Biografische Bemerkungen

In „Der gelbe Akrobat 2“ wehren sich Michael Braun und Michael Buselmeier fast erfolgreich gegen Kategorisierungsversuche deutscher Gegenwartslyrik

Von Matthias FriedrichRSS-Newsfeed neuer Artikel von Matthias Friedrich

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

1955 stellte Maurice Blanchot in L’espace littéraire fest, dass ein Buch, das niemand liest, noch nicht geschrieben wurde. Erst die Rezeption gibt dem Buch seine Gestalt, macht aus ihm ein Werk und erteilt ihm dadurch die Bestätigung, dass es existiert. Das Lesen lässt sich jedoch nicht als Dialog auffassen; vielmehr ist es eine Affirmation, die trotz ihrer Leichtigkeit die Gravität und die Gedankenschwere hinter dem Buch stets mitbedenkt.

Michael Braun und Michael Buselmeier, beide Literaturkritiker und Autoren, haben zunächst in der Wochenzeitung „Freitag“, dann auf der Internetseite des Poetenladens Kolumnen zu Gedichten der Gegenwart veröffentlicht und sie dann in „Der Gelbe Akrobat“ zusammengefasst, von dem mittlerweile die zweite Folge erscheint. Bei allen diesen Texten handelt es sich um konzise Lektüren, die Hintergrundinformationen zu den jeweiligen Autoren, eine kurze Charakterisierung des Werks und knappe Anmerkungen zu sprachlichen und inhaltlichen Besonderheiten bieten. Wer die Kolumne verfolgt, stellt fest, dass Braun und Buselmeier sowohl vergessene als auch aktuelle Autoren betrachten. Sie durchforsten Lyrikbände und -zeitschriften auf der Suche nach immer neuen Gedichten. Ihre Beschäftigung mit diesen Werken läuft dabei auf die Anerkennung sprachlicher Komplexität als Gewinn für Leser und Kritiker hinaus: Gedichte inszenieren sprachliche Verwerfungen und platzieren sie in einem ästhetischen Gesamtzusammenhang. Braun und Buselmeier tasten sich im vorliegenden Band an Schreibweisen heran, die eine formale Spannweite vom fünffüßigen Jambus bis zum Figurengedicht aufweisen.

Böse Zungen behaupten: Niemand liest Lyrik. Doch das ist ein Fehlurteil. Gerade die letzten Jahre haben ein steigendes Interesse an Poesie deutlich gemacht. Der inzwischen vielzitierte Preis der Leipziger Buchmesse für Jan Wagner gehört in diese Kategorie. Daneben gibt es aber auch die Frankfurter Anthologie, initiiert von Marcel Reich-Ranicki, die in der „FAZ“ wöchentlich Interpretationen deutscher und internationaler Gedichte vorstellt. Das Jahrbuch der Lyrik, mittlerweile vielfach geschmäht für seine fehlende Stellungnahme zu aktuellen politischen Themen, ist trotz aller Kritik ein Gradmesser für das, was jährlich im Literaturbetrieb geschieht. Und die „Lyrik von Jetzt 3“, im Vorjahr von drei österreichischen, schweizerischen und deutschen Autoren herausgegeben, gab unlängst Dichterinnen und Dichtern unter 35 Jahren eine Plattform. Von mangelndem Interesse kann also keine Rede sein, eher von einem neuen Aufblühen, das die ansonsten eher scheue Lyrikszene mit der Öffentlichkeit verbindet.

In ihrem Vorwort beziehen die Herausgeber Stellung zu ihrem Verständnis einer Anthologie. Textsammlungen, die unter einem bestimmten Thema laufen, von einer eng definierten literarischen Schule oder nur Autoren bis zu einer gewissen Altersgrenze zulassen, sind ihrer Meinung nach eher eine von „intellektuellen Moden beeinflusste Bestandsaufnahme“ als etwas dauerhaft Gültiges. Der „Gelbe Akrobat“ sieht sich daher in ständigem Entstehen begriffen: Das ständige Reagieren auf aktuelle Entwicklungen in der deutschsprachigen Gegenwartslyrik passt sich an die scheinbar immer schneller vergehende Zeit an und setzt gar nicht erst auf literarische Moden.

Dennoch, trotz des hermetisch offenen Vorgehens bei der Textauswahl, trotz des formalen und inhaltlichen Panoramas von Gedichten in Schallplattenform bis zur Schülerrauchereckenpoesie, eine Linie zieht sich durch das ganze Buch. Ein gelungenes Gedicht müsste „auf unwiderstehlich sanfte Art und Weise traurig machen“, wird Ulrich Koch zitiert; Dirk von Petersdorff ist mit seiner elegisch angehauchten Oberstufenode etwa ein „sentimentaler Hund“; Bianca Dörings formstrenge Texte sind „eine einzige Klage“; und zu guter Letzt sind die Stillen die Gewinner der Herzen, denn sie setzen der „kühlen Laborlyrik“ (der Jüngeren!) und den „Matadoren“ des Literaturbetriebs etwas entgegen, das nur die Introvertiertheit vermag: eine Meditation in Versen, die die Sinne für die Welt öffnet. Man hüte sich davor, dass das nicht in der Nabelschau endet.

Von einer Phänomenologie des Alltäglichen legen die betrachteten Texte indes kein Zeugnis ab. Seien es die mit dem Barock kokettierenden, sprachzertrümmernden Verse von Konstantin Ames oder die mit Redensarten vermischten Zeilen von Kathrin Schmidt, immer wohnt den Beiträgen dieses Bandes ein Wille zur Form inne. Brauns und Buselmeiers Zugang beschränkt sich allerdings sehr oft darauf, eine pointierte Übersicht über das Schaffen des jeweiligen Autors abzuliefern und dabei vor allem die Biografie heranzuziehen. Etwa dann, wenn Buselmeier die Form des Sonetts „als bändigendes Korrektiv“ der „Zügellosigkeit“ bezeichnet, die Paul Zechs Vagabundenleben kennzeichnete. Oft verwandeln sich die Kommentare der beiden Literaturkritiker in anekdotische Almanache, zum Beispiel, wenn es über Clemens Eich heißt, er sei am 22. Februar 1998, „mitten in der Arbeit an seinem letzten Werk“, bei einem Sturz tödlich verunglückt. Oder wenn Jürgen Theobaldys „Blume mit Geruch“ ausschließlich als Kindheitserinnerung dargestellt wird. Oder konstatiert wird, dass Rolf Haufs lebenslanges Thema die Kriegs- und Nachkriegszeit ist.

Ein unbefangener Leser, etwa ein Gymnasiast oder ein Deutschlehrer, könnte dieses Buch also tatsächlich als repräsentativ für die deutsche Gegenwartslyrik verstehen. Dabei ist es, wie Braun und Buselmeier im Vorwort kundtun, eine auf persönlichen Sympathien beruhende Annäherung an im Laufe der letzten sieben Jahre veröffentlichte Texte. Dem Expertenwissen des Herausgeberduos kann sich der erwähnte Leser auch erst einmal hingeben. Zu fragen ist allerdings, inwiefern die stark biografisch orientierten Kommentare auch die literaturwissenschaftlichen Debatten der letzten zwei, drei Jahrzehnte aufgreifen. In Ansätzen geschieht das, etwa wenn Braun die Collagen in Simone Kornappels „muxmäuschen“ als „Schichtungen ineinander montierter Körperzeichen und Kunstzeichen“ betrachtet und en passant die heutigen „digitalisierten Lebensräume“ miteinbezieht.

Die Freude an einem solchen Band würde sich wohl noch erhöhen, wenn die Autoren auch versuchten, zwischen der oft in ihrem Elfenbeinturm lebenden Fachwelt und der interessierten Öffentlichkeit zu vermitteln. Was die mediale Aufmerksamkeit für Lyrik anbelangt, hätten sie ja genug Gelegenheiten dazu. Stattdessen wählen sie jedoch einen derart an biografischen Informationen geschulten Blick, dass die alte These über die Verbindung zwischen Autor und Werk auflebt, als sei sie niemals tot gewesen.

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Michael Braun / Michael Buselmeier (Hg.): Der gelbe Akrobat 2. 50 deutsche Gedichte der Gegenwart, kommentiert.
Neue Folge (2009-2014).
Poetenladen, Leipzig 2016.
184 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783940691736

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