleich hat verzweifeln lassen.

Doch wie sonst soll man solch einer von Menschenhand gemachten Katastrophe begegnen? Und erwartet man tatsächlich beim Kauf eines derart betitelten Buches ein sorgsam verfasstes, mit sachlichen Thesen gespicktes Buch und also eine angenehme, nur hin und wieder gruselige Lektüre? Denn der Autor gibt natürlich vollumfänglich der Regierung die Schuld – und wird hier auch geradezu notwendigerweise polemisch: Mao habe die Direktiven ausgegeben und zugleich Fleischklöpse in sich hinein gestopft. Ausgewogen ist dies alles also nicht, aber hat man das Buch gelesen, ist von einer solchen Ausgewogenheit auch bei einem selbst keine Rede mehr.

Zweitens fällt es schwer, die vor allem in jüngster Zeit in Deutschland veröffentlichten Werke chinesischer Forscher und Literaten zu würdigen, die eigentlich für ihr eigenes Volk schreiben und die Auslandsveröffentlichungen als Notlösung ansehen, welche zwar die enorme Arbeit würdigt, aber das grundlegende Motiv des Schreibens letztlich verfehlt. Auch Yan Jisheng richtet diesen Wust an Zahlen, Beschreibungen und Polemiken an sein Volk – um die dringend nötige Aufarbeitung anzuregen, deren Ausbleiben die chinesische Kultur bis heute lähmt. So ist die Polemik als Provokation zu verstehen und wird zu einer innerchinesischen Angelegenheit.

Und zu einer persönlichen: Yan Jisheng hat das Werk als Grabstein seinem Vater gewidmet, der während des Großen Sprungs verhungerte.

Titelbild

Yang Jisheng: Grabstein - Mùbei. Eine Dokumentation der großen chinesischen Hungerkatastrophe 1958-1962.
Übersetzt aus dem Chinesischen von Hans Peter Hoffmann.
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2012.
800 Seiten, 28,00 EUR.
ISBN-13: 9783100800237

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch