Plaudereien eines Großstadtdandys

Zu Carlo Frutteros Erinnerungen „Ein Herr mit Zigarette“

Von Francesca GollRSS-Newsfeed neuer Artikel von Francesca Goll

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Dass es sich weder um eine klassische Autobiografie noch um eine Lebensbeichte à la Rousseau handelt, nimmt schon der Klappentext vorweg. Das Buch sei ganz beiläufig entstanden, eine Ansammlung von Episoden und Anekdoten, die mehr verschweigen, so fährt der Autor fort, als sie preisgeben. Und doch erzählt Carlo Frutteros letztes, in Deutschland posthum erschienenes Buch „Ein Herr mit Zigarette“ mit Leichtigkeit und gespielter Naivität von einer Zeit in Italien, als die Fiat- und Verlagsstadt Turin zu den kulturell vielfältigsten und politisch angeregtesten Zentren Europas zählte und Piero Crommelynck nicht nur ein Bild von Picasso, sondern ein Mensch in Fleisch und Blut war.

Frutteros Erinnerungen sind weder sentimental noch nostalgisch und führen den Leser durch eine Landschaft von Büchern, Freundschaften und (vorwiegend) piemontesischen Städten, in der sich seine persönlichen Erlebnisse mit der Nachkriegsgeschichte Italiens vermischen, ohne dabei belehrend oder dozierend zu wirken. Der ironische Unterton, der sich durch jede der 48 Erzählungen zieht, täuscht eine Belanglosigkeit vor, die das Understatement des intellektuellen Großstadt Dandys Carlo Fruttero hervorhebt und ein Abrutschen in die Provinzialität verhindert.

Die Einteilung der Anekdoten in ‚Gelegenheitsmemoiren‘, ‚Freunde‘, ‚Lucentini‘ und ‚Apologie der Familie‘ hebt die enge Bindung Frutteros an seinen Schreibbruder Franco Lucentini hervor, den er 1953 in Paris kennenlernte und mit dem ihn eine produktive, schriftstellerische Zusammenarbeit verband – bis zu Lucentinis Selbstmord 2002, der sich wie Primo Levi durch einen Sprung aus den fünften Stock ins Treppenhaus das Leben nahm. Frutteros Erinnerungen setzen mit der Beschreibung der Weinlese auf dem Grundstück seiner Oma an und enden mit dem Pariser Besuch bei seinem Enkel Nathan, womit sich der biografische Kreis des Autors von der Kindheit bis ins fortgeschrittene Alter schließt. Sein Leben wird durch die Beschreibung von Situationen und Gesprächen nachgezeichnet, die mit einer bei biografischen Erinnerungen seltenen Leichtigkeit das Gefühl vermitteln, der Autor schaue amüsiert zwinkernd auf die vergangenen Jahre zurück: Von nostalgischer Sehnsucht und pathetischer Nostalgie keine Spur.

Für die Liebhaber Italiens und der italienischen Literatur ist dieses Büchlein eine wahre Fundgrube: Nico Orengo, Italo Calvino und seine spätere Witwe Chichita, Lodovico Terzi, Cesare Cases, Giulio Einaudi, Giulio Bollati, Luciano Foà, Angelo Maria Ripellino, nur um einige der Intellektuellen zu nennen, die in Frutteros Erinnerungen vorkommen, werden wieder ins Licht gerückt und dem Leser gegenwärtig gemacht. Es handelt sich größtenteils um Schriftsteller, Verleger und Literaturkritiker, die die italienische Kulturlandschaft nach dem zweiten Weltkrieg grundlegend geprägt haben und heutzutage teilweise in Vergessenheit geraten sind. Die besondere Rolle des Verlages Einaudi in den 1950er-Jahren in Italien wird beispielsweise in der humorvollen Erzählung „The Night of the Telegram“ dargestellt – das Zusammenspiel zwischen dem Sowjeteinmarsch in Ungarn 1956, einem gepflegten Abendessen im Turiner Umland und einem Telegramm an die UNO mitten in der Nacht ergeben ein unterhaltsames Gesamtbild einer Zeit, in der Giulio Einaudis Verlag sowohl politisch als auch kulturell eine entscheidende Rolle spielte.

Die Verflechtung von Kunst und Literatur in Frutteros Leben ist in seinen Erzählungen unübersehbar: vom aufklärerischen Dichter und Dramatiker Vittorio Alfieri über Giacomo Leopardi, Lewis Carrol, Josephine Baker und Ricardo Güiraldes bis Louis Armstrong und Paolo Conte – Leben und Kunst sind für Fruttero unzertrennbar. Diese Symbiose erfährt in diesem Buch seine praktische Verwirklichung: als „Betrachter des furiosen Galopps“ stellt Fruttero sein Leben als literarisches Kunstwerk dar. Es überzeugt.

Titelbild

Carlo Fruttero: Ein Herr mit Zigarette. Erinnerungen.
Übersetzt aus dem Italienischen von Luis Ruby.
Piper Verlag, München 2012.
284 Seiten, 19,99 EUR.
ISBN-13: 9783492054881

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch