Eine Stadt sucht eine Stimme

Sylwia Chutniks Debüt „Weibskram“ vermisst erzählerisch den Alltag der polnischen Hauptstadt

Von Alexandra SauterRSS-Newsfeed neuer Artikel von Alexandra Sauter

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Warschau ist weiblich im Polnischen, Warszawa, und suchen die Menschen ein Bild, das zusammenfasst, was der Stadt widerfahren ist, Besatzung, zwei blutige Aufstände, die fast vollständige Zerstörung, so sprechen manche vom „vergewaltigten Warschau“, Warszawa zgwałcona. Am heutigen Warschau scheiden sich die Geister. Die einen verdammen es, mehr oder minder überlegt, in kurzen Worten. Andere sehen in Warschau Polens Chance auf eine Metropole, auf internationalen Glanz und Geltung. Dazwischen die vielen Schweigenden, die in und durch Warschau ihr Auskommen haben.

Literatur kann Klarheit in das immer noch spürbare Trauma dieser Stadt bringen. Ende der 1990er-Jahre zeigte Andrzej Stasiuks sensibler Roman „Neun“ Menschen, orientierungslos driftend auf dem plötzlich entfesselten freien Markt, die sich in alle Richtungen durch Warschaus Straßen bewegen, ohne voranzukommen. Das heutige Warschau, das die Transformation zumindest offiziell hinter sich hat, ist Bühne eines in Polen vielbeachteten Romans der Gegenwart. Sylwia Chutniks Debüt „Weibskram“ erschien 2008, die junge Autorin erhielt in der Heimat Lob und Auszeichnungen. Weitgehend unbeachtet erschien 2012 die deutsche Übersetzung im kleinen Berliner Vliegen Verlag, der polnische Kultur in Deutschland vermitteln möchte.

„Taschenatlas der Frauen“: Der Originaltitel enthält den Schlüssel zur literarischen Form. In vier Kapiteln vermisst Chutniks Roman Warschauer Alltag, am Beispiel polnischen Frauenlebens, und folgt dabei der Kartografie im Bemühen um Ausgewogenheit und Verhältnismäßigkeit. Jede Figur entstammt einer anderen Generation, jedes Kapitel zeigt einen typischen Ort polnischen Alltagslebens: den Markt, das öffentliche Ärztehaus, die Kneipe, die Behörde. Die Erzählungen berühren sich, alle Figuren entstammen demselben Mietshaus. Einstimmig streben sie einer Aussage zu: Unmenschlich ist Warschau, voll liebloser Beziehungen bis in die Familie hinein, voller Tabus und Vorurteile, vom Antisemitismus bis zur Homophobie, voll von Geplapper, Geläster und Egoismus, polnische „Solidarität“ ade. Solch energische Kritik gründet auf Anteilnahme, und Empathie ist die Kehrseite des ironischen Grundtons.

Die „Schwarze Mańka“, Protagonistin des ersten Kapitels, wird schroff von der Mutter zurückgewiesen, als sie im Pennerleben angekommen ist. Dem Verstoß voraus gehen eine Jugend, in der sie zwar lernt, die Wohnung bis in den kleinsten Winkel akribisch zu putzen, ihr die Winkel ihres eigenen Körpers aber verborgen bleiben. Eine Erziehung, in der sie auf den Lebenserwerb auf dem „bazar“, dem polnischen Markt, vorbereitet wird, wo sie vor allem den Frauen lauscht, die Handel treibend Mann und Leben verfluchen: „Der Markt ist ein Gotteshaus, das einzige im Land, in dem Frauen Priesterinnen sein dürfen, wo sie gleichberechtigt neben den Männern die Ware auswählen, wo sie kommentieren und beobachten. Hierher, an diese einzigartige Underground-Universität, kommt man täglich.“ Mańka besteht das Examen an dieser Underground-Universität nicht, scheidet erfolglos aus dem kaltschnäuzigen Wechsel von Waren und Worten aus. Nachdem ihr Mann Darek sie verlässt – er hat Mańkas Freundin Tereska geschwängert –, bricht zusammen, was nie stabil war, Mańkas Selbstwahrnehmung. Der Alkohol betäubt manches, doch weiterhin brodelt in Mańka ein Wunsch, für dessen Artikulation ihr selbst die Worte fehlen: der Wunsch nach Achtung.

Mańkas Nachbarn sind die alte Bibliothekarin Maria und der Konditor Marian. In Marias Gelenken sitzt der Warschauer Aufstand, in dem sie nach der Flucht aus dem jüdischen Ghetto als junge Meldegängerin gekämpft hat. Mutter und Vater hat sie im Krieg verloren, Grausamkeiten gesehen, die für eine Ewigkeit reichen. Traumatisiert wählt sie ein Leben in Einsamkeit und versucht, ihre jüdische Identität zu verheimlichen. Während Mańkas und Marias Schicksale von boshaften Kommentaren begleitet werden, umgibt den hilfsbereiten Marian ein Stimmengewirre wohlwollender Distanz. Das Wohlwollen hält fern, was das Fassungsvermögen der Nachbarn und Bekannten übersteigt – dass mit Marian, diesem feinen Mann mittleren Alters, ein Homosexueller unter ihnen leben könnte. Der Blick in Marians Privatsphäre gibt eine Wahrheit frei, die für die meisten noch schwerer zu ertragen wäre: Marian ist transsexuell.

Sylwia Chutnik meint es ernst mit ihrer Kritik an der polnischen Gesellschaft: an einer Erziehung, die Frauen wenig Selbstachtung vermittelt, weil sie immer noch der aufopferungsvollen „Matka Polka“, der Mutter Polens, huldigt; an einem Weltbild, das immer noch alles, was vom Mythos der reinen polnischen katholischen Familie abweicht, verdammt. Ihr Text verdichtet den Alltag: Neben visuellen Beobachtungen ist es vor allem die Sprache, Gesprächsfetzen, Liedtexte, Gedichte und Gebete, die er aufsaugt, kreativ weiterspinnt oder unerbittlich zerlegt. Erzähler- und Figurentext gehen fließend ineinander über. Ironie und Sprachwitz verschonen nicht die gedemütigten Figuren und verhindern den Absturz in eine nüchtern realistische Darstellung. Einzig in der Maria-Geschichte stößt Chutniks engagierte und überzeichnende Erzählweise an ihre Grenze, hört auf Literatur zu sein. Das Kapitel ähnelt über lange Abschnitte einer Reportage, reicht detailliert Fakten zum Warschauer Aufstand nach, und man meint, die Autorin lauschend und dokumentierend mit Maria am Küchentisch zu sehen.

Gewiss, das ist feministische Literatur, manchen deutschen Leser mag das irritieren oder gar langweilen. Doch in Polen ticken manche Uhren anders. Emanzipatorische Bewegungen werden vor allem in den letzten Jahren stärker, die Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte und nationalen Identität dauert an, ist mitunter spannungsreich und wird zugleich differenzierter und mutiger. Chutniks Text ist ein Zeitroman – die letztjährige Diskussion um die Autobiographie Danuta Wałęsas, der Gattin des Friedensnobelpreisträgers und ersten Staatspräsidenten, verdeutlicht das: Da suchte eine Frau, die ihr Leben still im Schatten ihres Mannes verbracht hat, ein Organ, um dieses Leben mitzuteilen, und bekannte sich dabei mutig zu einer jahrelangen Einsamkeit als Mutter einer kinderreichen Familie. Die polnischen Medien verstanden sie, ihr Mann weniger: Hätte er geahnt, was da in seiner Küche entstehe, er hätte es gelesen und eine Veröffentlichung verhindert, so Wałęsa öffentlich.

„Weibskram“ zeigt nicht die ganze, doch eine Wahrheit über Polen. Darin mag der Grund liegen, wieso der Text nur schwer Beachtung außerhalb Polens findet. Polnische Literatur – wie überdies nicht wenige Filme – ist mitunter voraussetzungsreich, enthält zahlreiche Anspielungen auf polnische Realität und polnisches Kulturgut, die sich oft nur Kennern des Landes erschließen. Ein Glossar am Ende der deutschen Ausgabe kommt den Lesern erklärend entgegen.

Polnische Realia und Frauenschicksale sind die Oberfläche. Darunter sehen wir Menschen, die keine Vorstellung und kein Vokabular besitzen für ihre Sehnsüchte, Ängste, Erinnerungen. Ihre auferzwungene Stummheit sucht verzweifelt ein Ventil. Die 11-jährige Marysia im letzten und neben der Mańka-Geschichte literarischsten Kapitel ahnt, was die Erziehung mit ihr machen möchte, und wählt früh die Verweigerung. Sie will kein braves Mädchen sein und zieht nachts zerstörerisch durch Warschau. Fantastisch mutet das an und in der Fantasie liegt die Hoffnung: „Ich werde kein Opfer sein“, sagt sich Marysia, nachdem sie den Markt in Feuer gelegt hat, geht nach Hause und wartet ab, was der Morgen ihr bringt.

Titelbild

Sylwia Chutnik: Weibskram.
Übersetzt aus dem Polnischen von Antje Ritter-Jasinska.
Vliegen Verlag, Berlin 2012.
192 Seiten, 12,90 EUR.
ISBN-13: 9783981339222

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