Die Faszination kosmischer Angst

Eine neue Anthologie mit Horrorgeschichten von H. P. Lovecraft

Von Rainer ZuchRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rainer Zuch

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mit einer neuen Anthologie von Erzählungen Howard Phillips Lovecrafts würdigt der Suhrkamp Verlag einen ebenso bemerkenswerten wie wichtigen Autor der phantastischen Literatur. Werk und Leben Lovecrafts (1890–1937), von seinen Fans gern vertraulich „HPL“ abgekürzt, tragen schon außergewöhnliche Züge. Veröffentlichte der aus Providence in Rhode Island/USA stammende Autor zu Lebzeiten nur wenige Erzählungen in billigen Fantasy- und Science-Fiction-Pulp-Magazinen, erlangte sein Werk Jahrzehnte nach seinem frühen Tod durch die unermüdliche Arbeit von Freunden, Fans und befreundeten Autoren schließlich Weltruhm. Heute gilt Lovecraft, dessen Œuvre nur etwa 90 Kurzgeschichten und längere Erzählungen umfasst, als Begründer der kosmischen Horrorgeschichte und zählt zu den einflussreichsten Autoren der Phantastik und des Horrorgenres. Die Sekundärliteratur zu ihm und seinem Werk füllt inzwischen Bibliotheken.

Warum aber wurde ein Autor mit einem solchen, auch nach seinen eigenen Worten recht eng umrissenen erzählerischen Programm und begrenztem literarischem Vermögen derart erfolgreich? Ob Lovecrafts Stellung in der phantastischen Literatur seine großen Vorbilder Edgar Allan Poe, Nathaniel Hawthorne oder Lord Dunsany erreicht oder ob er in deren Schatten verbleibt, ist umstritten; an Popularität übertrifft er sie jedenfalls bei Weitem. Sein Stil ist oft überladen, umständlich und redundant, aber auch er ist Bestandteil der eigenartigen Anziehungskraft, die das Werk des Autors bis heute ausübt. Der Fantasy-Autor Wolfgang Hohlbein, selbst ein sehr produktiver Lovecraft-Epigone mit seiner „Der Hexer von Salem“-Reihe, gibt jedenfalls in seinem Vorwort vor, an einer Erklärung von Lovecrafts Ruhm zu scheitern. Das ist zwar ein recht durchsichtiger Trick, das Werk weiter zu mystifizieren, aber aus eigener Erfahrung kann der Rezensent bestätigen, dass eine erschöpfende Erklärung tatsächlich nicht leichtfällt.

Die Begründung des so genannten „Cthulhu-Mythos“, einem für andere Autoren enorm anschlussfähigen, losen Verbund von Erzählungen, die sich um die Existenz schrecklicher außerirdischer Wesen mit gleichsam gottähnlicher Macht drehen und die Erde zu einem Kampfplatz kosmischer Mächte degradieren, ist zweifellos ein zentrales Moment. Elemente des Lovecraft’schen Kosmos, seien es seine Monstergötter, die „Großen Alten“ Cthulhu, Azathoth oder Shub-Niggurath, seien es die erfundenen neuenglischen Ortschaften Arkham, Innsmouth oder Dunwich, seien es Figuren wie der Erforscher des Unaussprechlichen und Lovecrafts Alter Ego Randolph Carter oder der Maler Richard Upton Pickman, eignen sich hervorragend zur Adaption durch andere und werden von Schriftstellern, Comiczeichnern, Filmemachern und bildenden Künstlern bis heute in die unterschiedlichsten Kontexte integriert. Lovecraft selbst ermunterte seine Schriftstellerkollegen nachdrücklich dazu, so wie er selbst auch Elemente aus Werken anderer Autoren, wie Clark Ashton Smith oder Robert Howard, in seine Erzählungen übernahm. Seine Absicht war nie, eine geschlossene Mythologie zu konstruieren (wie später etwa J.R.R. Tolkien mit seiner Middle-Earth-Kosmologie), sondern ein persönliches, vielseitig nutzbares Inventar phantastischer Figuren, Ortschaften und Personen zu schaffen. Erst Lovecrafts postume Herausgeber August Derleth und Donald Wandrei gaben es als ein geschlossenes Konzept aus.

Dabei ist Lovecrafts eigenes Konzept viel interessanter. Ohne ein Interesse an einer sinnhaften Geschlossenheit vorzugeben, spinnt er in seinen Erzählungen ein Netz gegenseitiger Verweise, das von sich aus einen lose und eher zufällig wirkenden, scheinmythologischen Zusammenhang stiftet, der sich „hinter“ den Worten aufzutun vorgibt. Seine Geschichten erwecken den Eindruck, als würfen sie Schlaglichter auf ein großes, verborgenes Gesamtbild, welches wiederum über die reine Fiktion hinauszuweisen scheint. Es geht hier natürlich nicht darum, Figurationen wie Cthulhu, Arkham oder Randolph Carter als solche ernst zu nehmen, sondern um Lovecrafts auf einem strikten Materialismus aufbauende pessimistische Grundhaltung, die er sowohl in seiner Fiktion wie auch in seinen Essays formuliert und die auf eine völlige Bedeutungslosigkeit des Individuums in der Welt und der Menschheit im Kosmos hinausläuft. Damit artikuliert er eine grundsätzliche und typische Angst der Moderne, als einzelner und als Gattung verloren in einem unendlichen und sinnentleerten All existieren zu müssen. Lovecraft entzieht uns jegliche Letztbegründung der eigenen Bedeutung, ja der eigenen Existenz. Diese in ihrer Konsequenz nihilistische Haltung kennt man in Europa von Autoren wie beispielsweise Franz Kafka. Letzterer hat dafür zwar konzisere und literarisch bedeutendere Formeln gefunden, aber Lovecraft hat die Phantasie weitaus stärker angeregt. Leider blieben und bleiben die meisten Rezeptionen jedoch im Epigonalen stecken; das Grundmotiv existenzieller Angst und das Gefühl völliger Hilflosigkeit gegenüber einem so menschenfeindlichen wie gleichgültigen Universum, das sich bis zu einem Abscheu vor der bloßen Existenz ausweiten kann, geht oftmals in der Lust an der Spielerei mit cthulhuoiden, azathothalen und arkhamistischen Versatzstücken unter. Bei aller Verwendung mythologischer Elemente kann Lovecrafts Programm wohl eher als anti-mythologisch bezeichnet werden.

Dem Suhrkamp Verlag gebührt – nach Vorarbeiten des Insel Verlags – das Verdienst, Lovecrafts Werk in den 1970er- und 1980er-Jahren erstmals mit einer gewissen Vollständigkeit in deutscher Übersetzung vorgelegt zu haben. Es erschienen Bände mit allen maßgeblichen Erzählungen, mehreren theoretischen Texten und einigen Marginalien in der – als solche leider schon lange eingestellten – „Phantastischen Bibliothek“, die mehrere Neuauflagen erfuhren. Dazu kommen mehrere Publikationen mit biografischen Texten und Werkanalysen.

Die vorliegende Anthologie erscheint nun anlässlich von Lovecrafts 125. Geburtstag. Der Verlag griff dabei auf seine alten Übersetzungen von H. C. Artmann, Charlotte Gräfin von Klinckowstroem und Rudolf Hermstein zurück. Das minimiert den Aufwand und erhält zum Beispiel die stellenweise eigenwillige Diktion Artmanns, ist aber aufgrund der Fehlerhaftigkeit der Übersetzungen schon etwas bedauerlich. Inzwischen steht der Suhrkamp Verlag auch nicht mehr alleine, es liegen seit Längerem sorgfältig erarbeitete, vollständige und neu übersetzte Lovecraft-Editionen der Edition Phantasia und des Festa Verlags vor.

Die Anthologie versammelt „die ultimativen Erzählungen in einem Band“. Eine solche Behauptung ist naturgemäß mit Vorsicht zu genießen, trifft aber für „Cthulhus Ruf“, „Die Farbe aus dem All“, „Die Musik des Erich Zann“, „Stadt ohne Namen“ und die deutlich längeren Texte „Berge des Wahnsinns“ und „Schatten über Innsmouth“ definitiv zu. Diese Erzählungen sind nicht nur für Lovecraft zentral, sie zählen auch zu seinen besten und einfallsreichsten Geschichten. „Cthulhus Ruf“ (verfasst 1926) ist die Initiationsgeschichte des gleichnamigen „Mythos“, zu dessen Kernbestand auch „Berge des Wahnsinns“ und „Schatten über Innsmouth“ (beide 1931) gehören. „Berge des Wahnsinns“ präsentiert sich als die Aufzeichnungen eines Polarforschers, der an einer Antarktis-Expedition beteiligt war, welche die Überreste einer Zivilisation aus früheren Erdzeitaltern findet – die weniger tot sind als erwartet. Wie „Cthulhus Ruf“ ist die Geschichte gespickt mit wissenschaftlich exakten Beschreibungen, Bestandsaufnahmen und Ortsangaben, die nur dazu dienen, die Sinnlosigkeit rationaler Erfassung angesichts eines die gesamte Erdgeschichte erschütternden Grauens zu explizieren.

„Schatten über Innsmouth“ ist von der Angst vor biologischer Degeneration durchzogen, wobei der Protagonist in den Ungeheuern mit seiner eigenen Herkunft konfrontiert wird. „Stadt ohne Namen“ (1921) enthält zum ersten Mal die oft zitierte und für den Cthulhu-Komplex zentrale Sentenz „Das ist nicht tot, was ewig liegt / bis das die Zeit den Tod besiegt“. „Die Farbe aus dem All“ (1927) zählt zu Lovecrafts dichtesten und atmosphärischsten Geschichten, die ein Szenario entwirft, das einer – damals noch völlig unbekannten – atomaren oder chemischen Verseuchung erstaunlich ähnlich ist. „Die Musik des Erich Zann“ (1921) gehört zu den frühesten Texten, in denen Lovecraft mit kosmischen Elementen arbeitet und in denen verstörende, psychotische Musik eine Rolle spielt; hier aber nicht als Ausdruck bedrohlicher überirdischer Kräfte, sondern deren (vergeblicher) Abwehr dienend. „Der Fall Charles Dexter Ward“ (1927), eine von Lovecrafts längsten Erzählungen und eine der ganz wenigen, in denen er mit Elementen der Magie arbeitet, und das Frühwerk „Die Ratten im Gemäuer“ (1923) sind ebenfalls eine gute Wahl, aber nicht ganz so zwingend. Von dem ziemlich misslungenen Cover abgesehen, hat der Suhrkamp-Verlag hier eine gelungene Anthologie vorgelegt, die auch als Einführung in Lovecrafts Werk dienen kann.

Titelbild

Howard P. Lovecraft: Horror-Stories. Das Beste vom Meister des Unheimlichen.
Ausgewählt und mit einem Vorwort von Wolfgang Hohlbein.
Übersetzt aus dem amerikanischen Englisch von H. C. Artmann, Charlotte Gräfin von Klinckowstroem und Rudolf Hermstein.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2015.
519 Seiten, 12,00 EUR.
ISBN-13: 9783518466049

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