Warum eigentlich Ernst Jünger?

Ein neues Handbuch bereichert die Forschung zu einem umstrittenen Autor

Von Daniel BorgeldtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Daniel Borgeldt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Dass sich der Erste Weltkrieg 2014 zum hundertsten Male jährt, mag mittlerweile auch bei den Geschichtsuninteressierten und historisch weniger Beschlagenen angekommen sein. Nicht nur Fernsehmacher nutzen durch zahlreiche TV-Dokumentationen im Guido-Knopp-Format die Gunst der Stunde, auch der populärwissenschaftliche Sachbuchmarkt publiziert eine Fülle von Neuerscheinungen zu dem Thema. Und auch die differenzierteren wissenschaftlichen Veröffentlichungen aus den Geistes- und Sozialwissenschaften werden wohl bis mindestens 2015 nicht abreißen. Dabei taucht immer wieder ein Name auf, der in der deutschen Literatur, neben Erich Maria Remarque, fast stellvertretend für den ersten industrialisierten Krieg des 20. Jahrhunderts steht: Ernst Jünger (1895–1998)

Bereits 2013 veröffentlichte der Verlag Klett-Cotta eine von Helmuth Kiesel besorgte historisch-kritische Ausgabe von „In Stahlgewittern“, worauf dann in diesem Jahr das Hörbuch, gelesen von Tom Schilling, folgte. Jünger erlebte fast das ganze 20. Jahrhundert und sämtliche politischen Systeme Deutschlands, vom Kaiserreich bis zur Berliner Republik, bewusst mit. In der öffentlichen Wahrnehmung scheint er jedoch lediglich mit dem Werk in Verbindung gebracht zu werden, das ihn als Autor 1920 mit einem Schlag berühmt machte. Dabei wird häufig aus den Augen verloren, dass die von Jünger immer wieder überarbeiteten zuletzt sieben Fassungen der „Stahlgewitter“ nur den Anfang einer schriftstellerischen Karriere markierten, die neben politischer Publizistik auch philosophisch-kulturkritische Essays, Erzählungen und Romane hervorbrachte. Nun erscheint im Metzler-Verlag, herausgegeben von Matthias Schöning, das „Ernst Jünger-Handbuch“, das versucht, dem Gesamtwerk gerecht zu werden.

Entstanden ist ein praktisches Nachschlagewerk, das Studenten, Fachleuten und anderen Interessierten die Möglichkeit bietet, sich rasch einen Überblick über Jüngers literarische Produktion zu verschaffen. Neben Artikeln von namhaften Forschern wie Helmuth Kiesel, Ulrich Bröckling oder Ulrich Fröschle zu einzelnen Werken, die chronologisch angeordnet sind, findet man auch einen knappen, aber präzisen Abriss zur Rezeption und der Forschungssituation. Eine Zeittafel mit Publikationschronologie beschließt den Band. Dies alles ist eine begrüßenswerte Ergänzung zur Forschung und den Autoren und dem Herausgeber gebührt Dank für die wissenschaftliche Leistung. Man kann sich jedoch die Frage stellen, womit Jünger, der „reizende Philosophieplattler“ (Kurt Tucholsky), es eigentlich verdient hat, Gegenstand einer solch regen Forschungstätigkeit zu werden. Zunächst ist da die Tatsache, dass er 102 Jahre alt geworden ist und man in ihm einen wichtigen Zeitzeugen des 20. Jahrhunderts sah.

Hinzu kommt das Volumen des Gesamtwerks, das sich bei einer schriftstellerischen Tätigkeit, die sich über fast acht Jahrzehnte erstreckte, ungeheuer ausnimmt und von Ingo Stöckmann als „Herausforderung von eigenem Gewicht“ für die Literaturwissenschaft charakterisiert wird. „Dabei besteht die Schwierigkeit nicht […] in der Fülle biographischer Konstellationen bzw. in den Zäsuren des Autorlebens, sondern in der Frage, wie ein Werk, das beinahe das gesamte 20. Jahrhundert begleitet, intern zu differenzieren und literaturgeschichtlich zu periodisieren ist.“ Oder mit anderen Worten: Was sind die Kontinuitäten und Brüche in Jüngers Gesamtwerk?

Den auffälligsten Zusammenhalt in seinem Œuvre bilden wohl die Tagebücher, die von den „Kriegstagebüchern“ aus dem Ersten Weltkrieg, über die „Strahlungen“ (1949) bis zu „Siebzig Verweht“ (1980–1997) reichen, um nur die wichtigsten zu nennen. Jünger inszeniert sich in dieser Textgattung, die immer auf der Schnittstelle zwischen Fiktionalität und Faktualität angesiedelt ist, als starke Autorpersönlichkeit. Er beschreibt Ereignisse wie Krieg und Zerstörung distanziert aus eigener Anschauung, aus der er seine Autorität bezieht.

Einer der scheinbaren Brüche in seinem Werk hängt mit dieser Selbstinszenierung unmittelbar zusammen. In den „Kaukasischen Tagebüchern“ (1949) beschreibt Jünger an einer Stelle, wie er versucht, sich über die Geiselerschießungen und Judendeportationen, über die er „schon in Paris […] vollständig informiert war“, ins Bild zu setzen. Dies misslingt ihm jedoch, da er keinen Zutritt zu den Stätten des Holocaust bekommt. Zum ersten Mal ist er auf Erzählungen Dritter angewiesen, was zur Konsequenz hat, dass seine Position an Autorität verliert und Jünger sich aufgrund der Berichte von den Verbrechen in seinem Kulturpessismismus bestätigt sieht. Ein wirklicher Bruch ist dies nicht. Immerhin hat Jünger bis in sein Spätwerk an seiner starken Autorpersönlichkeit festgehalten. Zudem bildet seine selbstbestätigte kulturpessimistische Weltsicht ein moralisch schwaches Ergebnis angesichts eines Vernichtungskriegs und der Existenz von Konzentrationslagern. „Gegenüber den Millionen unschuldiger Opfer wirkt die Einsicht darein, wessen Menschen fähig sind, nicht länger als ein Gewinn, den Autoren einfach verbuchen könnten. Wer sich zu irgendeinem Aspekt des Komplexes aus Zweitem Weltkrieg und Judenvernichtung äußert, sollte nicht so tun, als würde er über die Bedeutung der Bilder gebieten können. Er tritt zumeist nicht einmal selbst mit ins Bild und schon gar nicht mit einem alkoholischen Getränk in der Hand. Das wirkt schnell pietätlos.“

Ein wirklicher Bruch hingegen ist Jüngers relativ späte Hinwendung zur Erzählprosa mit „Auf den Marmorklippen“ (1939). Die starke Kritik in diesem Werk am NS-Regime hatte aufgrund des Status quo des Autors in Nazi-Deutschland keine negativen Folgen für ihn. Ist ein Widerstand, der von den Mächtigen nicht unterbunden wird, noch ein Widerstand? Eine Antwort erscheint schwierig und ist „kaum zu erwarten“, wie Schöning feststellt.

Vor allem diese Eigenheiten der Jünger‘schen Schriften (das Festhalten an einer starken Autorpersönlichkeit in den Tagebüchern, der Versuch geistigen Widerstand zu leisten im Erzählwerk, ohne politisch aktiv zu werden) sind es, die den Autor zu einer umstrittenen Figur gemacht haben. Viele haben ihn kritisiert, wie Klaus Mann, der meinte, „ein falsch verstandener Nietzsche und das „Chaos“ aus Permanenz und aus Langeweile“ sprächen aus Jünger. Nach 1945 wurde er durch sein zentrales Thema Krieg zu einer heimlichen Identifikationsfigur für die Autoren der Gruppe 47. Heinrich Böll attestierte sich selbst während seiner Zeit als Soldat einen „Jüngerianismus“, auch wenn dem geschätzten Autor „die menschliche Note“ fehlte. Alfred Andersch rezipierte Jünger zeitlebens und bewunderte dessen „existentielle Lebenshaltung in der geschichtlichen Katastrophe“. In diese Debatten bietet das „Handbuch“ einen guten Einblick und spart auch nicht mit Kritik an der Verehrung des soldatischen Heldentums des Autors. Daneben wird auch den anderen Themen Jüngers wie Rausch, Technik, Sprache, Natur und Geschichte ausreichend Raum gewährt. Das „Ernst Jünger-Handbuch“ bietet damit eine wichtige Ergänzung zur Erforschung des Gesamtwerks. Die Frage, ob Jünger jedoch ein wichtiger Autor ist, bleibt bestehen.

Matthias Schöning bejaht dies überzeugt: „Er ist einer der wichtigsten deutschen Schriftsteller des 20. Jahrhunderts und gilt manchen zugleich als eine der unheilvollsten Gestalten der deutschen Geistesgeschichte.“ Mag diese Aussage auch einer rhetorischen Rechtfertigung zuzuschreiben sein, so muss man dagegenhalten, dass es international bedeutendere deutschsprachige Autoren gegeben hat. Ja, Jünger wird im Ausland, vor allem in Frankreich, gelesen. Aber er hat wohl auch zu Recht nie die internationale Bedeutung für die literarische Moderne erlangt, wie beispielsweise Paul Celan, zu dem im Metzler-Verlag ebenfalls ein Handbuch erschienen ist. Zudem kann man sich wohl noch unheilvollere „Gestalten der deutschen Geistesgeschichte“ vorstellen, als Jünger es war, dessen Rolle sonst maßlos überschätzt würde. Eines jedoch ist in Anbetracht der Forschungslage und nicht zuletzt des nun erschienenen „Handbuchs“ sicher: Jünger war nie ein vergessener Autor und scheint es auch nicht zu werden.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Matthias Schöning (Hg.): Ernst Jünger-Handbuch. Leben-Werk-Wirkung.
J. B. Metzler Verlag, Stuttgart 2014.
439 Seiten, 69,95 EUR.
ISBN-13: 9783476024794

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch