Die Armen von Berlin

Eva Ruth Wemmes Geschichten über Roma in der Bundeshauptstadt

Von Markus SteinmayrRSS-Newsfeed neuer Artikel von Markus Steinmayr

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Roma sind nicht nur Teil der Sozialberichtserstattung von Kommunen. Im Roma Report 2011 der Europäischen Union liest man, dass die Roma „immer wieder Opfer von Rassismus, Diskriminierung und sozialer Ausgrenzung“ werden. Dreißig Prozent seien arbeitslos, zwanzig Prozent hätten keine Krankenversicherung und neunzig Prozent lebten unterhalb der Armutsgrenze. Maßnahmen, die die „Kluft zwischen Roma und Nicht-Roma“ in den Bereichen Soziale Sicherung und Arbeitsmarktzugang schließen, müssten schnellstens eingeleitet werden. Dabei sei besonderer Augenmerk auf die „Teilnahme von Roma-Kindern [sic!] an frühkindlicher Bildung“ zu richten. Auch müsse auf die Hebung des zumeist niedrigen „Bildungsniveau[s]“ geachtet werden und die „Bekämpfung der Armut“ vorangetrieben werden. Das ist die Repräsentation der Roma in den Institutionen der europäischen Union – Armut in all ihren Dimensionen (verweigerte Teilhabe, Bildungsmangel und ökonomische Prekarität) ist das Merkmal der Roma, an dem sie erkannt werden. Im Roma Statusbericht Berlin-Neukölln 2011 liest man aber, dass es ‚die‘ Roma gar nicht gibt: „Seit dem Beitritt Bulgariens und Rumäniens zur Europäischen Union gibt es im Norden Neuköllns einen wachsenden Zuzug von Roma-Familien [sic!], die aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu unterschiedlichen Stämmen, eine ethnisch sehr heterogene Gruppe bilden.“ Ihnen wird folgendes zugeschrieben: „Clanstrukturen“ oder „große Hemmnisse oder Vorbehalte in Bezug auf die Inanspruchnahme von staatlichen Angeboten“. Die meisten eine aber, so die Sozialverwaltung, der „Wunsch nach einem dauerhaften Aufenthalt in Deutschland.“ Ähnlich argumentiert der Roma-Bericht der Bundesregierung an die Europäische Kommission aus dem Jahre 2011: „Der Begriff ‚Roma‘ stellt einen Oberbegriff für eine Vielzahl von Gruppierungen mit ähnlichen kulturellen Merkmalen, wie Sprache, Kultur und Geschichte dar. Insofern sind Roma keine in sich homogene Bevölkerungsgruppe, sondern eine Vielzahl nach kulturellen Erfahrungen, Ausprägungen und Gewohnheiten unterschiedlicher Gemeinschaften.“ Die Bundesregierung gibt die Zahl der in Deutschland lebenden Roma mit ca. 10.000 an, davon allein ca. 7.000 in Berlin.

Genau diesen Texten hat Eva Ruth Wemme die Anregung für den Titel ihres Buches entnommen. Anstatt aber die Köpfe zu zählen, verwandelt sie die in Berlin lebenden Roma in ‚Nachbarn‘. Gleichzeitig ist das Buch der Versuch, die Reports auf ihren Wirklichkeitsgehalt zu überprüfen. Leider geht diese Überprüfung für die Reports nicht gut aus. Eher scheint es für Wemme so, als ob diese Texte just diejenigen Klischees und Stereotypen reproduzieren, gegen die sie eigentlich angetreten sind.

In Zusammenhang mit den aktuellen Herausforderungen der Flüchtlingspolitik kommt das Buch Meine 7000 Nachbarn von Eva Ruth Wemme zur rechten Zeit. Es macht sehr deutlich, dass die Vorurteile gewisser Gruppen gegenüber ‚Wirtschaftsflüchtlingen‘ oder ‚Einwanderern in das Sozialsystem‘ nur reines Ressentiment darstellen. „Ich schreibe also von uns, die blind sind, und von den anderen, die verinnerlicht haben, sich unsichtbar zu machen. Das sind die zwei Seiten derselben Medaille – wo Blinde sind, sind auch Unsichtbare.“ Anders formuliert: Wo Blindheit vorherrscht, ist alles unsichtbar. Es gibt aber wohl kaum eine Bevölkerungsgruppe, die die europäische Phantasie (und nicht die europäischen Institutionen) ähnlich entzündet hat wie die Sinti und die Roma. In Klaus Michael Bogdals großartiger Faszinationsgeschichte Europa erfindet die Zigeuner wird sehr deutlich, welche Rolle die Sinti und Roma für die europäische Identität einnehmen: die Rolle des Anderen und des Fremden, der das Eigene herausfordert. Meine 7000 Nachbarn ist aber kein Beitrag zu dieser europäischen Faszinationsgeschichte.

Wemme macht gleich am Anfang ihres Buches eine historische Reverenz: „Es kommt mir irreal vor, als hätte ich das alles nur in einem Buch – vielleicht über das 19. Jahrhundert gelesen: Krankheit und Elend, Wohnungen ohne Heizung, ohne Fensterscheiben, Sklavenarbeit, strukturelle Demütigung und Kinder in Polizeigewahrsam.“ Bücher, die das Elend im 19. Jahrhundert aufschreiben und dokumentieren, hat es zuhauf gegeben. Vielleicht hat sich die Autorin an ihre Lektüre von Eugène Sues Les Mystères de Paris erinnert oder an Emile Zolas Les Misérables gedacht. Wäre Meine 7000 Nachbarn ein Roman und Wemme eine Figur, dann wäre ihre Rolle vergleichbar mit dem Wirken des Grafen Gérolstein in Sues Mystères des Paris, der sich bekanntlich in das proletarische Paris begibt und als Robin Hood des philanthropischen Saint-Simonismus agiert.

Wemmes Agieren als Erzählerin changiert zwischen offiziellem Auftrag und empathischer Dokumentation; eine Erzählhaltung, die möglicherweise durch die Lektüre von Zolas Les Misérables inspiriert worden ist, wenngleich ihr der kühl-analytische Blick der Zola’schen Milieustudien abgeht. Das Buch versammelt kurze Impressionen und Texte, die jeweils mit Überschriften versehen sind. Gattungslogisch changieren die Texte zwischen tagebuchartigen Reflexionen, kommentarlosen Impressionen aus dem Irrsinn deutscher Sozialbürokratie und traurigen bis anrührenden Fetzen aus Alltagsgesprächen der Autorin mit den Roma in Berlin. Im Zentrum aller Texte stehen aber die Frage nach der bitteren Armut der Roma in Berlin und ihr Streben nach Lohn und Brot, nach einer Krankenversicherung und einem besseren Leben für ihre Kinder.

Das Buch besteht aus zwei Teilen. Der erste Teil „Wie der Alltag aufhörte“ ist vor allem eine Reflektion der Autorin über die Grenzen ihrer Tätigkeit, die sie in einem weiten Sinne als „Dolmetschen“ charakterisiert. Im Laufe des Buches wird klar, dass diese Tätigkeit des Dolmetschens, des Übertragens von einer Sprache in eine andere, weitaus mehr meint als die Übersetzung sozialstaatlicher Terminologie ins Rumänische. Im zweiten Teil „Das Alltägliche“ finden sich dann kleine Textstücke, Schilderungen aus dem Alltag der deutschen Sozialbürokratie, Kinderzeichnungen und Fotografien. Man könnte sagen, dass Wemmes Buch daran arbeitet, die Welt der Roma, ihre Ökonomien und Verhaltensweisen, aber auch ihre Banalität und Alltäglichkeit  in die Welt der saturierten Wohlstandbürger zu überführen. Textanalytisch bedeutet dies, dass die poetischen oder poetologisch klingenden Überschriften wie „Was wir uns denken“ häufig auf einen Text treffen, der letztlich mit der Erwartung des Lesers/der Leserin bricht oder Ambiguitäten stehen lässt. Der Text beginnt mit einer Rückschau: „Was ich lernte: Erwartungen an die Roma, die ausschließlich unseren Vorstellungen von ihrem Glück entsprechen, führen höchstens zu langem Warten und zu sonst nichts“. Dann werden einige „Lektionen“ geschildert, die die Arbeit mit den Roma bereithält. Ein gemeinsamer Malkurs für Mütter und Kinder wird geplant. Das Gemeinsame beim Malen fällt aber aus, da die Mütter alleine malen. Die mögliche Reaktion ist dann: „Wir wollten es erst mangelnden Respekt vor der Kindheit ihrer Kinder nennen, Bildungsferne oder fehlendes pädagogisches Grundwissen.“ Das ist das, ‚was wir uns denken‘, wenn uns solche Verhaltensweisen begegnen. Das ‚Wir‘ ist nicht nur das ‚Wir‘ der mit den Roma Arbeitenden, es ist das Kollektiv der Vorurteile, das aus diesem ‚Wir‘ spricht. Denn vergessen wird, dass die Roma-Mütter zunächst erst einmal selbst lernen müssen zu malen, bevor sie dieses Wissen an ihre Kinder weitergeben können. Immer wieder berichtet Wemme von den Vorurteilen, ohne sie als solche zu benennen. So sagt eine Kita-Leiterin zur Autorin: „Viele Familien mit vielen Kindern, sie haben zu viele Kinder. Sie verhüten nicht, weißt du.“ Die Rezipient*innen denken hier an die Rassismen eines Thilo Sarrazin, der ja die Promiskuität der Zuwanderer als Götterdämmerung des bundesrepublikanischen Gemeinwesens interpretiert hat, oder an die klassischen Topoi des Massediskurses wie promiskuitives Verhalten, die in Bezug auf den vermeintlichen Pöbel fröhlich Urständ feiern. Wie Werner Conze schon Mitte der 1950er Jahre bemerkte, ist für den bürgerlichen Diskurs das „Übermaß“ des Pöbels das Problem, das durch Promiskuität nur perpetuiert wird.

„Ich muss mich von meinem Land erholen“, seufzt die Autorin an einer Stelle. Man möchte ergänzen, dass man sich als Leser*in teilweise sogar schämt, wie mit den Roma umgegangen wird: Es werden in den Wehen liegenden Frauen auf eine Odyssee durch die Berliner Krankenhäuser geschickt, weil das Prinzip einer solidarischen Krankenversicherung für die Roma nicht gilt; die Arbeit als Müllsacksammler wird von Seiten des Jobcenters nicht als Arbeit im sozialversicherungstechnischen Sinne anerkannt, da es diese Arbeit für die Verwaltung nicht geben kann, weil mit der Zuständigkeit der Berliner Stadtreinigung (BSR) alles geklärt ist. Wemme gebührt der Verdienst, eine Gruppe innerhalb unserer Gesellschaft in die soziale Sichtbarkeit gerückt zu haben, die sonst entweder unsichtbar oder Gegenstand von Kampagnen sind.

„All die Geschichten ergeben noch immer kein Bild“, lautet der erste Satz des Buches. Auch am Ende ergeben die Geschichten kein Bild. Meine 7000 Nachbarn endet vielmehr mit Bildern, die traurig und melancholisch sind. Es sind die Bilder eines Roma-Malers, den Eva Ruth Wemme um „Bilder aus dem Leben der Roma“ gebeten hat. Auf diesen Bildern findet sich nichts von Berlin, keine Gestalten der Armut, sondern Impressionen aus dem dörflichen Leben in der Heimat. Ein Bild, ein Bleistiftstrich kann die Paradiese der Erinnerung öffnen. 

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Eva Ruth Wemme: Meine 7000 Nachbarn.
Verbrecher Verlag, Berlin 2015.
238 Seiten, 14,00 EUR.
ISBN-13: 9783957320803

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