Der Strafprozess des Jahrhunderts
Die Geschichte eines Piloten, eines deutschen Immigranten, einer skeptischen Wissenschaftlerin und des Beginns der forensischen Phonetik
Von Gea de Jong-Lendle
Und so sitze ich hier, zehn Fuß vom elektrischen Stuhl entfernt und wenn nichts getan werden kann, um mir zu helfen, wenn nichts getan werden kann, um jemanden dazu zu bringen, die Wahrheit zu sagen über die Art und Weise, wie die gegen mich verwendeten Beweise beschafft wurden, oder wenn nicht jemand die Wahrheit über jene sagt, die tatsächlich an diesem Verbrechen beteiligt waren und es begangen haben, werde ich mich nächsten Dienstagabend um acht Uhr als Antwort auf den Ruf meiner Wärter zur letzten lange Meile gehen; ich werde durch die Tür gehen, die ständig vor mir war – die Tür, die diese kleine Welt, in der ich gelebt habe, in zwei Teile spaltet: den Teil, der das Leben beherbergt und den Teil, der nur in die Ewigkeit führt. Ich vermute, es werden einige von denen in der Kammer anwesend sein, die einen Anteil an der Vorbereitung für die Strafverfolgung in meinem Fall hatten. Ich bin fest davon überzeugt, dass ihr Leiden, ihre Qual größer sein wird als meine. Meine wird sofort vorbei sein. Ihre wird so lange andauern, wie das Leben selbst dauert.
Er sollte Recht behalten. Dies waren die Worte von Bruno Richard Hauptmann im März 1936, wenige Tage vor seinem Tod. Hauptmann wurde verdächtigt, eine schreckliche Tat begangen zu haben: die Entführung und der Mord eines Babys. Das Kind von keinem geringeren als Charles Lindbergh, der seinerzeit der wahrscheinlich berühmteste Pilot der Welt war.
Wie hat dieser spektakuläre Kriminalfall begonnen? Es ist eine lange Geschichte von interessanten Persönlichkeiten, absurden Fakten, komischen Zufälligkeiten und für eine bestimmte Person eine ganze Menge an Pech. Sie erklärt zudem, wie jedes Einführungsbuch in das Fachgebiet der forensischen Phonetik anfangen sollte: mit Frances McGehee.
Siebzehn Jahre vorher, am 19. Mai 1919, schrieb Raymond Orteig an den Aero Club of America: „Gentlemen, as a stimulus to courageous aviators, I desire to offer, through the auspices and regulations of the Aero Club of America, a prize of $25.000 to the first aviator of any Allied country crossing the Atlantic in one flight from Paris to New York or New York to Paris, all other details in your care.“ Herr Orteig war ein Franzose, der als 12-Jähriger mit seiner Familie nach New York gekommen war. Mittlerweile war er ein erfolgreicher Hotelbesitzer. Seine Lafayette und Brevoort Hotels waren gemütliche Orte, beliebt bei den Bonvivants der New Yorker Gemeinschaft, aber auch oft von französischen Piloten frequentiert, die die USA kurz nach dem ersten Weltkrieg besuchten. Fasziniert von deren Geschichten entwickelte sich bei Orteig eine richtige Leidenschaft für das Fliegen und die Luftfahrt. Er war von dem Wunsch inspiriert, beide Länder, Frankreich und die USA, per Flugzeug miteinander zu verbinden. So entschied er, auf eine philanthropische Art zu versuchen, die technische Entwicklung in der Luftfahrt durch einen Wettbewerb zu fördern. Die bisherige aeronautische Technologie erlaubte non-stop Flüge von ungefähr 3.000 Kilometern. Der Abstand eines Fluges zwischen New York und Paris wäre knapp das Doppelte: 5.800 Kilometer. Also für jeden Piloten zum damaligen Zeitpunkt noch eine unmögliche Aufgabe. Zufälligerweise gelang es den Briten John Alcock und Arthur Whitten Brown einige Wochen später, in Juni 1919, als ersten Piloten non-stop von Neufundland nach Irland zu fliegen, der erste transatlantische Flug mit einer Strecke von 3.040 Kilometer. Damals eine unglaubliche Leistung.
Ein generelles Problem bei längeren Strecken zu der Zeit war die benötigte Menge an Brennstoff. Wie bringt man die verschiedenen Brennstofftanks unter und wie schafft der Pilot einen Abflug mit einem vollbeladenen Tank? Ein Absturz kurz nach dem Start mit voller Beladung war wegen der Brandgefahr sehr riskant. Fünf lange Jahre blieb die Strecke New York-Paris ein unerreichbares Ziel und der Orteig-Preis unbeansprucht. Orteig verlängerte 1924 allerdings sein Angebot um fünf weitere Jahre. Nach zwei Jahren, 1926, versuchten die französischen Piloten René Fonck, Charles N. Clavier und Jacob Islaroff zum ersten Mal die Überquerung. Ohne Erfolg; es gelang die Piloten noch nicht mal, mit dem Flugzeug abzuheben. Das Fahrwerk war unter dem Übergewicht zusammengebrochen und ein Feuer brach aus. Nur Fonck überlebte den Unfall. Der nächste Flugzeugunfall passierte schon ein Jahr später. 1927 unternahmen die Piloten Noel Davis und Stanton Wooster einen Flug mit der American Legion, als Übung für die atlantische Überquerung. Beide Piloten verunglückten tödlich bei einem Absturz kurz nach ihrem Start in Virginia. Nur zwei Wochen später wurde der Flug von den Franzosen Charles Nungesser und François Coli erneut versucht. Am 8. Mai flogen sie von Paris ab, Richtung Westen, in ihrem l’Oiseau Blanc; das Flugzeug war weiß gestrichen – so könnte es schneller gefunden werden, falls es im Meer landen oder abstürzen sollte. Der Abflug war erfolgreich. Der „weiße Vogel“ flog jetzt Richtung Ärmelkanal. Anderthalb Stunden später erreichten Nungesser und Coli die weißen Kalkküsten der Normandie. Am nächsten Morgen berichteten zwei Pariser Zeitungen, dass es endlich gelungen war: l’Oiseau Blanc hatte New York erreicht! Die erleichterte Mutter von Coli öffnete schon eine Flasche Champagner auf den Erfolg ihres Sohnes. Leider stellte sich später heraus, dass die Berichte nicht stimmten; Nungesser und Coli waren noch immer nicht in New York angekommen und wurden jetzt vermisst. Eine große Suchaktion wurde gestartet; Marine- und Handelsschiffe suchten das Wasser ab, und das Marineflugzeug Los Angeles wurde losgeschickt, um die Suchaktion aus der Luft zu unterstützen. Verschiedene Personen berichteten, das Flugzeug gehört oder gesehen zu haben. Hoffnungsvolle Berichte kamen aus Irland, Neufundland, Maine und sogar Long Island. Keiner konnte bestätigt werden.
In St. Louis gab es zu dieser Zeit einen jungen Piloten namens Charles Lindbergh, der mit Interesse und bestimmt auch mit Schrecken die Geschichten seiner Kollegen verfolgt hatte. Er war Airmail-Pilot, so wie viele andere junge Flieger in den USA, die nach Arbeit suchten. Während Europa in den 1920-er Jahren schon eine lebendige Luftfahrt-Industrie hatte, gab es in Amerika noch keine organisierten Luftfahrtdienste. Amerikanische Piloten hatten deshalb schlecht bezahlte Stellen als Stunt-Flieger, sie machten Luft-Bilder, halfen bei der Bewässerung der Ernte oder waren als Post-Lieferanten aktiv. Diese Situation führte dazu, dass auch die Infrastruktur für die Luftfahrt nicht richtig entwickelt war. Piloten, die sich verirrt hatten, mussten nach Hinweise suchen, wie Dorfnamen auf einem Dach oder auf Bahnhofsgebäuden. Die Anstellung als Post-Pilot war allerdings eine der sicheren Stellen. Gleichzeitig leider auch eine der gefährlichsten; 31 der ersten 40 Airmail Piloten stürzten ab und Flugunfälle gab es regelmäßig. Seit 1924 hatte auch der junge Lindbergh sein Geld als Airmail-Flieger verdient. Vorher war er Stuntflieger gewesen und er hatte ein Jahr lang beim Militär eine Ausbildung als Pilot absolviert. Alles zusammen gerechnet hatte er vier Jahre Flugerfahrung. Seine abenteuerliche Beschäftigung führte unvermeidlich dazu, dass er Mitglied des Caterpillar Club wurde; einem inoffiziellen Club, deren glückliche Mitglieder alle einen Flug-Absturz mit Hilfe eines Fallschirms überlebt hatten. Er hatte übrigens nicht nur einen Absturz überlebt… Kurz: Hier stand ein 25-Jähriger Adrenalin-Junkie mit genügend Selbstvertrauen, um sich vom Orteig-Abenteuer begeistern zu lassen. Für Eltern ein wahrer Alptraum! Allerdings gab es für Lindberghs Eltern noch keinen Grund zur Sorge: Für ein Flugzeug bräuchte man wenigstens $15.000. Charles hatte nur $2.000. Überraschenderweise gelang es ihm, mehrere Geschäftsleute in St. Louis davon zu überzeugen, dass ein Flugzeug mit den Namen The Spirit of St. Louis einen positiven Einfluss auf die lokalen Geschäfte haben würde – er bekam die Unterstützung von $15.000! Er besuchte sofort New York, wo Charles Levine ein Flugzeug hatte, das für die Überquerung am besten geeignet wäre. Levine war sogar einverstanden mit dem Preis. Leider, zu Lindberghs Entsetzen, hatte Levine andere Pläne für den Piloten; Levine wollte selber entscheiden, wer seine Columbia nach Paris fliegen würde. Charles Lindbergh war es sicherlich nicht!
Dieser war deswegen höchst beleidigt. Aus purer Verzweiflung kontaktierte er Ryan Airlines, eine kleine Firma in St. Diego. Er fragte, ob sie im Stande wären, ein Flugzeug für die Atlantik-Überquerung zu bauen und wie viel Zeit und Geld das kosten würde. Die Antwort kam überraschend schnell und war positiv: Ryan Airlines könnte in 60 Tage ein entsprechendes Flugzeug für $6.000 liefern, exklusive Motor. Schon wenige Tage später, am 23. Februar, besuchte Charles die Firma, um seine Ideen mit den Ingenieuren zu besprechen. Seine Wunschliste war exotisch: er wollte ein Flugzeug, das 450 Gallonen Brennstoff transportieren konnte, den Haupttank vorne und das Cockpit für eine Person hinten hatte, ausgestattet mit dem Neusten vom Neusten: einem 223 PS Wright J-5 Whirlwind-Motor. Dieser Motor hatte wichtige Vorteile auf Fernstrecken: die Maschine war ausgestattet mit selbstschmierenden Kipphebelwellen und sie war luft- statt wassergekühlt. Der Motor war deshalb leichter, einfacher und zuverlässiger. Für alle anderen technischen Geräte und Teile wollte Charles sich nur auf Technologien verlassen, die sich als zuverlässig und robust bewiesen hatten. Er hatte Glück. Der Ingenieur im Haus, Donald Hall, war ein genialer Flugzeug-Designer und offen für neue Ideen. Um das Paris-Flugzeug bauen zu können, musste ein Standard-Ryan-Design drastisch umgebaut werden, ohne dabei instabil oder unzuverlässig zu werden. Die beiden Männer verstanden sich gut. Hall betrachtete das Projekt aus einer Designer-Perspektive und Charles aus der Perspektive eines Fliegers. Das neue Team kam auf diese Weise zu genialen Lösungen. Das Flugzeug wurde innerhalb von 60 Tagen tatsächlich so gebaut: für eine Person, Sitz hinter dem Tank statt vorne, so leicht wie möglich und voll mit Behältern für den Brennstoff. Als es fertig war, war es nichts mehr als … ein fliegender Brennstofftank aus Holz und Baumwolltuch mit dem Namen Spirit of St. Louis!
Am 10. Mai flog er von San Diego, wo das Flugzeug gebaut worden war, in Richtung St. Louis ab, um danach von St. Louis weiter nach New York zu fliegen, dem offiziellen Abflugort des Orteig-Derbys. Nach weniger als 15 Stunden landete er in St. Louis, viel schneller als erwartet. Noch nie zuvor war ein Pilot in so kurzer Zeit von der pazifischen Küste nach St. Louis geflogen! Auch für Charles bisher der längste non-stop Flug seines Lebens. Zuvor war der junge Pilot noch nicht aufgefallen, schon gar nicht als ernstzunehmender Kandidat für den Orteig-Preis. Mit seinem Flug nach St. Louis hatte sich das schlagartig geändert. Eine schlechte Nachricht für den eher schüchternen Charles, der am liebsten weit unter dem Radar der Medien geblieben wäre. Die Reporter hatten sich bisher auf zwei andere, viel bekanntere Teams in Amerika – das Byrd Team mit deren Flugzeug America und das Levine-Team mit den Piloten Chamberlin und Acosta und deren Columbia – konzentriert. Beide Teams hatten viele Mitarbeiter und waren im Vergleich finanziell, personell und von der Erfahrung her sehr viel besser ausgestattet als dieser Newcomer aus St. Louis. Beispielsweise wurde Navy Commander Richard Byrd von einer Crew aus Mechanikern, Ingenieuren, Operateuren, die für die Kommunikation und Berichterstattung verantwortlich waren, und sogar von Kochteams unterstützt. Byrds Flugzeug war von dem bekannten holländischen Flugzeugbauer Anthony Fokker gebaut worden. Die Kosten für seine Vorbereitungen wurden auf $500.000 geschätzt. Charles’ Ausgaben hatten sich bisher auf die geradezu lächerliche Summe von $13.500 beschränkt. Auch das Levine-Team wurde als ernsthaftes Unternehmen betrachtet. Die Gruppe hatte einige Wochen vorher mit der Columbia noch einen Ausdauer-Rekord aufgestellt: Es war Chamberlin und Acosta, oberhalb des Roosevelt-Field-Flughafens Kreise fliegend, gelungen 51 Stunden und 11 Minuten lang in der Luft zu bleiben. Die Columbia galt derzeit als eines der besten Flugzeuge. Trotz Charles’ gelungenem Abenteuer, seinem Flug nach St. Louis, wurde er nicht als ernstzunehmender Bewerber eingeschätzt. Viele waren skeptisch, manche noch nicht mal überzeugt, ob dieser unerfahrene Pilot überhaupt die Erlaubnis erhalten sollte, sich für das Great-Atlantic-Air-Derby anzumelden. In St. Louis hätten es manche lieber gesehen, dass das ganze Projekt abgebrochen würde. Als Pilot hatte er wenig Fernflug-Erfahrung, sein Flugzeug war von einer unbekannten Firma gebaut worden, es hatte nur einen Motor, er wollte die Strecke alleine fliegen, und dabei auf alles verzichten, was seiner Meinung nach zu schwer war: ein Radio, einen Sextanten, Navigationslichter und sogar einen Fallschirm (20 kg). Als Navigationsgeräte würde er nur einen Kompass und Karten benutzen. Selbstverständlich wurde der junge, selbstsichere Charles Lindbergh für die Presse immer interessanter. Die Journalisten produzierten jetzt verrückte Berichte über den „flying fool“ und das „flying kid“. He wasn’t amused…
Die letzten Tage vor seinem Flug waren anstrengend. Ganz Amerika war von diesem Wettbewerb mit drei startbereiten Teams begeistert. Man wusste: Sobald das Wetter sich beruhigte, würde man den ersten Abflug versuchen und den Wettbewerb beginnen. Die Leute wurden neugierig. An einem Sonntag gab es 30.000 Besucher am Flugplatz Roosevelt Fields. Die wichtigsten Persönlichkeiten des Flugwesens waren jetzt auf Roosevelt Fields, darunter Byrd, sein Flugzeugdesigner Anthony Fokker, Chamberlin, Balchen, Acosta, Fonck, und sogar das neuste Phänomen – die Pilotin Ruth Nichols. Charles – als das schwarze Schaf der Rally – bekam allerdings die meiste Aufmerksamkeit.
Als Charles am Donnerstagnachmittag am 19. Mai 1927 die Nachricht bekam, dass die Wetterbedingungen sich verbesserten und das Sturmtief über dem Ozean sich allmählich aufklärte, entschied er sich: Länger warten bis das Wetter noch besser wird und alle andere Kollegen schon abgeflogen sind, ergab keinen Sinn. Früh am Morgen, um kurz nach 7 Uhr, schloss Charles Lindbergh seinen Sicherheitsgurt, schnallte seinen Helm fest und gab Gas: „Five thousand pounds to be lifted by nothing more tangible than air“. Seine Flugerfahrung am Tag des Abflugs: 7.189 Flüge, 1.790 Stunden und 10 Minuten in der Luft, 32 Flüge mit der Spirit ohne Unfall. Er begann den Abflug trotz des Wissens, dass schon 6 Piloten an dem Versuch Paris – New York gescheitert waren.
33 Stunden später: „Down under my left wing, angling in from the north, winding through fields submerged in night, comes the Seine, shimmering back to the sky the faint remaining light of the evening. […] Nothing but engine failure can keep me now from reaching Paris. The engine is running perfectly…“. Nach genau 33 Stunden, 30 Minuten und 29,8 Sekunden Flug von New York nach Paris landete die Spirit of St. Louis am 21. Mai 1927. Es war die Landung, die Charles’ Leben völlig verändern würde.
Obwohl Charles Probleme hatte, den Pariser Flughafen Le Bourget zu erkennen, landete er heil und gesund. Es war genau 22:24 Uhr Ortszeit. Er wusste nicht, dass sein Flugzeug während des letzten Streckenabschnitts von Irland nach Paris mehrmals gesichtet worden war. Der Dampfer Hilversum hatte die Spirit 500 Meilen vor der irischen Küste gesehen. Andere Schiffe berichteten von einem Flugzeug über Dingle Bay, Plymouth, Cherbourg.
Die ganze Welt war seit seinem Abflug mit seinem Flug beschäftig. Auf dem Times Square hatten sich die New Yorker versammelt, in der Hoffnung von der Times Neuigkeiten über Charles’ Vorwärtskommen zu erfahren. Im Yankeestadion in der Bronx bat der Ansager, während eines wichtigen Schwergewichts-Boxkampfes die 40.000 Zuschauer um ein stilles Gebet für Lindberghs sichere Landung. Die Börsen von Amsterdam und Berlin unterbrachen für die Dauer von Charles’ Flug ihre Notierungen, um die neuesten Nachrichten durchzugeben.
Frankreichs Marineminister hatte den Auftrag gegeben, das große Leuchtfeuer in Cherbourg anzuzünden, um Charles den Weg landeinwärts zu weisen, sollte er die französische Küste erreichen. Zusätzlich war angeordnet, alle Flugplätze zwischen Cherbourg and Le Bourget zu beleuchten. Frankreich trauerte zwar noch immer um seine Piloten Nungesser und Coli, allerdings waren die Franzosen beeindruckt von diesem jungen Wagehals und wollten ihn aus Respekt anständig begrüßen. Er wurde von 150.000 Besuchern empfangen. Charles Lindbergh, der Flying Fool, wurde am 21. Mai zu einer weltweiten Berühmtheit.
Sieben Monate später, im Dezember, besuchte (jetzt Oberst) Lindbergh die Botschaft der Vereinigten Staaten in Mexico City und lernte die Morrows kennen. Die Botschafter-Familie hatten drei Töchter. Die zweite war Anne. Charles war sofort von ihr beeindruckt. Sie hatte, als brave Tochter einer angesehenen Familie, bisher alles richtig gemacht. Aber, wie langweilig! In ihr war der Wunsch entstanden unabhängiger von ihrer Familie zu sein, etwas Neues an zu fangen, andere Länder zu entdecken. Als Charles sie zum ersten Mal zu einem Flug einlud, nahm sie sofort an. Nachher schrieb Anne: „Ich bin erst wieder glücklich, wenn ich das noch einmal erleben darf.“ Sie würde es noch sehr oft erleben: Charles und Anne heirateten 1929. Anne wurde Charles’ persönliche Kopilotin, Navigatorin und Funkerin. Zusammen bereisten sie die ganze Welt. 1930 brachte Anne ihr erstes Kind zur Welt, Charles A. Lindbergh Junior, genannt Charlie. Finanziell ging es dem jungen Paar nicht schlecht. Obwohl Charles kein Interesse zeigte an den lukrativen Angeboten aus der Film- und Werbeindustrie, verdiente er in den ersten anderthalb Jahr nach seinem Flug mehr als 1 Million Dollar. Als Berater war er sehr gefragt und wurde für die amerikanische Luftfahrt ein wichtiger Entscheider. Sein neues Ziel war es eine Passagierfluglinie zu organisieren zwischen New York und Kalifornien. Anne war aktiv als Schriftstellerin und kümmerte sich um die Familie.
„… und es geschah ein Unglück, das unser ganzes Leben verändern sollte.“ (Charles Lindbergh)
Als am 1. März 1932 das Kindermädchen der Lindberghs abends noch kurz beim kleinen Charlie vorbeischauen wollte, merkte sie, dass das Kinderbett leer war. Etwas stimmte nicht. Ein Fenster war leicht offen. Unter dem Fenster lag ein kleiner weißer Umschlag. Der kleine Charlie war aus seinem Kinderzimmer entführt worden. Draußen stand noch die Holzleiter. Um 22:46 Uhr wurde im ganzen Staat Alarm gegeben. Kontrollpunkte wurden eingerichtet: Am Hollandtunnel, an allen Fährhäfen am Hudson River, Straßen wurden gesperrt, Wälder durchsucht. Die Monate die folgten waren für das junge Paar und auch für alle Angestellten im Haus die reine Hölle. Das Haus der Lindberghs wurde bald eingerichtet, als wäre es ein Polizei-Hauptquartier. In der Garage wurde eine Telefonzentrale mit 20 Anschlüssen installiert. Im Charles’ Arbeitszimmer fanden die offiziellen Besprechungen statt, im Gästezimmer die inoffiziellen. Das Erdgeschoß wurde jetzt als Schlafsaal benutzt. Schutzmänner bewachten jeden Eingang zu Haus und Grundstück. Im Haus gab es plötzlich 40 Extragäste. Zum zweiten Mal innerhalb weniger als fünf Jahren war Charles Lindbergh das Hauptthema in den Medien und Charlie ab den 1. März das berühmteste Baby.
Im Umschlag befand sich diese Nachricht:
Dear Sir!
Have 50,000$ redy 2500$ in 20$ bills 1500$ in 10$ bills and 1000$ in 5$ bills. After 2-4 days we will inform you were to deliver the Mony. We warn you for making anyding public or for notify the polise the child is in gute care. Indication for all letters are singnature and 3 holes.
Die Handschrift, die Schreibweise und die Position des Dollarzeichens ließ vermuten, dass es sich beim Verfasser um einen Nicht-Amerikaner handelte – wahrscheinlich ein Deutscher oder Skandinavier. Leider zeigten weder der Umschlag noch das Briefpapier brauchbare Fingerabdrücke. Zunächst wurden das ganze Haus und die Umgebung auf Spuren untersucht. Von dem kleinen Charlie fand man nichts. Im Haus gab es nur kleinere Schlammklümpchen unter dem Fenster, wo der oder die Entführer eingestiegen waren. Draußen fand man Eindrücke im Schlamm, offenbar von der Leiter. Auch waren Fußabdrücke sichtbar, aber leider keine brauchbaren. Auch im Kinderzimmer gab es weder Blutspuren noch Fingerabdrücke. Ein schwieriger Fall.
Am 2. März traf eine Postkarte ein. Scheinbar geschickt aus Newark: „Kind sicher, Anweisungen später, handeln Sie danach“. Am 6. März 1932 bekam die Familie wieder einen Brief; das Lösegeld wurde auf $70.000 erhöht. Zwei Tage später bekam Charles’ Anwalt einen Brief; der Entführer wolle ab sofort mittels Berichten in der Zeitung weiter kommunizieren. Am gleichen Tag veröffentlichte Dr. Condon, ein pensionierter Schuldirektor aus der Bronx, in der lokalen Zeitung sein Angebot, im Lindbergh-Fall als Mittelsmann zu fungieren. Sofort bekam Condon die nächste Nachricht vom Entführer; er sei einverstanden. Auch Charles stimmte zu. Am 12. März 1932 übermittelte ein Taxifahrer Condon den 5. Brief: Der Entführer wollte ihn treffen und gab Anweisungen für ein Treffen im Woodlawn Friedhof. Condon traf sich dort mit einem Mann, der sich „John“ nannte. John behauptete, dass es sich bei den Entführern um eine kriminelle Bande handelte. Er sei nur der Kurier. Das Kind sei in gutem Zustand; es sei auf einem Schiff und werde von zwei Krankenschwestern betreut. Bezüglich des Lösegelds konnte er noch mitteilen, dass der Anführer der Bande $ 20.000 verlange, seine drei Komplizen und die beiden Krankschwestern jeweils $10.000. Weder das Kindermädchen noch ihr Freund seien an dem Verbrechen beteiligt. Weitere Details für die Lösegeld-Übergabe wurden besprochen. Condon informierte John, dass die Familie Lindbergh darauf bestehe, vorher ein Beweisstück zu bekommen, das zeigt, dass John, oder die Bande, das Baby auch wirklich hätten. Am 16. März bekam er ein Päckchen – mit Charlies Schlafanzug.
Nach weiteren Verhandlungen bekam John von Condon $50.000 im Tausch gegen einen Brief mit Hinweisen über den Aufenthaltsort von Charlie. Das Kind sei auf dem Schiff Nelly in Martha’s Vineyard. Zwei Tage lang wurde es gesucht. Charles, zusammen mit der Polizei und Condon, untersuchte die Gegend aus der Luft in einem Wasserflugzeug. Die Küstenwache setzte Kutter ein. Leider ohne Erfolg. Es gab kein Schiff Nelly und kein Kind. Die Polizei war ratlos. Es kam noch schlimmer.
Am 12. Mai wurde durch Zufall der Schädel eines Kindes gefunden, in einem Wald, zwei Meilen von Hopewell. Die Körpergröße und die goldblonden Locken ließen vermuten, dass es sich hier um das Lindbergh-Baby handeln könnte. Leider bestätigte am gleichen Tag das Kindermädchen Betty Gow, dass das Hemdchen Charlie gehörte. Es war das Hemdchen, das sie für ihn genäht hatte. Vermutlich war das Kind schon von der ersten Nacht an tot gewesen. Der sichtbare Schädelbruch deutete auf einen Sturz oder Schlag hin. Als die Leiter brach – eine Leitersprosse war abgebrochen – könnte das Baby auf den Zementboden gestürzt sein. Die Entführer hatten es im Wald zurückgelassen und den Schlafanzug als Verhandlungspfand behalten.
Fast ein Jahr später, am 2. Mai 1933, wurden in der Federal Reserve Bank of New York Goldzertifikate aus dem Lindberg-Lösegeld entdeckt, fast dreihundert $10 Scheine und ein $20 Schein. Es war damals entschieden worden, die Seriennummern der Banknoten zu registrieren und das Lösegeld in Goldzertifikaten zu zahlen. Diese sahen wie normales Papiergeld aus, bis auf ein rundes gelbes Siegel. So waren sie etwas einfacher zu entdecken. Außerdem war es wahrscheinlich, dass die Goldzertifikate bald von der Amerikanische Treasury aus dem Geldverkehr gezogen wurden. Es war eine gute Entscheidung. Die Entdeckung dieser Lösegeld-Zertifikate sorgte bei den Polizeibehörden für große Erleichterung. Die letzten Monate waren quälend gewesen. Die Portrait-Skizze von „John“, die durch Condon und den Taxi-Fahrer konstruiert worden war, hatte nichts gebracht. Auch die Hausangestellten im Hause Lindbergh schienen alle nette und hilfsbereite Leute zu sein. Keine, die ein Baby umbringen würden. Das Einzige was man bisher wusste: Die Person, die den ersten Brief geschrieben hatte, war höchstwahrscheinlich ein Deutscher, der lange Zeit in Amerika gelebt hatte. Davon gab es einige. Aus purer Verzweiflung hatte man sogar jeden Nagel und jedes Teil der Holzleiter von einem Experten untersuchen lassen. Kurz gesagt, die Polizei-Behörden wurden allmählich ratlos. Etwas musste passieren, und das bald.
Am 18. September 1934 passierte es dann endlich. Ein Kassierer der Corn Exchange Bank in der Bronx fand eine $10 Note aus der Lösegeld Sammlung. Auf dem Rand des Scheines stand eine Nummer, die einem Auto-Kennzeichen ähnelte. Es war ein Schein der Warren-Quinlan-Tankstelle. Der Pächter, Mr. Walter Lyle, erinnerte sich an einen Herrn, der für 98 Cents Benzin gekauft hatte und mit einem Goldzertifikat bezahlen wollte. Der Mann, mit ausländischem Akzent, hatte dem Verkäufer erklärt, das Geld sei echt und zuhause hätte er noch mehr Scheine. Weil Mr. Lyle es verdächtig fand, entschied er sich, das Kennzeichen zu notieren. Das Auto gehörte Mr. Bruno Richard Hauptmann aus der Bronx, New York. Hauptmann war in Deutschland geboren und…Zimmermann. Er wurde am 19. September verhaftet. In der Brieftasche, die er bei sich trug, befand sich ein $20-Goldzertifikat. Hauptmanns Vermieterin konnte zwei $10-Goldscheine zeigen, die er für die Zahlung seiner Miete benutzt hatte. Auch ein Notizbuch mit der Skizze einer Holzleiter wurde gefunden. 24 Stunden lang wurde er von der Polizei verhört. Während der ganzen Befragung bestritt er, etwas mit dem Entführung des Lindbergh-Babys zu tun zu haben. Am gleichen Abend wurde er von dem Taxifahrer Joseph Perrone als der Mann identifiziert, der ihn zwei Jahre zuvor mit einem Brief zu Dr. Condon geschickt hatte. Am nächsten Morgen fand die Polizei in seiner Garage versteckt fast $12.000 des Lösegelds. Als die Polizei ihre Entdeckung seiner Ehefrau, Anna Hauptmann, zeigte, reagierte sie völlig überrascht. Als ihr Mann zu dem Fund befragt wurde, erklärte er, dass das Geld von einem gewissen Herrn Isodor Fisch gewesen sei. Fisch sei ein Bekannter aus Deutschland. Als er im letzten Winter seine Eltern in Leipzig besuchen wollte, hatte er Hauptmann vorher gebeten, einige Pakete für ihn aufzubewahren. Hauptmann habe damals nicht gewusst, dass es sich dabei um Geld handelte, und erst recht nicht, dass Fisch ihm einen Teil des Lindbergh-Lösegelds überreicht hatte. Die Pakete waren eigentlich vergessen. Als er dann einen Wasserschaden in der Küche prüfen wollte, entdeckte er durch Zufall die vergessene Schachtel wieder. Zu seiner eigenen Überraschung sah er, dass es sich hier um eine Schachtel mit Geld handelte. Viel Geld! Weil Fisch ihm noch Geld schuldete, hatte er auch keine moralischen Probleme gehabt, ab und zu mal einen Schein auszugeben. Seine Frau Anna hatte er über die Schachtel und ihren Inhalt nicht informiert. Fisch war einige Monate vorher gestorben und konnte daher nicht mehr befragt werden.
Ein Handschrift-Experte, der seit Mai 1932 alle Erpresser-Briefe untersucht hatte, sagte, Hauptmanns Handschrift sei sehr ähnlich zu der in den Lindbergh-Briefen. Alle Briefe seien durch Hauptmann geschrieben worden. Zusätzlich bestätigten mehrere Nebenzeugen bei einer Gegenüberstellung, dass es Hauptmann war, den sie am Tatort gesehen hatten. Als Charles gefragt wurde, ob er die Stimme von „John“ wieder erkennen würde, des Mannes, den er zwei Jahre zuvor auf dem Friedhof gehört hatte, als er zusammen mit Condon zum Treffpunkt gefahren sei, erklärte er, es sei wohl ziemlich schwierig, die Stimme eines Mannes auf Grund einer zwei Jahre zurückliegenden Begegnung zu erkennen. Der Täter hatte auch nur wenige Silben gesprochen. Als er am nächsten Morgen die Stimme von Hauptmann hörte, versicherte er aber, dass es die Stimme sei, die er damals gehört hatte.
Auch bei Condon gab es zunächst ein Problem. Er weigerte sich zu bestätigen, dass es sich bei Hauptmann um den „John“ handelte, den er mehrmals getroffen hatte. Der Staatsanwaltschaft kam diese Verweigerung zwar ungelegen, es hatten sich aber einige Beweisstücke angesammelt, die auf seine Schuld hinwiesen. Dazu kamen noch die Informationen der deutsche Behörden: Hauptmann war vorbestraft. Er sei wegen Diebstahls und eines Raubüberfalls verurteilt worden. Später hatte er versucht, als blinder Passagier nach Amerika zu entkommen.
Am 2. Januar 1935 fing das Gerichtsverfahren an. Ein selbstsicherer Charles Lindbergh berichtete, dass er am 22. April sehr deutlich eine Stimme gehört habe und dass es die Stimme des Angeklagten gewesen sei. Mehrere Zeugen behaupteten, Hauptmann gesehen zu haben, in einem grünen Auto mit einer Leiter in der Nähe des Hauses oder zusammen mit Herrn Condon in der Bronx. Sogar Dr. Condon war sich im Gerichtsverfahren plötzlich doch sicher, dass „John“, mit dem er sich einige Male getroffen hatte, Hauptmann war. Auch sehr belastend war ein Brett aus Hauptmanns Wandschrank, auf dem Dr. Condons Telefonnummer geschrieben stand. Die Handschrift war derjenigen Hauptmanns sehr ähnlich. Am 13. Februar wurde Bruno Richard Hauptmann des Mordes für schuldig befunden und zum Tode verurteilt.
Keine Geschichte und kein Prozess hatten jemals so eine Hysterie verursacht wie die Entführung des Lindberg-Babys. Tausende Touristen besuchten die neue Attraktion: das Gerichtsgebäude in Flemington. Die Stelle in Hopewell, wo das Baby gefunden worden war, wurde zur neuen Pilgerstätte. Journalisten, Kolumnisten und Autoren kamen angereist. Agatha Christie wurde von diesem Fall zu ihrem berühmten Kriminalroman Mord im Orientexpress inspiriert.
Am 13 April 1936 wurde Hauptmann auf dem elektrischen Stuhl hingerichtet. Case closed.
Oder? Doch nicht ganz. Etwas „unbequem“ war die Tatsache, dass Hauptmann nie ein Geständnis abgelegt hatte. Auch nicht als er dazu „motiviert“ worden war, indem er durch Polizisten in seiner Zelle zusammen geschlagen wurde. Auch nicht, als der Staatsanwalt zusammen mit dem Gouverneur ihm „lebenslang“ anboten, als Gegenleistung für ein Geständnis. Auch nicht, als die Zeitung Hearst Papers ihm anbot, nach seinem Tod $100.000 in einen Fonds zu überweisen für seinen Sohn, als Gegenleistung für die Rechte, seine Entführungsgeschichte mit allen Fakten und Daten veröffentlichen zu dürfen. Weil es keine handfesten Beweise gab, wer das Kind aus dem Bett nahm, ob es zufällig getötet wurde oder versehentlich von der Leiter stürzte, ob es sich um einen Entführer handelte oder mehrere, wurde das Geheimnis nie richtig aufgeklärt. Noch unbequemer war Hauptmanns Autobiografie, die er kurz vor seinem Tod in seiner Zelle schrieb. Sie trägt den Titel Mutter, ich bin unschuldig. Hauptmann erzählt darin seine Lebensgeschichte. Wie er seine Kindheit in Kamenz verbrachte, einem schönen Städtchen etwa 40 Kilometer nordöstlich von Dresden. Er erklärt unter anderem, wie es zu seiner Haftstrafe gekommen ist; der Krieg war vorbei, die Zeiten waren trostlos, es herrschte Arbeitslosigkeit, Hunger und Armut. Er hatte gestohlen, weil er, wie viele andere, einfach Hunger hatte. Nach seiner Haftentlassung kehrte er in seinen Heimatort zurück. Da es schwierig war, Arbeit zu finden, entschied er, nach Amerika auszuwandern. Seine Haftentlassung war ordnungsgemäß und seine Auswanderung also keine Flucht vor den Behörden. Er schrieb: „Bis zum heutigen Tag habe ich keine Ahnung, wo sich das Lindbergh-Haus in Hopewell befindet. […] Mein Gott, Dr. Condon und Ihre Zeugen, ist Ihnen überhaupt bewusst, was Sie getan haben? […] Ich kann kaum glauben, was alles bei meinem Prozess geschehen ist.“ Er beschreibt, wie ihm befohlen worden war, genauso zu schreiben, wie es ihm diktiert wurde und die Wörter so zu schreiben, wie sie buchstabiert wurden. Er erklärt, wie er als ausgebildeter Zimmermann eine Leiter ganz anders bauen würde – die bei der Entführung benutzte Leiter war also die Arbeit von Anfängern. Er wiederholt nochmals die Aussage eines Gutachters, dass zahlreiche Fingerabdrücke auf der Leiter und im Kinderzimmer gefunden wurden, keiner davon aber Hauptmann zuzuordnen war. So beklagt er sich über die viele Fehler bei der Untersuchung und beim Prozess und über die schlechte Arbeit seines Anwalts.
Allerdings wurde diese Biografie in Deutschland verboten, weil Hermann Göring sich als Oberbefehlshaber der Luftwaffe mit den Lindberghs angefreundet hatte. Sie verschwand für fast 80 Jahre. Zusätzlich wurden die Behörden in Kamenz aufgefordert, den Fall klein zu halten. Menschen wie Hauptmann sollten nicht unterstützt werden. 2014 wurde seine Biografie von Roland Dantz, Oberbürgermeister der Kamenz, und dem Kamenzer Journalisten Frank Oehl neu herausgegeben. Durch den Besuch von Robert Bryan, des Anwalts, der die Witwe Anna Hauptmann bis zu ihrem Tod vertreten hatte und für die Offenlegung von vielen FBI- und Polizei-Dokumenten verantwortlich war, und durch neue Recherchen in Kamenz für eine TV-Dokumentation in 2012, kamen neue erschreckende Fakten über Hauptmanns Prozess ans Licht. Viele Zeugen wurden bezahlt oder unter Druck gesetzt. Der Taxifahrer Perrone konnte sich auch nur an wenig erinnern; er hatte damals nicht auf den Mann geachtet. Die Polizisten hatten ihn zu einer Aussage gezwungen. Auch Condon hatte einmal erklärt, dass Hauptmann nicht der gesuchte Mann sei – er war zu schwer, hatte eine andere Augen- und Haarfarbe. Einer der Zeugen war ein 86-jähriger Herr mit grauem Star gewesen. Einige Handschriftexperten waren zu dem Schluss gekommen, dass die Lösegeldforderung genauso gut von anderen Deutschen geschrieben sein konnte. In Griechenland beging ein Mann nach Hauptmanns Hinrichtung Selbstmord. In seinem Nachlass wurden später größere Teile des Lösegeldes gefunden.
Frances McGehee
Obwohl die Forschung zum Thema Identifizierung durch (Augen-)Zeugen schon angefangen hatte, gab es zum Thema Sprecheridentifizierung noch keine Forschungsdaten, bis die junge Psychologie-Studentin Frances McGehee 1936 ihre Doktorarbeit abschloss. McGehee war sehr skeptisch ob eine positive Sprecheridentifikation durch Zeugen mehr als zwei Jahre nach dem Kriminalfall als Beweis gegen den Anklagten akzeptiert werden kann. Im Fall Hauptmann war die Identifikation zwar nicht das einzige Beweisstück. Hätte allerdings der große und berühmte Charles Lindbergh bei der Identifizierung von Hauptmanns Stimme als der Stimme des Entführers Unsicherheit gezeigt, hätten vielleicht auch andere Zeugen gewagt, sich negativ zu äußern. In seinem Plädoyer behauptete Staatsanwalt Wilentz sogar, Charles Identifikation sei das Hauptbeweisstück, da es sich schließlich um Oberst Lindbergh handele.
McGehee versuchte die Frage zu beantworten, wie viel Wert eine Zeugenaussage hat, wenn es sich um die Identifizierung einer Stimme handelt. Sind Menschen in der Lage eine unbekannte Stimme noch zu erkennen – nach 3 Tagen, nach 5 Monaten? In ihrem Experiment hörten 740 Probanden einen unbekannten Sprecher, der einen Text vorlas. Die Probanden wurden nach verschiedenen Zeit-Intervallen aufgefordert, die Ziel-Stimme in einer Reihe von fünf Stimmen zu identifizieren. Ihre Ergebnisse:
Hätte Charles Lindbergh mehr als zwei Jahre nach dem Kriminalfall die Stimme von Bruno Richard Hauptmann identifizieren können und dürfen? Dank McGehees Forschungsdaten können wir diese Frage klar beantworten: NEIN – auch dann nicht, wenn man vorher den Atlantischen Ozean überflogen hat.
Literaturverzeichnis:
Berg, A.S (1998) Charles Lindbergh – Ein Idol des 20. Jahrhunderts, Karl Blessing Verlag: München
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