Scharfzüngiger Täterschutz

Ein von Marion Bayerl, Verena Gutsche, Bea Klüsener herausgegebener Tagungsband beleuchtet die vielfältigen Aspekte der Trias „Gender – Recht – Gerechtigkeit“

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Mann im höchsten Amte dieses Landes, von dem gerne gesagt wird, es sei das unsere, drückt, wenn es um das Thema sexuelle Belästigung im Job geht, bekanntlich gerne mal ein Auge zu. Nein, eigentlich schließt er sie am liebsten sogar beide ganz fest und erklärt sodann, er könne „keine flächendeckende Fehlhaltung von Männern gegenüber Frauen erkennen“. Mag sein Blick auch nicht sonderlich scharf sein, so doch seine Zunge. Die erfindet etwa flugs den abschätzigen Ausdruck des „Tugendfurors“, um ihn Frauen an den Hals zu hängen, die dagegen aufschreien, wenn Männer nicht zwischen einem Flirt und einer sexistischen Anmache unterscheiden können oder mögen. Und das ist keineswegs so selten der Fall, wie der Herr Bundespräsident seinem Volk glauben machen möchte. Tatsächlich besagen wissenschaftliche Untersuchungen, dass hierzulande nicht weniger als 72 % der Frauen ein- oder sogar mehrmals an ihrem Arbeitsplatz sexuell belästigt wurden. Wenn er, der Herr Gauck, gewollt hätte, hätte er das bereits 2005 als Pfarrer in Petra Messingers Studie über „Sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz“ nachlesen können.

Nun hat der Mann seine zweite Chance bekommen. Denn Christine Zimmermann ist in dem von Marion Bayerl, Verena Gutsche, Bea Klüsener Herausgegebenen Sammelband „Gender –Recht – Gerechtigkeit“ mit einem Aufsatz über „Stress am Arbeitsplatz durch sexuelle Belästigung“ vertreten, der unter anderem auf Messingers Untersuchung rekurriert.

Dabei verrät Zimmermanns Untersuchung mehr als die blanken Zahlen, die alleine schon ebenso blankes Entsetzen hervorrufen können. Zunächst zu den Tätern, die tatsächlich fast ausnahmslos Männer sind, so dass sich hier mit Fug und Recht zum Maskulinum greifen lässt. Diese männlichen Täter also sind langjährige Betriebsangehörige und in der in der Mehrheit zwischen 30 und 50 Jahre alt. Ihre Motive dafür, Kolleginnen sexuell zu belästigen, liegen Zimmermann zufolge in dem Verlangen, Macht über sie auszuüben. Die Autorin spezifiziert dies dahingehend, dass es ihnen darum geht, ihre Macht „zur Erlangung von sexuellen Gefälligkeiten“ zu missbrauchen. Damit schließt sich der Kreis. Die sexuellen Übergriffe dienen dem Ziel, vermittelt über das durch sie ausgedrückte wie auch hergestellte Machtgefälle, sexuelle ‚Gefälligkeiten‘ zu erzwingen. Darüber hinaus kommt der sexuellen Belästigung von Kolleginnen noch eine zweite allgemeinpatriarchalische Funktion zu: „Sexual harrasment is a way to express and reconfirm the publican private position of hegemonic masculinity within a heterosexualized gender order“, zitiert Zimmermann Eva Witowska. Mit ihren sexuellen Belästigungen „zementieren“ die Männer traditionelle Geschlechterrollen, indem sie „Abweichungen sanktioniert“. Denn sie belästigen vor allem Frauen, die sich den herkömmlichen Weiblichkeitsvorstellungen nicht andienen.

Damit ist bereits zweierlei über die Opfer sexueller Belästigungen am Arbeitsplatz gesagt: Sie sind fast ausnahmslos weiblich und sie brechen mit den traditionellen Geschlechterrollen. Außerdem sind sie meist relativ neu im Betrieb und wesentlich jünger als die Täter, nämlich etwa Mitte zwanzig.

Meist reagieren Frauen auf sexuelle Übergriffe defensiv: Sie ignorieren das Verhalten des Belästigers, gehen ihm „aus dem Weg“, oder flüchten in einen „scherzhaften Umgang“ mit ihm. Doch eignen sich diese Reaktionen keineswegs dazu, die Belästigungen zu beenden. „Größere Chancen“ haben Zimmermann zufolge aktive und offensive Verhaltensweisen wie etwa, „den Belästiger zur Rede stellen“ und anzukündigen, „die Tat weiterzuerzählen, einen Anwalt einzuschalten oder sich das nächste Mal körperlich zur Wehr zu setzen“. Die meisten der Frauen, die sich trauen, eine solche offensive Strategie zu wählen, schrecken letztlich aber doch davor zurück, ihre Ankündigungen wahr zu machen, da sie zu Recht fürchten, dass man ihnen nicht glauben wird. So muss Zimmermann das denkbar negative Fazit ziehen, dass sich belästigte Frauen in einer lose/lose-Situation gefangen finden: „Dulden Frauen sexuelle Belästigung, werden sie weiter belästigt; beschweren sie sich, so besteht die Gefahr einer Vielzahl negativer Folgereaktionen.“ Dies erklärt, warum die meisten einschlägigen Gerichtsverfahren nicht etwa von belästigten Frauen initiiert werden, sondern von den Belästigern. Dann geht es nicht um die Rechte und den Schutz des Opfers, sondern um den Kündigungsschutz des Täters. Dabei ist sexuelle Belästigung alles andere als ein ‚Kavaliersdelikt‘, sondern kann zu einer „schwerwiegenden Bedrohung der psychosomatischen Gesundheit“ der betroffenen Frauen werden.

Der Sammelband, in dem sich Christine Zimmermanns lesenswerte Untersuchung zu dem leider seit Jahren und Jahrzehnten unverändert brennend aktuellen Thema der sexuellen Belästigung befindet, ist aus einer im Sommer 2011 an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt veranstalteten Ringvorlesung zum Thema „Weibsbilder – Mannsbilder in Geschichte, Kultur und Medien“ hervorgegangen. Die Beiträge des Buches nähern sich ihm auf vielfältige Weise.

Luise F. Pusch etwa glänzt mit einer ihrer Glossen zu „Frauen, Sprache und Gerechtigkeit“. Flora Nieß legt die „Angst vor der Weiblichkeit“ am Beispiel der Figuren der Femme fatal in den Romanen „Nana“ und „L’Oeuvre“ von Émile Zola offen. Sourou Dieudonné Agléwé klärt die Lesenden über „das weibliche Rollenverständnis im oraltradierten beninischen Märchen“ auf. Iris Winkler rückt „unerhörte Frauen in der Musik“ ins Licht. Barbara Oettl vergleicht Marcel Duchamps „Étant donnés: 1° la chute d’eau, 2° le gaz d’éclairage als „Bilder einer Vergewaltigung“ und Ana Mendietas fotografisch dokumentierte Kunstaktion „Rape Scene“ und erhellt die sich in den Werken ausdrückende „geschlechtsspezifische Sichtweisen“ der KünstlerInnen. Bea Klüsener befasst sich mit der „weibliche[n] Kriminelle[n] im viktorianischen Vampirroman“ und entdeckt in Sheridan Le Fanus 1871/72 als Fortsetzungsgeschichte erschienener Gothic Novel „Carmilla“ sowohl Bezüge zu den „Theorien der ungehorsamen Frau“ in Schriften der Psychiater Henry Maudsley und – weit überraschender – in Cesare Lombrosos erst in den 1890er-Jahren publizierten Thesen über „das Weib als Verbrecherin und Prostituierte“.

Verena Gutsche blickt ebenfalls zurück auf die vorletzte Jahrhundertwende und beleuchtet den „Antifeminismus als Element des kulturpessimistischen Diskurses zu Beginn des 20. Jahrhunderts“. Friedrich Nietzsche und Otto Weininger macht sie als „Wegbereiter“ aus, „die die philosophische Grundlage für den Antifeminismus zu Beginn des 20. Jahrhunderts gelegt hatten“, wobei sie Nietzsches philosophische Versuche nicht unzutreffend als „geradezu eklektizistisch“ apostrophiert. Auf nicht ganz so uneingeschränkte Zustimmung darf sie rechnen, wenn sie konstatiert, dass Weininger „nach dem Prinzip des bipolaren Geschlechtermodells die Menschheit in zwei unterschiedliche Klassen einteilte: in männliche Individuen, die bis zum Genie aufsteigen können, und die von Sexualität besessenen Frauen“. Denn sie vernachlässigt, dass Weininger ‚Idealtypen‘ von Männlichkeit und Weiblichkeit beschrieb, die sich ihm zufolge in den realen Männern und Frauen ebenso wenig ‚rein‘ personifizierten, wie sich die platonischen Ideen dem Verfasser des „Phaidon“ zufolge in den Realien der Welt vergegenständlichen. Dem Umstand, dass Weininger einer der übelsten Antifeministen und Frauenfeinde seiner Zeit war, wird dadurch allerdings nicht ein Jota genommen. Auch ist Gutsches Beitrag darum nicht, oder doch kaum weniger empfehlenswert.

Alle Beiträge – Gutsches ebenso wie Zimmermanns und die der anderen Autorinnen – lohnen die Lektüre und jeder einzelne von ihnen rechtfertigt die Anschaffung des Bandes durch einschlägige wissenschaftliche Bibliotheken. Da mag die Haushaltslage bundesdeutscher Hochschulen noch so angespannt sein.

Titelbild

Marion Bayerl / Verena Gutsche / Bea Klüsener (Hg.): Gender – Recht – Gerechtigkeit.
Universitätsverlag Winter, Heidelberg 2012.
217 Seiten, 40,00 EUR.
ISBN-13: 9783825360276

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