Das Verschwinden der Zukunft aus der Popkultur

Über Mark Fishers Essaysammlung „Ghosts of my Life. Writings on Depression, Hauntology and Lost Futures“

Von Benjamin MoldenhauerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Benjamin Moldenhauer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„This is nowhere, and it’s forever.“ Der Satz, den der britische Kulturjournalist und -theoretiker Mark Fisher auf den ersten Seiten seiner Essaysammlung Ghosts of my Life aus einer Science-Fiction-Serie der BBC zitiert, beschreibt die Perspektive des Depressiven: Es gibt keinen Halt, und es wird nie ein Ende haben. Fisher erweitert die klinische zur Gesellschaftsdiagnose. Ähnlich wie der Soziologe Alain Ehrenberg sieht er in der Depression eine zeitgemäße Zivilisationskrankheit, die den gesellschaftlichen Bedingungen entspringt und entspricht. Während Ehrenberg aber die Ursache der Depression in der unüberschaubaren Menge an vorgeblichen Wahlmöglichkeiten und der Zerstörung traditioneller Strukturen sieht, schließt Fishers Argumentation seine Diagnose an einen dezidiert kapitalismuskritischen Diskurs an und nimmt sie als Prämisse einer aufschlussreichen Deutung popkultureller Phänomene.

Die wesentliche Ursache der zunehmenden Ausbreitung depressiver Erkrankungen sei, dass mit dem Sieg des Neoliberalismus die Idee einer nicht nur wünschenswerten, sondern auch realisierbaren Zukunft zum Verschwinden gebracht worden ist. Die Reduktion des Sozialen auf Verwertungspotenziale zerstöre die großen Erzählungen sowohl progressiven wie auch konservativen Ursprungs – die Versprechen eines sozialen beziehungsweise primär technologischen Fortschritts, die als sinnstiftender Rahmen fungierten, in dem sich eine spezifisch popkulturelle Ausprägung moderner Ästhetik entwickeln konnte. Das kulturelle Feld, in dem heute dieses Abhandenkommen der Zukunft und der Eindruck der Ausweglosigkeit betrauert oder zumindest implizit thematisiert wird, ist nach Fisher ebenfalls die Popkultur, früher einmal der Ort, der eine andere Welt versprach: „Music culture was central to the projection of the futures which have been lost“.

Diese Idee bildet die axiomatische These, mit der Fisher sich in den gut zwei Dutzend Texten des Bandes Musik, Filmen und Literatur nähert. Hält man sie für überzogen, wird man auch mit den Analysen, anhand derer sie entfaltet wird, nicht viel anfangen können. Hält man sie aber für plausibel, ist dies die beste Voraussetzung, einen der zurzeit interessantesten kulturkritischen Essayisten kennenzulernen.

Die Wahl der Gegenstände mutet zuerst eklektizistisch an. Mark Fisher schreibt unter anderem über elektronische Musik, die Romane von David Peace, die Band Joy Division (der Essay gehört zu den aufschlussreichsten, die dieser bis zum Überdruss mythisierten Musik bislang gewidmet worden sind), die Fernsehserie Life on Mars, den Skandal um den BBC-Moderator Jimmy Saville, US-HipHop, die Filme Christopher Nolans oder eine Dokumentation über W. G. Sebald. Der Begriff, der all diese auf den ersten Blick disparaten Texte – Text verstanden im weitesten Sinne – bündelt, ist „hauntology“, den Fisher Derridas Buch Marx’ Gespenster entlehnt: eine Ontologie des Immateriellen, von etwas, das nicht – oder nicht mehr – da ist, die Gegenwart aber, gleich einer geisterhaften Präsenz, heimsucht; Fisher spricht vom „refusal of the ghost to give up on us“. Die Geister können verblichene, unmöglich gewordene Utopien sein, aber auch – und hier argumentiert Peace, etwa in seiner Interpretation von Stanley Kubricks The Shining, klassisch freudianisch und weniger originell als sonst – eine unaufgearbeitet gebliebene vergangene Gewalt.

In dem Diskurs über aktuelle elektronische Musik, der von den Autoren um die britische Musikzeitschrift The Wire betrieben wird, hat sich „hauntological“ als eine Art Genrebegriff für eine Musik etabliert, deren Atmosphäre von Melancholie bestimmt ist und die mittels gesampeltem Vinylknistern, 80er-Synthesizer-Sounds und Verweisen auf vergangene Fernsehwelten eine Faszination für verschwundene Medien kommuniziert. „The tracks bleed into one another […], like failing memories“. Diese Melancholie wird von Fisher politisiert: „In hauntological music there is an implicit acknowledgement that the hopes created by postwar electronica or by the euphoric dance music of the 1990s have evaporated – not only has the future not arrived, it no longer seems possible“.

Damit ist in dieser Perspektive die einzige ihrer Zeit adäquate Ästhetik eine, die unablässig vom Verlorenen erzählt: „[The refusal to give up on the desire for the future] gives the melancholia a political dimension, because it amounts to a failure to accommodate to the closed horizons of capitalist realism“. Mit dieser Politisierung (die implizit als ein möglicher Ausweg aus der Depression gefasst wird) grenzt Fisher das Attribut hauntological von den zahllosen musikalischen, literarischen und filmischen Retro-Phänomenen ab, die momentan das Geschehen in der Popkultur – hier knüpft die Argumentation an das Buch Retromania seines Wire -Kollegen Simon Reynolds an – weitgehend bestimmen. Zwar seien diese symptomatischer Ausdruck des kulturellen Stillstands, aber sie problematisieren den Verlust des Neuen nicht, sondern erschöpfen sich in der nur nostalgischen Re-Inszenierung der Zeichen der Vergangenheit, die den Zugang zu den verlorenen Hoffnungen und Erzählungen gerade versperrt – „Hearing T-Rex now doesn’t remind you of 73, it reminds you of nostalgia programmes about 1973“.

Überhaupt sind die es die Siebziger und frühen Achtziger, mit denen die unter dem Label hauntology gebündelten Künstler und Phänomene in Bezug gesetzt werden. In der Fernsehserie Life on Mars beispielsweise sieht Fisher den nur notdürftig ironisch verklärten, im Kern reaktionär-nostalgischen Wunsch nach der angeblich noch klar strukturierten patriarchalen Welt der Siebzigerjahre manifestiert. Der in Kritiken mitunter zu lesende Vorwurf, Fisher selbst sei Nostalgiker, trifft nicht. Die Vergangenheit wird nicht idealisiert, das einzige, das sie fundamental von unserer Gegenwart unterscheidet, ist, dass das Versprechen auf eine andere Welt noch formulierbar war; und das nicht nur für die privilegierten Art-School-Studenten und Privatschul-Absolventen, die heute die britische Popmusik bestimmen, sondern – wie am Beispiel der Band Japan und den bereits erwähnten Joy Division gezeigt wird – für Künstler, die der englischen working class entstammten.

Wenn es nicht um die popkulturelle, sondern um die soziale Wirklichkeit der Siebzigerjahre geht, präferiert Fisher den Entwurf von David Peace. Dessen Red Riding-Quadrologie rekonstruiere die Siebzigerjahre als Hölle. Der apokalyptische Ton von Peaces Büchern bildet gemeinsam mit den suizidalen Elegien von Joy Divisions einen weiteren Kern der depressiven ästhetischen Theorie Fishers: als exemplarische Beispiele für Texte, in denen die Gegenwart und Vergangenheit als derart grausam präsentiert werden, dass sie von den Protagonisten bestenfalls ertragen werden können. Damit verleiht die, wenn man so will, depressive Ausrichtung des Blicks der These, die Sinnkrise des Pop ginge mit dem Aufstieg des Neoliberalismus einher, eine spürbare Dringlichkeit.

Für deutsche Leser ungewohnt, verheimlicht Fisher die biografische Fundierung seines Interesses und seiner unterschwellig fatalistischen Argumentation nicht. Die Arbeit an dem Blog, in dem einige der hier versammelten Texte zum ersten Mal zu lesen waren, sei ein Weg für ihn gewesen, die eigene Depression in den Griff zu bekommen. Fisher begreift auch sie als soziales Symptom, gibt dem skeptischen Leser damit aber auch die Möglichkeit, die von ihm vorgeschlagene Wahrnehmung als Ausdruck einer individuellen Erkrankung abzuwehren oder zumindest zu relativieren.

Tatsächlich liegt in diesem Offenlegen der eigenen Disposition aber eine der vielen Stärken dieses Buches. Die Texte setzen nicht auf rhetorische Finessen, um zu überzeugen, sondern versuchen, eine subjektive Wahrnehmung argumentativ plausibel zu machen, die man in ihrer Radikalität gar nicht teilen muss, um zu realisieren, dass hier ein Autor einen der aufschlussreichsten kulturkritischen Texte der letzten Zeit vorgelegt hat; ein Text, der – obwohl Fisher sich immer wieder auf Autoren wie Derrida oder Frederic Jameson bezieht – auch für nicht-akademische Leser immer nachvollziehbar bleibt. Liest man diese Essaysammlung als Ganzes, lässt sich Ghosts of my Life als eine prismatische Ästhetik des Verschwindens verstehen, die den Schluss nahelegt, dass Modernität heute vor allem bedeutet, den Nachhall der verlorenen Versprechen einer vorzeitig beendeten Moderne wahrnehmbar werden zu lassen.

Titelbild

Mark Fisher: Ghosts of My Life. Writings on Depression, Hauntology and Lost Futures.
Zero Books, Blue Ridge Summit 2014.
232 Seiten, 15,45 EUR.
ISBN-13: 9781780992266

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